Vergessene Eltern und Kinder

Corona-Ansichten In Zeiten von Corona haben es Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörige noch schwerer. Alltag und Ansichten eines Linksjugend-Mitglieds aus Hessen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Covid-19 hat Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen besonders hart getroffen. Wir sind sowieso in vielen Bereichen nicht sichtbar, aber die Krise hat uns einfach komplett unsichtbar gemacht .

Ich heiße Sarah, bin 25 Jahre alt und alleinerziehende Mutter eines schwerbehinderten Kindes. Unser Leben war vor Covid-19 nicht entspannt, aber die Krise hat uns in die schwierigste Zeit befördert, die wir als Familie je hatten. Und das möchte ich euch nun näher erklären und Bewusstsein für unsere Situation schaffen!

Mein Sohn ist nun 4 Jahre alt, Autist und hat einige Einschränkungen infolge dieser Behinderung. Im Grunde ist er auf dem Stand eines 2,5 Jährigen Kindes: Er spricht nicht, er kann sich weder an-, noch ausziehen oder Körperpflege durchführen. Normalerweise sind kleine Kinder nämlich durchaus dazu in der Lage - meines jedoch nicht. Hinzu kommt eine Störung der Impulskontrolle, selbstverletzendes Verhalten und generelle Probleme im sozialen Bereich. Insgesamt hat er dadurch einen Pflegegrad 3 bekommen und ich habe zusätzlich zu den 45 Stunden in der Kita einen Pflegeaufwand von 60 Stunden die Woche! Nun, die Woche hat 168 Stunden.. Wenn er normalerweise in der Kita ist, habe ich nur die 60 Stunden Pflegeaufwand, was schon massiv höher ist als bei anderen Kindern in seinem Alter.
Durch Covid-19 haben wir aber nun riesige Probleme bekommen: Die KiTa hat zugemacht, meine Schule ebenso und jede Unterstützung ist uns weggefallen – Therapien finden keine mehr statt und Entlastung ist Fehlanzeige.
Einem Autisten seine Routinen zu nehmen ist einfach nur schlimm, denn darauf sind sie angewiesen. In unserem Fall führte das ganze dazu, dass mein Kind stundenlang durchschrie und weinte, er weniger schlief und eine massive Rückentwicklung stattfand: Vom selbstständigen Trinken hin zu einer Babyflasche, vom vielen Laufen wieder hin zum vielen Tragen. Er schlief bestenfalls 6 Stunden am Tag und ich, wenn ich Glück hatte, kam selbst auf 4 Stunden. Ich war am Limit. Also habe ich mich zuerst an unsere Psychologin gewandt und mein Sohn bekam Medikamente - er schlief endlich wieder. Und ich auch. Die Belastung war trotzdem noch da.

Aber die Politik lässt uns alleine!
Jugendämter fahren auf Sparflamme und wir hatten keine Unterstützungsmöglichkeit.

Wir Eltern mussten also alles alleine stemmen: Therapie, Förderung, Begleitung, Pflege und dann noch Homeoffice/Schule. Verständnis gab es keines.

Als ich mich mit dem Jugendamt in Verbindung setzte, wurde ich belächelt.
Ich müsste da nun durch, ich hätte keinen systemrelevanten Beruf, ich hätte keinen Anspruch auf Entlastung. Dabei ging es nicht um irgendeine Systemrelevanz ( und danke für die Herabwertung, allein die Unterteilung in systemrelevant oder nicht ist widerlich! ), es folgten heftige Telefonate und einige Drohungen meinerseits. Ja, natürlich hätte ich aufgeben können und ihnen vertrauen, aber warum sollte ich? Es gab nämlich eine Änderung der 2. hessischen Verordnung gegen das Coronavirus und mit einem ärztlichen Attest wäre uns nun ein Notplatz sicher.
Nach knapp 5 Tagen kam der erlösende Anruf: ich bekam Recht und hatte zumindest einen Teilerfolg: Mein Kind darf zumindest wieder 6 Stunden (statt 9) in die Kita. Was das für uns bedeutet? Ich habe endlich Zeit, um die 5 Wochen Schulstoff aufzuholen und kann auch mal eine Stunde durchatmen.

Aber die Politik, sie versagt hier komplett. Alle Erfolge, die wir im letzten halben Jahr erzielt haben, sind weg. Wir fangen mit der Frühförderung bei 0 an. Das wird noch jahrelange Folgen haben. Nicht nur bei ihm, auch bei mir und allen Anderen in meiner Situation.
Man öffnet die Geschäfte, man öffnet wieder die Schulen. Aber Hilfen und Therapien liegen immer noch auf Eis. Und die vergessenen Eltern und Kinder bleiben unsichtbar, denn nicht jede Familie hat das Glück, gegen die Ämter zu gewinnen. Geschweige denn die Ressourcen, sich auf diesen Streit einzulassen.

Sarah ist 25, Alleinerziehend und macht auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur.

Dieser Beitrag ist die Meinung eines Linksjugend-Mitgliedes. In diesem Blog soll regelmäßig von Mitgliedern zu aktuellen Themen Stellung bezogen werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden