ZAUBERLEHRLING ZUCKERBERG

#Cambridge Analytica: Die Finanzmärkte machen alles zu Waren – also logischerweise auch Daten. Aber darf man den Hechten die Entscheidung überlassen, welche Regeln im Karpfenteich gelten?

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Nachdem ich in dem ausgezeichneten Online-Magazin Republik die Entstehungsgeschichte von Facebook gelesen habe, sehe ich einiges klarer als davor. Der entscheidende Wendepunkt in der Geschichte des Unternehmens(modells) war der Börsengang:

Am 17. Mai 2012 geht der Konzern an die Börse. Über Nacht wird Mark Zuckerberg zu einem der reichsten Menschen der Welt. Doch kaum wird die Aktie gehandelt, halbiert sich der Kurs. Banken und Hedgefonds, die in grossem Stil Aktien geordert haben, laufen Sturm. Mehr User? Schön und gut. Aber wo bitte bleiben die Einnahmen? Wo bleibt das Cash? Man möchte doch jetzt bitte mehr Werbung zulassen. Nicht die mickrigen, an den Rand gedrängten Ads, die kaum auffallen und von den Nutzern geflissentlich ignoriert werden. Nein, Anzeigen, mitten hineinplatziert ins Geschehen, in den Newsfeed, zwischen die Ferienfotos und die Statusberichte.

Die Party ist vorbei. […] Fünf Angestellte hat die Werbeabteilung zu diesem Zeitpunkt. Bald sitzen dort Hunderte. Nicht lange, und Facebook wird mit Anzeigen – «gesponserten Beiträgen» – geradezu überflutet. Wer auf seinem Handy Facebook durchblättert, wird bald mit Werbung bombardiert. Auf Mobilgeräten ist fast jedes dritte Posting eine Werbung. Für Sofas, Seminare und Sonderangebote aus dem Supermarkt um die Ecke.

Mehr als 80 Prozent seines Umsatzes wird Facebook schliesslich mit Werbung auf dem Smartphone erzielen. (a.a.O.)

Der Rest ist Geschichte: Mehr als 5 Millionen Kunden schalten Anzeigen im Wert von über 2,3 Milliarden Dollar monatlich, die von hunderten Millionen Nutzern wie nebenbei konsumiert werden. In jeder Sekunde, die sie Facebook benutzen füttern sie deren Algorithmen mit ihren Daten – Informationen, die Milliarden wert sind. Sie ermöglichen es, konsumistische und – wie man nun weiß – politische Manipulation passgenau zu designen.

So groß das Geschrei über den Datenmissbrauch durch Cambridge Analytica derzeit ist: Das Team Obamas hatte nicht "nur" 50 Mio Datensätze zur Verfügung, um die Wähler zu manipulieren, sondern alle, wie dieser FAZ-Beitrag verdeutlicht. Nur hat das damals niemanden wirklich gejuckt; im Gegenteil: Ich kann mich noch erinnern, wie es in den Medien anerkennend zur Kenntnis genommen wurde (Tenor: "Wow, so macht man modernen Wahlkampf!").

Selbst wenn Zuckerberg sich derzeit zerknirscht gibt: Das war kein Betriebsunfall, das ist Facebooks Geschäftsmodell. Anders gesagt, es hat System, es ist das System: Je mehr und je genauere Daten, desto höher ihr Wert für all jene, die sie für ihre Zwecke verwenden wollen – desto höher der Umsatz durch die Daten (und die Unternehmensgewinne und der Börsenwert von Fb) – desto größer Facebooks Attraktivität für Datenkunden – desto mehr zahlende Kunden – desto mehr Umsatz… Die Facebook-Nutzer waren für das Unternehmen niemals die nette Community, in der sich unter Familienmitgliedern und Freunden nett unterhalten konnte. Die User lieferten immer schon den gigantischen Datenpool, dank dem Facebook Marktführer bei den "sozialen" Netzwerken werden konnte. Die Nutzer waren seit jeher die Ware. Keinem minimal informierten Benutzer konnte das verborgen bleiben. Man nahm es halt mehr oder weniger gleichgültig so hin. Bis nun die Bombe mit Cambridge Analytica platzte.

