EIN VOLK, EIN REICH, EIN… NATIONALSTAAT?

#Nationalismus: Das ewige Problem und seine Lösung

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Robert Habeck war im Mai dieses Jahres zu einem Spontankommentar zu bestimmten Stichworten gebeten worden. Als der Begriff "Volksverräter" genannt wurde, fuhr Habeck fort:

"…ist ein Nazibegriff. Es gibt kein Volk und deshalb auch keinen Verrat am Volk. Das ist ein böser Satz, um Menschen auszugrenzen und zu stigmatisieren. “

Diese allzu knappe Äußerung sollte ihn bald reuen: es hagelte Angriffe von rechts. Nach drei Wochen sah er sich zu der Präzisierung auf seinem Blog genötigt:

"In Deutschland gibt es zweierlei Volk. Den völkerrechtlichen Begriff im eben genannten Sinn von Staatsvolk und eine ethnische, ausschließende Kategorie. Letztere ist nicht nur problematisch, weil sie die Vielzahl der Verschiedenen auf eine Identität der Gleichen reduziert. Der Grund liegt in der deutschen Geschichte und dem langen Fehlen eines Nationalstaates in Deutschland. Die Idee einer kulturellen Identität ersetzte die Idee einer politischen. Und weil aus der kulturellen Identität bei den Rechten schließlich eine völkische wurde, die sich biologisch zu rechtfertigen suchte, ist dieser Volksbegriff auch ein gefährlicher. Denn die Idee eines ethnisch-identitären Volkes ist totalitär und ausgrenzend. Sie macht eine Gesellschaft zu quasi einem „Volkskörper“. Und dieser „Volkskörper“ soll natürlich gesund sein, in diesem Gedankengut bedeutet das möglichst rein."

In einem klugen Artikel für die FAZ hat Jasper von Altenbockum an diese umstrittene Äußerung erinnert. Er stellt klar, dass Habeck "zwischen dem deutschen Volk im Sinne des Staatsvolks und dem Volk im Sinne der Ethnizität, also der Abstammung und Gruppenzugehörigkeit" unterscheiden wollte.

"Habecks Satz ist deshalb so aufschlussreich, weil er recht präzise den Riss bezeichnet, der durch Deutschland geht und der 2018 noch einmal tiefer geworden ist. Eigentlich ist das nichts Neues. Der Streit zwischen Ethnos und Demos durchzieht die deutsche Geschichte wie die der meisten europäischen und amerikanischen Staaten seit der Französischen Revolution. Er handelt davon, wie sich der demokratische Staat definieren soll: Allein durch das Volk seiner Staatsbürger oder durch das Volk seiner 'Stämme'?"

Entweder–oder ist hier meiner Überzeugung nach der falsche Ansatz. Es braucht ein Sowohl-als-Auch. Denn sowohl Ethnos (das Volk im Sinne eines "Stammes" mit gemeinsamen Göttern, Sitten, Gebräuchen, Normen, Tabus, einer gemeinsamen Sprache…) als auch Demos (jene Menschengruppe, die auf einem bestimmten Staatsgebiet lebt und dessen Gesetzen unterworfen ist) sind Ausdruck realer gesellschaftlicher Bedürfnisse. Diese wollen sich unterschiedlich geltend machen und können sich deshalb auch nur unterschiedlich ausleben:

• Als Staatsbürger haben die Menschen das Bedürfnis nach Sicherheit, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung…, was zwingend eine Abgrenzung von anderen Staaten zur Konsequenz hat, die nicht dieselbe Sicherheit gewährleisten können, nicht dasselbe Maß an Gerechtigkeit und Gleichbehandlung. Die Demoitragen wie ihre DNS die Abgrenzung in sich. Wir, das umfasst beim Demos jene Menschengruppe auf einem bestimmten Staatsgebiet, die die gleichen genannten Regeln und Standards haben will.

• Als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft haben die Menschen das Bedürfnis nach Individualität, und Individuen wollen ihre kulturellen, religiösen, sprachlichen, traditionellen… Eigentümlichkeiten und Überzeugungn frei entfalten. Das bedeutet für eine Gruppe: sie will aus sich heraus ihr geistiges Leben pluralistisch und liberal gestalten. Wo auch immer eine Gesellschaft das konnte, hat sie es auch institutionalisiert und mit Gesetzen abgesichert: Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Wissenschaft und Kunst, der Information und Kommunikation… (vgl. Art. 5 GG).

