Victors Welt (1)

Kurzgeschichte Victor konnte es eigentlich nur im bekifften Zustand ertragen, Menschen zu begegnen.

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Victor konnte es eigentlich nur im bekifften Zustand ertragen, Menschen zu begegnen. Wenn er nicht bekifft war, dann waren zum Beispiel Fahrten mit der U-Bahn, der Aufenthalt im Wartezimmer eines Arztes oder auch nur ein Smalltalk mit einem Nachbarn der reinste Horror.

Der Anfang vom Ende war der Moment gewesen, als Victor klar geworden war, dass jeder Mensch eigentlich in zwei Welten lebte; als er erkannt hatte, dass der Mensch nicht nur in der Außenwelt lebte, in der die Menschen sich begegnen konnten, sondern dass jeder Mensch darüber hinaus auch noch in seiner Innenwelt lebte, die er nur für sich hatte, von denen es so viele gab, wie es Menschen gab.

Nachdem Victor diese Erkenntnis gemacht hatte, war sie sein ständiger Begleiter. Wenn sich Victor - zum Beispiel - in einem U-Bahn-Waggon befand, dann konnte er an nichts anderes denken als daran, dass da jetzt diese vielleicht 30 Menschen waren, alle einerseits in der Außenwelt, alle gleichzeitig aber auch in ihrer eigenen Innenwelt, in der Welt, die sie exklusiv nur für sich hatten. Die Vorstellung, was da also eigentlich los war in so einem U-Bahn-Waggon, konnte Victor zum Wahnsinn treiben. Während die Fahrgäste da so saßen oder standen und vor sich hin starrten, während dessen passierte doch eigentlich unglaublich viel, in ihren Köpfen, von den anderen nicht sichtbar. Was auch immer da gerade passierte, alles war möglich. Die Menschen dachten an das, wovon sie gerade kamen, an das, wohin sie gerade fuhren, sie wälzten ihre Probleme, sie dachten aber vielleicht auch daran wie es wäre, den Gegenüber zu ficken, vielleicht auch, nachdem sie ihn entführt hatten, wer wusste das schon.

Victor konnte das nicht ausblenden. So war das eben, wenn man einmal etwas erkannt hatte, dann war diese Erkenntnis da, dann war sie da und blieb, ob man wollte oder nicht. Wenn Victor einen U-Bahn-Waggon betreten musste, dann war das eben so, dann war das ein Ort unzähliger parallel existierender Welten, sich gegenseitig ignorierender Welten, nicht selten zueinander im Widerspruch stehender Welten. Diese Welten waren da, dass wusste Victor, aber was in diesen Welten gerade passierte, das wusste er nicht, auch diese Unwissenheit machte ihn verrückt. Deswegen vermied er nach Möglichkeit jeden Blickkontakt, denn in diese scheinbar emotionslosen Gesichter zu blicken, wissend, wie viel sich da hinter verbarg, das konnte er kaum ertragen.

Wenn Victor bekifft war, dann war das nicht so, dass er sein Wissen plötzlich vergessen hatte, es war dann vielmehr so, dass dieses Wissen ihn nicht mehr störte, im Gegenteil, wenn Victor bekifft war, dann machte ihm sein Wissen sogar Spaß, dann fühlte er sich nicht abgestoßen von diesen Menschen, die sich in ihrer Innenwelt wie in einer uneinnehmbaren Festung befanden.

Aber natürlich war das mit dem Kiffen keine Lösung und je mehr Victor dies klar wurde, desto gefährdeter war auch dieser Ausweg, den das Kiffen ja dennoch bot. Aber was ihm die Ärzte anboten war ebenso wenig eine Lösung. Victor war nicht bereit dazu zu akzeptieren, dass er schlicht krank sein sollte, psychisch krank. Denn was ihn belastete war ja nicht einfach nur ein Mangel, ein Mangel an Gesundheit, es war eigentlich ein Mehr, ein Mehr an Bewusstsein, Vitor hatte seinen Mitmenschen etwas voraus, so war das, nicht anders herum. Victor konnte geradezu wütend werden, wenn ausgebildete Mediziner ihn gleichsetzten mit Menschen, die unter bestimmten Zwängen leiden, zum Beispiel mit Menschen, die nicht aufhören können nachzusehen, ob der Herd aus ist. Mehr als einmal nachsehen ob der Herd aus ist, ist bloß Schwachsinn, mit nichts zu rechtfertigen. Victors Problem hingegen resultierte aus einer Erkenntnis, aus einem erweiterten Bewusstsein heraus, das konnte man nicht einfach pathologisieren.

So stand es auch mit den weiteren Problemen, die Victor hatte, die mit der Zeit dazugekommen waren, die immer mehr zu werden schienen. Da war zum Beispiel seine Wohnung, im zweiten von vier Stockwerken. Wie sollte sich Victor entspannen, sich auf irgendetwas konzentrieren, wenn ihm die ganze Zeit im Bewusstsein war, dass da über und unter ihm jeweils zwei Mietparteien ihr Unwesen trieben, dass der Rentner im dritten Stock ihm, Victor, quasi den ganzen Tag auf dem Kopf rumtrampelte. Dieses Umgeben sein von anderen Leben, das belastete Victor sehr, davon fühlte er sich bedrängt, die Illusion, die Wände und Decken bei seinen Mitmenschen zu erzeugen in der Lage waren, funktionierte bei ihm nicht.

Kürzlich hatte Victor im Fernsehen eine Reportage gesehen bei der es darum gegangen war, dass unzählige Lebewesen den menschlichen Körper natürlicherweise bewohnten. „Das ist ganz normal“ hatte der Sprecher gesagt, aber das war für Victor keine Beruhigung gewesen. Eine Beruhigung war nur der Joint gewesen, den sich Victor daraufhin angezündet hatte.

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