DIE GEISTER, DIE ICH RIEF…

Der eingangs zitierte Artikel resümiert:

Es ist die alte Ballade vom Zauberlehrling, die Zuckerberg ein weiteres Mal aufgeführt hat: Die Geister, die er rief, wird er nun nicht mehr los. Er hat eine Kommunikationsplattform geschaffen, die sich in ein Manipulationsmonster verwandelt hat. Eine Maschine, so komplex und so unübersichtlich, dass sie unbeherrschbar geworden ist. Eine Kreatur, die ihr Eigenleben entwickelt hat – und nun gefüttert wird von jenen, die Böses im Sinn haben.

Diese Maschinerie, oder genauer: die systemische Dynamikist nicht nur komplex und unübersichtlich; die "Geister" die Zuckerberg gerufen hat, sind die Finanzmärkte. Sie würden es ihm nicht erlauben, dass die Cash Cow weniger Profite mehr abwürfe. Wer immer ein börsennotiertes Unternehmen führt, dem geht es wie Goethes Zauberlehrling: er liefert sich Mächten aus, die er nicht mehr beherrschen kann.

Ist das Unternehmen erst einmal im Räderwerk dieser Systemdynamik, sind es auch seine Führungskräfte – egal wie ihre persönlichen Werthaltungen sein mögen. Sie sind nicht mehr Herr ihrer Entscheidungen, sondern werden vom System verschlungen wie Charlie Chaplin in der berühmten Fabrik-Szene aus Modern Times.

Den entscheidenden Unterschied zwischen Person und System, zwischen personeller und struktureller Gewalt stellte einer der schärfsten Kapitalismus-Kritiker, Jean Ziegler, mehrfach anhand eines konkreten Beispiels klar:

„Peter Brabeck-Letmathe, der Verwaltungsratschef von Nestlé, dem größten Lebensmittelkonzerns der Welt, ist ein eher netter, kultivierter, moralischer Mensch. Aber wenn er den Shareholder Value nicht um soundso viel Prozent pro Jahr erhöht, ist der ganz schnell nicht mehr Verwaltungsratschef, Punkt. Das ist die strukturelle Gewalt der kannibalischen Weltordnung.“

Wer sich den Finanzmärkten ausliefert, hat einen Teufelspakt geschlossen, aus dem es kein Entkommen gibt. Das merkt nun auch Mark Zuckerberg, wie viele andere vor ihm und nach ihm: So wollte ich das eigentlich nicht, aber nun bestimme nicht mehr ich den Kurs, sondern die Shareholder.

DAS SYSTEM IST DAS PROBLEM – UND EINE SYSTEMÄNDERUNG DIE EINZIGE LÖSUNG

Es ist also wohlfeil, jetzt auf Zuckerberg mit der moralischen Keule einzudreschen. Was auch immer er Schönes und Gutes mit Facebook im Sinn hatte oder auch nicht: seit dem Börsengang 2012 ist er nicht mehr Herr der Lage. Auch jeder andere in seiner Situation wäre von der Marktdynamik gezwungen, auf Profitmaximierung hinzuarbeiten – oder er würde geschasst. Nicht die Menschen sind das Entscheidende; das System ist das Problem. Deshalb braucht man sich nichts davon zu erhoffen, dass andere Menschen es im selben System besser machen würden. Sie könnten es nicht. Auch eine Zerschlagung von Facebook / WhatsApp / Instagram wird daran nichts grundlegend ändern weil jedes dieser Unternehmen börsennotiert ist und deshalb weiterhin nach den Regeln der Finanzwirtschaft spielen wird. Wenn ein System das eigentliche Problem ist, kann jede echte Lösung nur in einer Systemänderung bestehen.