Das ist das genaue Gegenteil von Abgrenzung. Und es hat mit dem Prinzip der Territorialität nicht das Geringste zu tun. Beide Bedüfnisse sind inkommensurabel, aber gleichermaßen real. Versucht man dennoch, Demos (Gleichheitsbedürfnis) und Ethnos (Freiheitsbedürfnis) unter ein Joch zu zwingen, kann das über kurz oder lang nur zu Spannungen und Konflikten führen.

Rudolf Steiner (1861-1925) erkannte als erster, dass diese Verquickung des geistigen und des politischen Lebens in einem, wie er es nannte, "Einheitsstaat" die Wurzel des I.Weltkriegs war:

"Das österreichisch-ungarische Staatsgebilde drängte seit mehr als einem halben Jahrhundert nach einer Neugestaltung. Sein geistiges Leben, das in einer Vielheit von Völkergemeinschaften wurzelte, verlangte nach einer Form, für deren Entwickelung der aus veralteten Impulsen gebildete Einheitsstaat ein Hemmnis war. Der serbisch-österreichische Konflikt, der am Ausgangspunkte der Weltkriegskatastrophe steht, ist das vollgültigste Zeugnis dafür, daß die politischen Grenzen dieses Einheitsstaates von einem gewissen Zeitpunkte an keine Kulturgrenzen sein durften für das Völkerleben. Wäre eine Möglichkeit vorhanden gewesen, daß das auf sich selbst gestellte, von dem politischen Staate und seinen Grenzen unabhängige Geistesleben sich über diese Grenzen hinüber in einer Art hätte entwickeln können, die mit den Zielen der Völker im Einklange gewesen wäre, dann hätte der im Geistesleben verwurzelte Konflikt sich nicht in einer politischen Katastrophe entladen müssen." (Die Kernpunkte der sozialen Frage…)

Heute ahnen das viele Menschen, daher z.B. das Aufbegehren in Israel gegen den Beschluss des Nationalstaatsgesetzes im Juli. In dieser Verfassung wird festgeschrieben, dass Israel "die 'nationale Heimstätte des jüdischen Volkes" mit der Hauptstadt Jerusalem sei. "Hebräisch wird zur alleinigen Nationalsprache erklärt, während Arabisch, das in Israel bis dahin ebenfalls offizielle Sprache war, nur einen nicht näher definierten Sonderstatus erhielt." (Wikipedia) Israel – der National-Staat der Juden: das ist genau dieselbe unselige Verquickung von Staat und Religion – eine Religion, ein Staatsgebiet, ein Einheits- / National-Staat wie in Österreich-Ungarn vor dem I.Weltkrieg. Dieses Gesetz ist wie der Zionismus überhaupt ein Paradebeispiel für die Amalgamierung von Demos (Staatsgebiet, Territorialitätsprinzip, Abgrenzung…) und Ethnos (Juden vs. Muslime, Religion, Kultur, Sprache…). Es liegt auf der Hand, dass diese Verquickung auf Ausgrenzung und Apartheid hinausläuft. Sie verschiebt den kulturell-religiösen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf das staatlich-politische Gebiet: Cuius regio, eius natio (Zygmunt Bauman), wer regiert, definiert die Nation – das Wir und wer dazugehört (Juden) bzw. wer nicht (Araber).

In Deutschland ist die Situation gottlob nicht so polarisiert, aber die derzeitige gesellschaftliche Spaltung hat dieselben Ursachen und geht in dieselbe Richtung. Je mehr das Bedürfnis nach Individualität, Freiheit und Pluralität mit dem Prinzip nach Sicherheit, Gleichbehandlung und Abgrenzung unter ein Joch zusammengespannt wird, desto größer werden die Spannung und das gesellschaftliche Konfliktpotential. Die beiden Bedürfnisse sind unvereinbar, deshalb können und dürfen sie nicht im Sinne des traditionellen National-Staats zusammengezwungen werden. Sie müssen sich als getrennte, jedes nach seiner Art entfalten können.

