Stellenweise Aprilschlamm

Weissrussland Suche nach einem Grab, das es nicht mehr gibt

Das Dorf Ssawostjanowo liegt auf einem grauen Flecken Erde zwischen Moskau und Minsk. Gerade holt Aprilluft letzte Schneeflecken von den Feldern, lauer Frühlingswind bestreicht die Gegend unter dem rötlich-grauen Himmel im Westen. Ssawostjanowo, das verlassene und vergessene Örtchen, erreicht nur ein schmaler, schlammiger Weg, der einen Kilometer weit von der Bahnstrecke herüber kommt.

Die Gleise nach Wjasma gab es schon, als sich im Sommer 42 bei Ssawostjanowo die Frontlinie festgefressen hatte, und die Deutschen noch nicht auf dem Rückzug waren wie anderthalb Jahre später dann. Sommerwind trocknete den Schweiß der Soldaten, wenn sie mit starren Augen und Mündern aus den Gräben stiegen. Zum Sturmangriff hervorgetreten. Dem Schreien in der vordersten Linie hinterher, die Luft lädt zum Stahlbad.

Bernhard Martin hat bei Ssawostjanowo seinen Vater verloren, im vergangenen August vor 60 Jahren. Drei Generationen sind inzwischen aufgewachsen im Ort Ssawostjanowo. Wassili Sergejewtisch, der Dorfälteste, hat sie kommen und gehen sehen. Es bleibt inzwischen keiner mehr, wenn er nicht muss.

Als der Krieg im Jahre 42 durch Ssawostjanowo zog, war Wassili noch ein Kind, nicht älter als Bernhard Martin, den die Nachricht vom Heldentod des Vaters in Düsseldorf erreichte. Ein Brief lag auf dem Tisch in der Küche, daraus vorlesen wollte die Mutter nicht.

Wassili zeigt auf die Stelle, an der Bernhards Vater beigesetzt sein könnte. Auf dem Gräberfeld steht heute und über die Jahrzehnte schon ein langes, helles Holzhaus, kurz nach dem Krieg wurde es hochgezogen. Der hohe Lattenzaun, der das Haus von der sumpfigen Wiese trennt, riecht nach frischen Holz. Wer kommt auch her nach 60 Jahren und will wissen, woran sich keiner mehr in Ssawostjanowo genau erinnert, auch nicht die alte Frau auf dem morastigen Weg, unterwegs mit einem Blütenkorb am Arm. Als Wassili fragt, ruft sie den Männern zu, bleibt gesund! Und das Korb schaukelt mit ihr davon. Vielleicht will sie doch noch etwas sagen, aber da kreischt schon die Säge durch die trübe Stille. Ein junger Mann, 30 mag er sein, baut eine Banja. Noch steht kaum mehr als das Fundament, es hat den Winter schlecht überstanden. Alles in Ssawostjanowo verwittert schnell, im Herbst schon, spätestens im Winter. Woher kommt der, fragt der junge Mann und kratzt Schlamm vom Stiefel. Aus Deutschland, er sucht seinen Vater, will Wassili erklären.

Ja, da unten, hinter dem Graben, sagt der junge Mann und schlägt nun Kerben in seinen Stamm aus Fichtenholz, dort unten findet man beim Pflügen manchmal noch Knochen, wie überall in der Gegend, aber jetzt gibt es noch zuviel Schlamm. Kommt in zwei bis drei Wochen wieder, schlägt er vor, setzt die Säge wieder an, so dass keine Fragen mehr aufkommen. Der rötlich-graue Himmel über Ssawostjanowo zeigt inzwischen ganz oben ein finstres blaues Fenster, und Bernhard Martin aus Düsseldorf weiß genau, dass er in drei Wochen nicht noch einmal an den Feldern von Ssawostjanowo stehen will. Wenn sie wirklich noch Deutsche ausgraben, sind die sofort an ihren Blechmarken zu erkennen, sagt Wassili, der Sandboden erhält vieles. Da hat Pjotr Recht, und er deutet zur Banja hinüber, in zwei oder drei Wochen ...