DIE KARDINALFRAGE: WAS DARF WARE SEIN UND WAS NICHT?

1. wird man sich fragen müssen, was in unserer Gesellschaft den Märkten ausgeliefert werden soll, kann, darf. Derzeit bestimmen das die Märkte. Was zur Ware gemacht werden kann, das darf, nein: soll, nein: muss zur Ware gemacht werden. Das ist der Waren-Imperativ der marktwirtschaftlichen "Teufelsmühle" (K.Polanyi) schlechthin.

2. wird man sich fragen müssen, wer denn hierüber entscheiden soll und darf. Wenn Daten – d.h. letztlich: Menschen – verkauft werden können, dann entscheiden die Märkte und nicht die Bürger, ob sie zur Ware gemacht werden. Und die Entscheidung lautet dann in 100% der Fälle: ja. Märkte speisen sich von Waren, und die Märkte brummen umso mehr, je mehr Waren kursieren. Also ist es eine selbstverstärkende Systemdynamik: Je mehr Waren, desto mehr Umsatz, desto mehr Gewinne, desto mehr Druck, Waren auf den Markt zu bringen, desto mehr Waren, desto mehr Umsatz… Ergo: Daten als Ware? Ja! Gene als Ware? Ja! Wasser und andere lebenswichtige Ressourcen als Ware? Ja! Bildung als Ware? Ja! Boden und Wohnraum als Ware? Ja! Pflegeeinrichtungen als Ware? Ja! – Die Liste ist endlos; jedes einzelne Beispiel wäre ein eigenes Essay wert (viele davon habe ich in FGB bearbeitet).

Wie kann es sein, dass die Entscheidung, was Ware werden darf und was nicht jenen überlassen wird, die umso mehr profitieren, je mehr Waren es gibt? Wie kann man die Vermarktung von persönlichen Informationen jenen überlassen, die davon profitieren? Wie konnte man solche Grundsatzentscheidungen, die die Fundamente unserer Gesellschaft betreffen jemals den Märkten überlassen? Facebook, Google, Amazon und wie sie alle heißen: auch sie sind als börsennotierte Unternehmen trotz ihrer gigantischen Macht nur Marionetten der (Finanz)Märkte. Denn investiert wird dort, wo es Renditen verspricht; umso mehr in solche Unternehmen, je mehr Renditen sie versprechen; je mehr Renditen sie abwerfen, desto höher ihr Börsenwert und ihre Attraktivität für Investoren… Und wehe dem Management, das – mit den Investorenvertretern im Genick – nicht maximale Renditen erwirtschaftet, scheißegal wie und womit.

DAS WA(H)RE PROBLEM: DIE FINANZMÄRKTE

Die Finanzmärkte sind die eigentlich treibenden Kräfte, die nun auch zu dem Facebook-Datenskandal geführt haben. Sie sind deshalb auch das eigentliche Problem unseres kranken Wirtschaftssystems. Das ganze 20. Jahrhundert hindurch, am radikalsten in den letzten drei Jahrzehnten, hat man sie schalten und walten lassen, entsprechend dem neoliberalen Credo: Die Wirtschaft funktioniert umso besser, je weniger sie vom Staat reguliert wird. Und je besser es der Wirtschaft geht, desto besser geht es uns allen. Am besten geht es uns also logischerweise, wenn die Wirtschaft völlig dereguliert ist. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die Politik zunehmend aufgegeben (wofür die einstigen Großparteien seit Jahren bei allen Wahlen abgestraft werden). Das heißt aber, sie haben in Verkennung ihrer eigentlichen Aufgabe – die Interessen der Bürger zu vertreten, nicht Handlanger der Wirtschaft zu sein – ihre eigene Entmachtung betrieben.

