Victors Welt (2)

Kurzgeschichte Victor konnte es eigentlich nur im bekifften Zustand ertragen, Menschen zu begegnen.

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Victor konnte es eigentlich nur im bekifften Zustand ertragen, Menschen zu begegnen. Wenn er nicht bekifft war, dann bewirkte schon die Frage „wie geht’s?“, dass sich seine Züge versteinerten, dass ihm ein leises „gut“ nur schwer über die Lippen kam, dass er demonstrativ nicht zurückfragte.

Die Frage „wie geht’s?“ war eigentlich eine „Entweder-oder-Frage“ und solche Fragen hasste Victor. Die Menschen wollten wissen, ob es ihm gut oder schlecht ginge, und meistens ging es Victor weder eindeutig gut noch eindeutig schlecht, meistens ging es ihm eben so mittel, so ganz ok, aber nicht unbedingt gut, denn man hatte ja so seine Baustellen, jedenfalls Victor hatte so seine Baustellen.

Die Frage „wie geht’s (gut oder schlecht)?“ war also eigentlich schon falsch gestellt, wie die meisten „Entweder-oder-Fragen“ schon falsch gestellt waren, davon war Victor überzeugt. Er war davon überzeugt, dass die meisten Dinge nicht entweder-oder waren, nicht entweder gut oder böse, hübsch oder hässlich, richtig oder falsch, klug oder dumm. Er war davon überzeugt, dass die meisten Dinge vielmehr sowohl-als-auch waren.

Wenn Victor zum Beispiel aus einem Urlaub zurückkam, dann dachte er schon mit Graus an die Frage „wie war’s?“, auch so eine verkappte „Entweder-oder-Frage“, denn auch hier wollte der Frager natürlich in erster Linie wissen, ob der Urlaub gut oder schlecht gewesen war, und Victors Urlaube waren eigentlich nie gut oder schlecht, sie waren begleitet von Hochs und Tiefs, von positiven Überraschungen aber auch von Enttäuschungen.

Diese ständigen „Entweder-oder-Fragen“ führte dazu, dass Victor mehr und mehr verstummte. Wenn die Menschen schon durch ihre Frage Victor die Chance nahmen, eine zutreffende Antwort zu geben, was sollte er dann groß sagen, warum sollte er dann überhaupt ein Interesse daran haben, mit anderen Menschen zu kommunizieren? Victors Schweigen führte dazu, dass ein Großteil seiner Bekannten und Verwandten sich von ihm abwendete, dass diese Menschen ihrerseits ihr Interesse an Victor verloren.

Eigentlich wendeten sich alle von Victor ab außer Thorsten. Victor hatte das Gefühl, dass Thorsten in ihm so eine Art Projekt sah, seinen ganz persönlichen Pflegefall, Thorsten reagierte auf Victors Schweigen indem er versuchte, ihn zu therapieren. Wenn sie sich trafen, dann gab sich Thorsten besonders meinungsstark, dann äußerte er über alles und jeden eine Meinung, über Politik aber auch über ganz alltäglichen Kram. Wenn sie zum Beispiel bei Starbucks einen Kaffee trinken gingen, dann waren Sessel unkommunikativ, die Möglichkeit nachzufüllen eine zeitgemäße Praxis, die sich flächendeckend ausbreiten sollte, dann waren Klofrauen eine Zumutung. Dies alles äußerte Thorsten und dann fragte er: „Und, wie siehst du das?“

Aber Victor schwieg. Er schwieg oder sagte höchstens so etwas wie „kein Plan“. Und während Victor schwieg oder höchstens so etwas wie „kein Plan“ sagte, suhlte er sich in seiner Verachtung für Thorsten, der sich ihm so überlegen fühlte mit all seinen Meinungen, der ihm aber eigentlich so völlig unterlegen war. Ja, Thorsten wurde für Victor zum Inbegriff der Probleme auf dieser Welt. Die Islamisten oder die katholische Kirche, George W. Busch oder RTL, all diese Player, die nichts anderes machten als die Welt einzuteilen in gut oder böse, hübsch oder hässlich, klug oder dumm, all diese Player machten das im Großen, was Thorsten im Kleinen machte, davon war Victor überzeugt.

Eines Abends, Thorsten hatte Victor in eine Kneipe eingeladen, wollte Victor Thorsten eigentlich versetzen. Zu sehr graute ihm davor, mehrere Stunden diesem Thorsten und seinen Meinungen ausgesetzt zu sein. Aber statt Thorsten zu versetzen rauchte Victor zwei Joints und ging zu der Kneipe. Thorsten schien zunächst keine Veränderung festzustellen, er legte wieder los mit seinen Meinungen, er bevorzugte Pils statt Alt, blond statt brünett, leise Musik statt laute. Irgendwann reichte es Victor. Thorsten hatte gerade kundgetan, dass er die Beschneidung von Jungen für falsch halten und ein Verbot befürworten würde, da brach es aus Victor heraus:

„Also sind wir die Herrenmenschen, oder wie?“
„Herrenmenschen?“ wiederholte Thorsten.
„Ja, ich meine, scheinbar wissen wir ja besser was für kleine Jungen richtig ist, als die Moslems, die Juden...“ sagte Victor.
„Aber ich kann doch meine Meinung haben.“
„Du kannst aber auch mal keine Meinung haben, hast du daran schon mal gedacht?“
„Naja, ob das jetzt eine Lösung ist?“ fragte Thorsten.
„Du musst auch nicht immer alles lösen, verstehst du, lass die Dinge doch mal ungelöst.“
„Du machst es dir ganz schön einfach, Victor.“
„Nein, du machst es dir einfach, mit all deinen Meinungen, ist doch wahrscheinlich schön, wenn man ganz genau weiß, wofür man ist, wogegen...“
„Vielleicht sollten wir uns in der Mitte treffen, Victor, also ich meine, ich weniger Meinungen, du mehr...“
„Mit dir treffe ich mich nirgendwo, nie mehr“ sagte Victor, stand auf und verließ die Kneipe.

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