Damals im Sommer 42, als in Hitze, Staub und Schweiß die Erde ein ums andere Mal gepflügt wurde, hatte der Sand vieles aufzunehmen in sein Mahlwerk. Besonders wenn es vorbei war, mehr als man sich denken konnte. Helm ab und kein Gebet.

Bernhard Martin ist im Zweifel, er hält ein Foto in der Hand, das ein Kamerad des Vaters noch im Krieg der Mutter nach Düsseldorf geschickt hat. Darauf ist ein viel größeres Feld mit Gräbern zu sehen. Viel größer als das, was Ssawostjanowo heute noch bieten kann. Soll sich Wassili seine Erklärungen schenken. Ein viel größeres Feld, Kreuze in Reih´ und Glied, eilig aus dünnem Birkenholz geschnitten. Aber dort, wo sich dieser Wald aus Birkenholz zu lichten beginnt, das Gebäude dahinten? Man sieht es auf dem Foto genau - das gibt es noch, also kann es nur hier gewesen, auch wenn es längst kein Grab mehr gibt. Wassili nickt, es muss hier gewesen sein, wo sonst.

Gennadijs Birkensaft

Bernhard Martin, der pensionierte Psychologe, ist der Erste aus seiner Familie, der nach dem Grab des Vaters sucht. Ob seine Schwestern einmal folgen werden, weiß er nicht. Wassili und Bernhard gehen den Weg durch Ssawostjanowo zurück. Der Fahrer des Lada, der den Deutschen von Wjasma bis Ssawostjanowo und zuletzt noch durch den Schlamm chauffiert hat, wird ungeduldig und winkt schon. Es wird Zeit, die alte Frau steht vor ihrem Häuschen und läuft den beiden nach, auch wenn sie keiner darum gebeten hat. Bernhard beeilt sich, ja, es genügt ihm. Noch ein paar Fotos von Wassili und dem Dorf für die Familie in Düsseldorf, die Alte kommt hinzu. Sie blickt in die Kamera und daran vorbei. Bevor ich abfahre, vielleicht noch etwas Geld für euch? Oder für Ssawostjanowo? Den Einhundertrubelschein wird Bernhard nicht los. Wie kann ich von dir Geld nehmen, sagt Wassili Sergejewitsch, der Dorfälteste, sehr ruhig.

Wir kürzen am besten ab über das Feld; der Weg ist zu schlammig, sagt der Fahrer und startet den Lada. Sie winken ihm nach. Noch einmal wünscht die alte Frau Gesundheit. Alles steht unter Wasser. Das Auto quält sich durch eine tiefe Fahrrinne und schaukelt wie die Alte mit ihrem Korb. Ssawostjanowo verschwindet langsam hinter einem rötlich-grauen Himmel und ward nicht mehr gesehen.

Gennadij Petrovitsch fährt seinen Lada seit 14 Jahren. Ich stamme aus Smolensk, erzählt er, lebe aber schon ein halbes Jahrhundert in Wjasma, wirklich eine Ewigkeit, solange ich denken kann. Mein Vater war vier Jahre bei euch in Deutschland, zwischen 41 und 45, er musste arbeiten, irgendwo im Westen, glaube ich, aber viel hat er nie erzählt.

Früher hat Gennadij die großen Ural-Transporter für die Kieswerke von Wjasma gefahren, jetzt lebt er auf seiner Datscha. Taxi fährt er, wenn das Geld knapp wird, das passiert nur noch selten. Auf halbem Wege kommen sie an der Datscha vorbei. Gennadij lässt Bernhard von seinem Birkensaft kosten, Birkensaft und Beerenkraut, so lernt man sich kennen.

Steckengeblieben bin ich mit dem Wagen noch nie, aber die Strecke in dieses gottverlassene Ssawostjanowo, wer kennt die schon, wer ahnt das. Man darf bei uns den April nicht unterschätzen, der Schlamm ist überall. Du hättest besser einen Jeep genommen. Die Deutschen bleiben hier in der Gegend nun einmal stecken, Gennadij lacht und trinkt und lacht, Napoleon auch schon. Keiner lernt etwas, aber so ist das.