Derzeit sind die Bürger nur noch auf dem Papier die Souveräne im Land, und Papier ist geduldig. Sie haben gewählt und damit abgedankt. Und jetzt müssen sie ohnmächtig zusehen, wie die Politik ihre Interessen an die Finanzmärkte verrät. Ein Großteil des grassierenden Unmuts, der die radikalen Randparteien speist geht auf die tiefe Frustration zurück, die dieser Kontrollverlust des Souveräns nach sich zieht. Niemand scheint heute mehr Herr der Lage, niemand kann die "Teufelsmühle" bremsen, alles ist scheinbar alternativlos. Also weg mit diesen "Altparteien"! – Mitnichten, denn auch das Parteiensystem ist ein System, das sich verselbständigt hat und in dem alle Akteure, auch die selbsternannten "neuen" Parteien und "Bewegungen" nicht mehr Herr ihrer Lage sind (aber das ist ein anderes Thema, vgl. ebenfalls FGB). Im gleichen System werden sich auch andere Akteure nicht anders verhalten weil sie es nicht können. Sie werden vom System geschluckt oder ausgespuckt.

Kurz: Die grundlegende Lösung kann nur in einer fundamentalen Systemänderung bestehen, die den Bürgern wieder ihre Souveränität zurückgibt und sie entscheiden lässt, was Ware werden soll und darf. Wie unsere Welt beschaffen sein soll, dürfen nicht verselbständigte Märkte entscheiden; das müssen die Bürger definieren. Nur Veränderungen, die das ermöglichen sind sinnvoll. Alles andere ist bloße Symptombekämpfung und Schattenfechterei.

DIE ENTSCHEIDENDE FRAGE

Das St. Gallener Managementmodell unterscheidet drei Managementaufgaben, die in einem Unternehmen nicht getrennt sein, aber erfüllt werden müssen: 1. operatives Management (das Alltagsgeschäft der Betriebsführung), 2. das strategische Management (längerfristige Strategieplanung), sowie 3. das normative Management (grundlegende Unternehmenswerte und -normen, die eigentliche Identität des Unternehmens).

Beispiel Facebook. Der Datenmissbrauch durch Cambridge Analytica war ein technisches Versehen, also lautet der Auftrag an das operative Management: die Benutzeroberfläche / die dahinterstehenden Algorithmen sind so zu verändern, dass etwas Derartiges künftig nicht mehr möglich ist. – Problem erledigt? Keineswegs; denn wie oben ausgeführt, war das keine Panne, sondern bewusste Strategie. Das waren Richtungsentscheidungen, die hier gefällt wurden, und wie man inzwischen weiß, hatte ein hoher Manager frühzeitig auf die Risiken dieser Algorithmen hingewiesen. Doch diese wurden aufgrund der Unternehmensnormen getroffen, welche eine Person, Mr. Zuckerberg definiert. Also stellt sich die entscheidende Frage: Dürfen solche fundamentalen normativen Entscheidungen den Unternehmen selbst überlassen werden?

Ein anderes Beispiel: Autonome Fahrzeuge. Wenn neuerdings einige US-Unternehmen selbstgesteuerte Autos auf die Straße schicken, die – wie zu erwarten – Unfälle verursachen, dann ist das vordergründig ein technologisches Problem. Das operative Management muss (und wird) dieses Problem früher oder später in den Griff bekommen; die Zahl der Unfälle wird abnehmen und schließlich werden selbstfahrende Autos so normal sein wie heutzutage Menschen-gesteuerte. – Dass diese Fahrzeuge zum jetzigen Zeitpunkt, am momentanen Stand der Technik bereits auf öffentlichen Straßen getestet werden sollen, um sie unter realen Bedingungen technologisch weiterentwickeln zu können war eine strategische Entscheidung. Autonome Fahrzeuge sind ein Milliardenmarkt, und wer vorne mitmischt, wird ein gigantisches Geschäft machen. – Dieser Strategie wiederum liegen grundlegende normative Management-Entscheidungen eines Unternehmens zugrunde: Wir wollen maximal wachsen, wir wollen (für uns und unsere Investoren) maximal Umsatz machen, maximale Gewinne lukrieren, unseren Börsenwert maximal steigern – auch wenn das vorübergehend Probleme macht, auch wenn diese Autos noch nicht verkehrsreif sind, auch wenn sie Unfälle verursachen, auch wenn es dabei mglw. Tote gibt. Womit freilich niemand gerechnet hatte; solche Zwischenfälle sind fürs Geschäft und für die Börsenbewertung äußerst abträglich. Aber wäre die normative Entscheidung gewesen: Diese Autos kommen erst auf die Straße, wenn genau so eine Situation wie in dem verlinkten Video nicht mehr passieren kann weil anstelle von Profiten Sicherheit und Alltagstauglichkeit oberste Priorität haben: dann wäre eine andere Strategie gewählt worden, dann wären andere operative Entscheidungen getroffen worden, dann wären diese Autos noch nicht im öffentlichen Verkehr, dann würde diese Radfahrerin noch leben. Auch hier stellt sich die entscheidende Frage: Dürfen solche fundamentalen normativen Entscheidungen den Unternehmen selbst überlassen werden?

