Mal wieder ein Sündenbock

Radsport Mit Stefan Schumacher steht ein Sündenbock des Radsports vor Gericht. Je mehr wir uns aber auf Sündenböcke konzentrieren, desto weniger kümmern wir uns um die Strukturen

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Mal wieder ein Sündenbock

Foto: Joel Saget / AFP / Getty

Radprofi Stefan Schumacher hat im Interview in der Spiegel-Ausgabe vom 30.03.2013 jahrelanges, systematisches Doping zugegeben. Gegen die gegen ihn erhoben Betrugsvorwürfe zu Lasten seines ehemaligen Rennstalls Team Gerolsteiner wendet Schumacher ein, dessen ehemaliger Chef Hans-Michael Holczer habe von dem in der Mannschaft praktizierten Doping gewusst (und zum Betrug gehört die Täuschung, einen Wissenden kann man jedoch schwerlich täuschen).

Schon seit Längerem kann man die Augen nicht mehr davor verschließen, dass Doping zumindest in der Vergangenheit als wesentliches Element zum Radsport dazugehörte. Vor diesem Hintergrund erscheint es fernliegend, dass Holczer von allem nichts gewusst haben soll. Es wäre geradezu absurd, wenn ausgerechnet ein ehemaliger Teamchef zum ersten in Deutschland gerichtlich festgestellten Geschädigten des Dopings im Radsport werden würde.

Zu der Frage des Betrugs in einem von „Betrügern“ gesättigten Radsport berichtet Schumacher in dem Spiegel-Interview von seinem Sieg beim Amstel Gold Race. Dieses Rennen gewann Schumacher 2007 vor den Konkurrenten Davide Rebellin, Danilo Di Luca, Matthias Kessler, Michael Boogerd und Alejandro Valverde; allesamt Fahrer, die inzwischen des Dopings überführt wurden oder dieses zugegeben haben. Schumacher fragt: „Habe ich einen von denen betrogen?“

Die Frage der Schuld, nicht der juristischen, sondern der moralischen, gestaltet sich schwierig, wenn man es mit strukturellem Unrecht zu tun hat. Schumacher berichtet glaubhaft, dass er zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Karriere vor der Wahl stand, entweder ein erfolgreicher, gedopter Radprofi zu werden oder sich einen anderen Beruf zu suchen. Es ist in moralischer Hinsicht viel verlangt, sich gegen einen Beruf, ja möglicherweise gegen eine Berufung, gegen das Ausleben eines ganz besonderen Talentes zu entscheiden, „nur“ weil man an sich selbst höhere Maßstäbe anlegen will als es die anderen tun.

Andererseits würde unsere Gesellschaft vor die Hunde gehen, wenn es nicht Menschen gäbe, die bestehende Verhältnisse hinterfragen, die versuchen Dinge besser zu machen als es dem Status quo entspricht. Und es wäre in meinen Augen falsch, mit dem Verweis auf strukturelles Unrecht einzelne Personen von jeder moralischen Schuld freizusprechen.

Aber wenn man ein Problem wirklich lösen will, muss man es bei der Wurzel packen. Und wenn man ein strukturelles Problem lösen will, dann muss man bei den problematischen Strukturen ansetzen. Davon lenkt man ab, wenn man einzelne Personen als Sündenböcke vorschiebt, weil sie sich haben erwischen lassen. Das Problem des Radsports heißt eben nicht Stefan Schumacher, und es heißt auch nicht Jan Ullrich oder Lance Armstrong.

Dieses Vorschieben von Sündenböcken kennen wir nun aber nicht nur aus dem Radsport. Wenn mal wieder ein Top-Manager gesalzene Boni einstreicht, wenn mal wieder einer vorrechnet, um welchen Faktor ein Managergehalt das Gehalt eines Facharbeiters übersteigt, dann sind der moralischen Zeigefinger viele und es wird übersehen, dass der Top-Manager genauso seinem Marktwert gemäß bezahlt wird wie unsereiner. Wenn ich mich mit meinen Kommilitonen über mögliche Gehälter unterhalten habe, dann haben da moralische Bedenken niemals eine Rolle gespielt, dann wurde genommen, was zu kriegen war. Strukturell macht der Top-Manager das gleiche, wenn auch auf einen höheren Niveau.

Auch hier gilt: Es ist nicht moralisch einwandfrei, wenn man sich strukturellem Unrecht bedenkenlos anschließt. Wenn man die Strukturen hinter manchem Unrecht aber nicht sieht, dann kann man nichts verändern.

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