Junge Birken zuhauf

Der Motor hat sich abgekühlt. Ab Bulgakowo führt die Fahrt wieder über Asphalt, die Chaussee entlang, die Kaluga mit Wjasma verbindet. Linker Hand treibt ein Denkmal vorbei. Wir sind am Ortsausgang von Bulgakowo. Gennadij setzt den Wagen bereitwillig zurück, Bernhard will aussteigen. Ein Ball schlägt gegen die Steinwand mit den vielen Kacheln, den Jahreszahlen und dem Stern darunter. Die Kinder meinen es nicht so, sie spielen auf dem Platz, aber verloren wirken sie schon. Die Namen der im Großen Vaterländischen »gefallenen Helden« aus der Gegend können auf vier Steinplatten nachgelesen werden. Robiniendickicht dahinter und braune Blätter vom letzten Herbst davor und der riesige Platz erst. Bernhard geht herum, jede Platte steht für ein Kriegsjahr. In der Mitte liegt der silbrig schimmernde Stern. Rußspuren erinnern daran, dass hier eine ewige Flamme gebrannt haben muss.

Die Kinder spielen weiter, rennen die Dorfstraße von Bulgakowo hinunter, die vielen Namen der Toten liegen hinter ihnen. Morgen beginnen die Frühjahrsferien, sagt Gennadij. Bernhard Martin ist es wichtig, auch den russischen Gefallenen die Ehre zu erweisen. Er steht vor dem Stern. Gennadij sitzt im Wagen und wartet und winkt nicht wie in Ssawostjanowo, als sie fast festsaßen im Schlamm. Einige Kinder schlendern zum Auto, eine Traube bildet sich. Schokolade aus Deutschland. Martin ermahnt die Großen, auch den Kleinen etwas abzugeben.

Nun endgültig die Rückfahrt nach Wjasma. Gennadij Petrovitsch hat es eilig, die Sonne liegt hinter ihrem tiefblauen Fenster und sehr tief. Überall stehen verlassene Gebäude entlang der Straße. Auf den Sowchosen gibt es große Probleme, sagt Gennadij. Sie kommen nicht nach mit der Bestellung der Felder. Denen fehlt es an Personal und Traktoren. Auf den Feldern wachsen mittendrin junge Birken zuhauf. Kleine, lichte Wälder sind das schon. Die Jugend verlässt die Region, alle gehen nach Smolensk oder Moskau und glauben, dass es sich lohnt, aber Gennadij ist skeptisch, mein Kieswerk produziert weiter, gebaut wird immer. Die Amerikaner sollen die Gruben gekauft haben und wollen jetzt bis nach Moskau liefern. Gennadij ist stolz.

Ssawostjanowo, der Mann mit der Kreissäge und der Banja, das Gräberfeld aus Birkenholz, das es nicht mehr gibt, alles liegt über eine Autostunde hinter ihnen. Am Bahnhof in Wjasma steht geschrieben, dass der nächste Zug nach Moskau erst in einigen Stunden, später am Abend, fährt. Fahrkarten werden gekauft, Bernhard lässt sich von Gennadij die Stadt zeigen, die Zeit vergeht kaum. Sie sind sehr froh, auf ein Restaurant zu treffen. Bernhard Martin denkt, in Ssawostjanowo werden wir schon die richtige Stelle gefunden haben. Er betrachtet sein Gesicht in einem der schweren Wandspiegel, die dem Lokal die Dunkelheit, nicht aber die dumpfe Traurigkeit nehmen. Beide bleiben allein, die einzigen Gäste an diesem frühen Abend in Wjasma, bevor der Zug nach Moskau geht. Gennadij hat vom Telefon am Bahnhof seine Frau angerufen. Es wird später heute, noch ein Fahrgast, also sitzt er im Restaurant am Fenster, um seinen Lada im Blick zu haben. Die beiden stoßen mit Minskoje-Wodka an und trinken auf die Gesundheit, die Frauen, das Leben. Sie hoffen, sich einmal wieder zu sehen. Es muss ja nicht zwischen Ssawostjanowo und Wjasma sein, denkt Bernhard Martin und schaut auf die Uhr. Morgen früh wird er wieder in Moskau sein und später am Tag zurückfliegen nach Deutschland.

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