Man könnte die Liste endlos fortführen, von Bhopal über Tschernobyl und Fukushima bis zur Finanzkrise, zur Massentierhaltung, Glyphosat…: Immer waren es normative Management-Entscheidungen von gigantischer ökologischer und gesellschaftlicher Tragweite, die von wenigen Personen getroffen wurden. Personen, die dabei offensichtlich nicht die langfristigen ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zuoberst auf ihrer Prioritätenliste hatten und haben, sondern kurzfristige Interessen wie die eigene Karriere, das Einkommen, das Unternehmenswachstum, seine Wertsteigerung und die Anlegergewinne.

…UND DIE ENTSCHEIDENDE ANTWORT

Wenn wir nicht wollen, dass diese Entwicklung auch künftig so weitergeht, bis zum ökologischen und sozialen Kollaps, können wir nur eine Konsequenz daraus ziehen: Die Grundwerte, Normen, Leitgedanken… ökosozial hochrelevanter Unternehmen dürfen nicht von diesen selbst definiert werden. Das ist die entscheidende Änderung, der Paradigmenwechsel, der nun ansteht. Wenn die Hechte bestimmen, wer im Karpfenteich frisst und wer gefressen wird, dann gute Nacht. Die fundamentalen, langfristigen Unternehmensnormen systemrelevanter Unternehmen müssen vom einzigen tatsächlichen Souverän ausgehen, von den Bürgern.

In einer repräsentativen Demokratie heißt das, von der Politik. Doch wir erleben ja derzeit überall, dass auch die Politik nicht das langfristige Wohl von Mensch und Erde oben auf ihrer Prioritätenliste hat. Die Falschen sind an der Macht. In der repräsentativen Demokratie werden solche fatalen Fehlentwicklungen formal als legitim betrachtet und akzeptiert. Doch ein politisches System, das nur so lange funktioniert als nicht die Falschen an die Macht kommen – z.B. Personen, deren intellektuelle, emotionale und moralische Eigenschaften dafür bei weitem nicht ausreichen; Personen, die ihre kurzfristigen Eigeninteressen und die egoistischen Partikularinteressen bestimmter Gruppen über das langfristige ökosoziale Wohl stehen… –: ein System, das von solchen Personen erschüttert werden, kollabieren und die ganze Welt mit in den Abgrund reißen kann hat einen fundamentalen Konstruktionsfehler (vgl. meinen früheren Beitrag hierzu).

Je mehr Macht die so gewählte Regierung hat, desto mehr Unheil kann sie stiften. Weil sie – wie ein systemrelevantes Unternehmen – die normativen Entscheidungen autonom treffen kann, kann sich auch die normative Ausrichtung der Politik von Wahl zu Wahl wenden wie ein Wetterhahn im wechselnden Wind. Wir erleben ja gerade in eine Reihe von Staaten, wie eine jahrzehntelang auf Menschenachtung gegründete Politik von einem Moment auf den anderen in eine menschenverachtende verkehrt werden kann. Wie eine mehr oder weniger auf ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtete Politik zerstört werden kann. Wie eine Politik für Gesundheit und soziale Absicherung mit einer Unterschrift ins Gegenteil gedreht werden kann. Und so weiter und so fort.