Der Nationalismus ist der zerstörerischste Auswuchs des Nationalstaats-Modells. Man kann und wird dem Nationalismus nicht beikommen, so lange die Destruktivität des Nationalstaats-Gedankens nicht erkannt ist. Wir müssen uns von diesem Konzept verabschieden weil es versucht, genau jenes Unvereinbare zu vereinen. Der Nationalismus ist die Identifikation, Solidarisierung und Verschmelzung einer identitären Menschengruppe (Geistesleben) mit einem Staatsgebiet (Rechtsleben). Cuius regio, eius natio. Doch die kulturelle, sexuelle, sprachliche, religiöse, ethnische, nationale… Identität, die sich die Menschen individuell zuschreiben will sich frei entfalten, während das staatlich-politische Leben auf einem Staatsterritorium Gleichheit durchsetzen will. Diese beiden Impulse sind inkommensurabel. Überall, wo sie trotzdem zusammengespannt werden, flammt der Nationalismus auf. Es entzünden sich Konflikte, im schlimmsten Fall sogar Krieg und Bürgerkrieg – vgl. die Intifada in Israel, der dauernd schwelende Konflikt in der Ukraine, ganz zu schweigen von den kranken Gottesstaats-Phantasien des Salafismus, der Taliban, von Al-Quaida, IS… Am Anfang steht die Verquickung von Ethnos und Demos, und am Ende die ethnische oder religiöse Säuberung. Ein Volk – ein Reich – eine Nation.

Die Lösung liegt somit in etwas Neuem, noch nie Dagewesenen: in einer autonomen Selbstorganisation der drei gesellschaftlichen Lebensbereiche.

• Je freier die Menschen ihr individuell-geistig-kulturelles Leben entfalten können – egal auf welchem Territorium und welcher Staatsbürgerschaft sie angehören –, und

• je mehr sich das rechtlich-politische Leben in Richtung Sicherheit und Gleichbehandlung entwickeln kann – egal, welcher Religion die Bürger angehören, welche Sprache sie sprechen, welcher Ethnie sie angehören, welche sexuelle Identität sie sich zuschreiben… –,

• je mehr die Menschen ihre existenziellen Bedürfnisse – Ernährung, Gesundheit, Wohnen… –, durch Kooperation befriedigen können, ohne staatliche Lenkung wie in China, Nordkorea, Vietnam…, ohne staatlich-territoriale Einschränkung bzw. Forcierung à la Trump,

desto gesünder werden sich die drei Lebensbereiche in selbstorganisierten, selbstverwalteten Sphären entwickeln. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind keine Utopie, sie sind die gesellschaftlichen Ur-Bedürfnisse.

In einer solchen Selbstorganisation liegt auch die Lösung der Frage der europäischen Integration. Auch sie ist ja gekennzeichnet von der blinden Verquickung des geistigen, politischen und wirtschaftlichen Lebens. Da alle drei aber unterschiedliche Entwicklungsbedürfnisse haben, können sie nur auseinander streben. Ihre Integration in einem kulturell-politisch-wirtschaftlichen Wust namens EU ist unmöglich. Solche ausgedachten Konstrukte muss man vom Kopf auf die Füße stellen. Man muss zurückgehen zu den drei realen gesellschaftlichen Grundbedürfnissen der Menschen, die sich in drei eigenständigen Systemen selbst organisieren und entwickeln können.

Für all das ist keine politische Hauruck-Aktion notwendig, geschweige denn eine Revolution. Je mehr sich die drei Entwicklungsimpulse in einer Gesellschaft geltend machen können, desto gesünder und konfliktfreier wird sich diese entwickeln. Alles, was es braucht ist ein Kompass für den Weg. Diesen habe ich in FGB entwickelt, und seine universelle Anwendbarkeit habe ich in diesem Blog anhand zahlreicher konkreter Ereignisse belegt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

socialkairos

26 Jahre Waldorflehrer, incl. Schulleitung, OE, PE, QE. MA (OE an Schulen). Dann Autor (kairos.social) und Blogger (socialkairos.wordpress.com).

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