Spontan geduldet

China Die anti-japanischen Proteste bezeugen einen florierenden Patriotismus im Reich der Mitte

Wütende Menschen werfen mit Eiern und Flaschen auf das japanische Generalkonsulat in Shanghai. Die Polizei greift nach Augenzeugenberichten trotz starker Präsenz nicht ein. Zu Übergriffen kommt es auch an der Botschafterresidenz in Peking - den Platz des Himmlischen Friedens haben Sicherheitskräfte seit Tagen abgeriegelt. In Kanton, Tianjin, Hangzhou und anderen Städten gehen gleichfalls Tausende auf die Straße. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua hebt die verhängte Nachrichtensperre auf und spricht lapidar von "spontanen Studentenprotesten."

Doch nicht überall entlädt sich der Volkszorn derart öffentlich und derart vehement. In der Sechs-Millionen-Metropole Harbin etwa, Hauptstadt der Provinz Heilongjiang an der Grenze zu Russland, ist von stürmischer Empörung über Japans chauvinistisches und selbstgerechtes Geschichtsverständnis wenig zu spüren: Nur eine Handvoll Studenten der Heilongjiang-Universität verteilt Flugblätter. Demonstrationen hat die Provinzverwaltung kurzerhand untersagt.

So besteht der einzige große Menschenauflauf an der Heilongjiang-Universität aus Arbeitslosen und Studenten, die auf Einlass zur Aufnahmeprüfung in den Staatsdienst warten. Viele der Absolventen zieht es in den Süden, denn im von der Schwerindustrie geprägten Nordosten Chinas ist die Arbeitslosigkeit erheblich. Unter den Wartenden ist der Student Wang Hong. Sollte er im Sommer keinen Arbeitsplatz finden, will er wie viele seiner Kommilitonen weiter die Schulbank drücken und neben Englisch auch Japanisch lernen, der östliche Nachbar sei schließlich der wichtigste Außenhandelspartner. Wang Hong kann deshalb über die Aufrufe zur Ächtung japanischer Waren nur lachen - "ein Großteil der japanischen Produkte wird bei uns hergestellt, ein Kaufverzicht wird chinesische Arbeitsplätze kosten." Vielen Protestlern attestiert Wang zudem eine Doppelmoral: "Manche fahren mit einem Toyota zur Demonstration, und viele haben Verwandte in Japan." Jährlich bürgert der Inselstaat etwa 50.000 Chinesen ein, weit mehr noch verdingen sich auf japanischen Feldern als Gastarbeiter.

Klar ist: Die Kriegsschuld Japans lässt sich nicht leugnen, die Wut auf die Bagatellisierung von Kriegsverbrechen durch die Regierung in Tokio ist nachvollziehbar. Allein das Massaker von Nanking forderte 1937 bis zu 300.000 Tote, offiziell beziffert China die Zahl seiner Opfer während der Okkupation auf 35 Millionen. Die regelmäßigen Besuche des japanischen Ministerpräsidenten Junichiro Koizumi am Tokioter Yasukuni-Schrein, in dem auch verurteilter Kriegsverbrecher gedacht wird, ist für viele Chinesen eine Verhöhnung ihrer Geschichte.

Auch Harbin selbst war ein Tatort der damaligen Besatzer. In Pingfang, vor den Toren der Stadt, experimentierten japanische Wissenschaftler in einer Forschungsanstalt ("Einheit 731") mit Menschen, um chemische und biologische Waffen zu entwickeln - über 3.000 Chinesen und mehrere Hundert Russen wurden dabei auf bestialische Weise getötet. Nach Kriegsende gelangten die Forschungsergebnisse in die Hände der US-Armee - die Schuld der Japaner blieb bis heute ungesühnt.

In den achtziger Jahren, als die Volksrepublik ihren ökonomischen Aufbruch wagte und in Japan einen Partner suchte, schienen die Schandtaten aus der Zeit zwischen 1931 und 1945 zunächst vergessen. Seit jedoch in China auch patriotische Erziehung sehr viel gilt, kennt jedes Kind die Opferzahlen aus der Zeit der Unterwerfung durch die Kaiserliche Armee. Nicht zufällig laufen derzeit in den Hauptnachrichtensendungen des chinesischen Staatsfernsehens ausführliche Berichte über die Gedenkfeiern anlässlich der Befreiung deutscher Konzentrationslager vor 60 Jahren. Die Bundesrepublik erscheint für Chinas politische Elite vorbildlich in Sachen Vergangenheitsbewältigung. Japanische Initiativen, wie die des Menschenrechtsanwalts Keiichiro Ichinose, werden hingegen verschwiegen. Dieser hatte trotz schwerer Vorwürfe in Japan selbst seit 1997 über 200 chinesische Kläger vor einem Tokioter Gericht vertreten, die Entschädigungen für die Kriegsverbrechen der dreißiger und vierziger Jahre fordern. Geschichtspolitik bedient die Konjunktur von Interessen, die Demonstrationen in China weisen die Richtung.


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