Damit stellt sich auch für die Politik die gleiche entscheidende Frage: Dürfen fundamentale normativen Entscheidungen mit massiven ökosozialen Folgen den Politikern überlassen werden?Die Antwort ist die gleiche wie bei den Unternehmen: NEIN. Das grundlegende langfristige Bestehen und Wohlergehen von Mensch und Erde darf nicht dem Hin und Her wetterwendischer Politik ausgesetzt werden.

Solche normativen Entscheidungen kann jeder mündige Bürger beurteilen und entscheiden. (Vielleicht nicht optimal, und es wird auch hier Fehlentscheidungen geben, aber so ist das Leben: immer lebensgefährlich.) Hat der Souverän, haben die Bürger diese Grundsatzentscheidungen getroffen, können entsprechend befähigte Personen sie in Strategien und Alltagsentscheidungen umsetzen.

Fazit:

NUR DEM SOUVERÄN, DEN BÜRGERN STEHEN DIE NORMATIVEN ENTSCHEIDUNGEN ZU, VON DENEN DAS LANGFRISTIGE WOHLERGEHEN ABHÄNGT.

Dieses Prinzip ist in den Verfassungen der Staaten zu verankern. Und damit nicht eine politische Zweidrittelmehrheit im Parlament das gleich nach der nächsten Wahl wieder ins Gegenteil verkehren kann, sollte eine Verfassung nur durch einen Entscheid des Souveräns, der Bürger abgeändert werden können. Die Aufgaben der Politik entsprechen i.d.F. denen des strategischen und operativen Managements in der Wirtschaft: Sie sind planende und ausführende Organe des Souveräns.

Wenn die Bürger normative Entscheidungen selbst treffen, verlieren Parteien an Bedeutung – was wohl jedem willkommen sein wird mit Ausnahme der Parteifunktionäre. Und das politische Interesse und Engagement der Bürger wird proportional zunehmen. Zahlreiche strukturell-politische Probleme der Staaten (Stichworte: Vertrauens- und Legitimitätsverlust, Populismus…) würden sich damit von selbst lösen (und auch solche der EU, aber das würde nun zu weit führen).

Das läuft offensichtlich auf eine weitgehende Entmachtung hinaus. Deshalb werden die Politiker 1000 Gründe finden, warum das nicht geht, warum das nicht funktionieren kann, warum das ins Chaos führen wird… – Auch hier ist die Antwort dieselbe: Man darf nicht den Hechten die Entscheidung überlassen, welche Regeln im Karpfenteich gelten. In einer republikanisch-demokratischen Gesellschaft steht es niemandem zu, seine grundlegenden Spielregeln selbst zu bestimmen; weder Managern noch Politikern. Das ist das höchste Privileg des Souveräns, der Bürger. Sowohl die Konzernmanager als auch die Politiker werden Kopf stehen und Sturm laufen gegen eine solche Entmachtung. Aber bei der Frage, wer in der Gesellschaft das Sagen hat gilt der markige Film-Spruch: "Es kann nur einen geben." 😉

Gehen wir's also an.

* * *

Erstveröffentlichung am 1.4.2018 in meinem Blog. Cambridge Analytica war der erste in der Reihe der Skandale, die Facebooks Reputation nachhaltig beschädigt haben. Sie haben allesamt meine Thesen und Schlussfolgerungen bestätigt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

socialkairos

26 Jahre Waldorflehrer, incl. Schulleitung, OE, PE, QE. MA (OE an Schulen). Dann Autor (kairos.social) und Blogger (socialkairos.wordpress.com).

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