Europa ohne Europäer

Integration Die europäische Integration leidet an einem ganz grundlegenden Problem. Es gibt keine europäische Gesellschaft, die sich als solche wahrnimmt.

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Der europäische Integrationsprozess, der zunächst von der Politik, gegenwärtig aber eher von vermeintlichen wirtschaftlichen Sachzwängen vorangetrieben wird, verstellt den Blick für ein ganz grundlegendes Problem: Es gibt keine europäische Gesellschaft, die sich als solche wahrnimmt. Die meisten Deutschen fühlen sich als Deutsche, die meisten Italiener als Italiener, die meisten Polen als Polen. Aber die meisten Europäer fühlen sich nicht als Europäer, nicht als eine europäische Gesellschaft. In der Bevölkerung, bis in die politische Elite hinein, ist, wenn es hart auf hart kommt, die Rede von „wir Deutschen“ und ihr Griechen“, oder von „wir Spanier“ und „ihr Polen“, nicht jedoch von „wir Europäer“.

Der bisherige europäische Integrationsprozess hat das nicht grundlegend ändern können. Weitreichende Maßnahmen wie die Einführung des Euro, wie die Öffnung der Grenzen, wie die Schaffung der Grundfreiheiten (Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit etc.), haben zwar erhebliche Erleichterungen bezogen auf Grenzüberschreitungen gebracht, von dem Bewusstsein, ein europäisches Volk zu sein, sind wir jedoch weiterhin weit entfernt.

Tatsächlich sitzen wir in Europa aber bereits in vielerlei Hinsicht in einem Boot. Ein großer Teil der in den Mitgliedsstaaten geltenden Gesetze kommt mittlerweile aus Brüssel, der europäische Gerichtshof schaut nationalen Behörden auf die Finger, und dann ist da eben noch der Euro. Mit der Finanzkrise sind die Bevölkerungen der Eurostaaten erstmals gezwungen, sich tatsächlich gewissermaßen als ein Volk anzusehen. Die Parole lautet: „Entweder wir stehen das gemeinsam durch, oder wir gehen gemeinsam unter.“

Man hat ohnehin das Gefühl, dass die politische Elite den Bevölkerungen in Europa das „Wir-Gefühl“ von oben verordnen will. Er wirkt, als habe man die Völker Europas – um auf dieses Bild zurückzukommen – in ein großes Boot gesetzt, das Boot auf das offene Meer geschleppt und dort sich selbst überlassen; nach dem Motto: Irgendwann werden sie sich schon vertragen, irgendwann werden sie zusammenarbeiten um zurück ans Ufer zu gelangen, das schweißt zusammen.

Es ist jedoch fraglich, ob eine solche Verordnung von oben erfolgversprechend sein kann. Stellen wir uns für einen Moment die Alternative vor. Die Alternative wäre ein Zusammenwachsen aus den Bevölkerungen heraus, die Entstehung eines „Wir-Gefühls“ zum Beispiel über gemeinsame Medien (die tatsächlich bis heute kaum vorhanden sind), über einen Austausch über das Internet, welches Grenzen ohnehin nicht kennt.

Ist diese Alternative denkbar? Hätte die Politik einen solchen Prozess möglicherweise einfach abwarten sollen? Hätte sie einen solchen Prozess durch gezielte Einzelmaßnahmen wie zum Beispiel die Personenfreizügigkeit oder die Dienstleistungsfreiheit begleiten sollen, mehr aber nicht?

Tatsächlich wachsen in einer globalisierten, vernetzten Welt die nationalstaatlichen Bevölkerungen ja durchaus zusammen. Sie tun dies aber, wie der Begriff Globalisierung nahelegt, global, weltweit. Die Globalisierung, die Vernetzung fegt nicht nur nationalstaatliche Grenzen hinweg, sie tut dies auch mit den Grenzen Europas. Die Einflüsse der USA auf Deutschland sind schon lange größer als zum Beispiel die Einflüsse Belgiens. Über das Internet kommuniziere ich mit Südamerikanern genauso wie mit Italienern, mit Australiern genauso wie mit Polen.

Die Bevölkerungen der Nationalstaaten wachsen zusammen, weltweit. Das gilt für den kulturellen Austausch, das gilt aber auch für Herausforderungen wie Umweltschutz, Armut oder Krieg. Auch diese Herausforderungen sind längst global, auch diese Herausforderungen machen weder an den nationalstaatlichen Grenzen, noch an den europäischen Grenzen halt.

Eine Politik, die nicht verordnet, sondern auf Strömungen innerhalb ihrer Bevölkerungen reagiert, müsste dies berücksichtigen. Sie würde sich mehr um die Integration der Welt und weniger um die Integration Europas kümmern.

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