Von "ZeroCovid" zu ZeroMensch

Analyse & Kommentar: "Though this be madness, yet there's method in't"?

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Von Sebastian Chwala, Yusuf Karaaslan und Dorian Tigges

Die gesellschaftliche Debatte ist vergiftet. Während die einen der Kanzlerin Merkel „kommunistische“ Praxis vorwerfen, wird die grundsätzliche Kritik an Corona-Maßnahmen wegen "Kontaktschuld" in die Nähe von Nazismus gestellt bzw. ihm gleichgestellt. Ein einschüchternder Moralismus dominiert die Debatte. Über die Interessen echter Menschen redet kaum einer mehr. Das Einzige, was zählt, sind die Zahlen. Die Zahlen alter Menschen, die Zahlen toter Menschen, die Zahlen infizierter Menschen, die Zahlen, die Zahlen, die Zahlen. Da interessiert sich kaum einer mehr für die Leidenden, die Kranken oder gar die Hungernden. Einzig der mathematische Algorithmus definiert was wir heute noch machen oder morgen noch fühlen dürfen. Der Mensch: Eine Randnotiz, ein unsicherer Faktor, ein störendes Element. Weg damit auf den Müllhaufen der Geschichte! Wer braucht den noch? Vertrauen wir unsere Zukunft den Formeln, den Computern, den digitalen Prozessen an! Die sind auch viel rationaler, viel zukunftsfähiger, viel intelligenter als diese dreckigen "Fleischbeutel", genannt Menschen.

So oder so ähnlich klingt er, der Schlachtruf unserer Corona-Politik. Was sich im 20. Jahrhundert lediglich andeutete, die Überwindung des Menschen durch Gesellschaft, Industrie und Kultur, scheint nunmehr vor der Vollendung zu stehen. Welche Ironie - nicht die Reduktion aufs Material in den Schützengräben und Lagern des letzten Jahrhunderts, nicht die Fähigkeit zur sekundenschnellen Selbstauslöschung allen Lebens durch das Drücken des roten Knopfes und auch nicht die Nummerifizierung des Individuums in den Technokratien der Spätmoderne war es, was das Ende des Menschen einläutete. Sondern letztlich war es ein klassisch postmodernes Revival: Die Zuspitzung der frühmodernen Hygienediskurse. Unsere postheroischen Gesellschaften traf sie gänzlich unvorbereitet. Menschlichkeit und Nähe wurden zu Chiffren für Krankheit, Schmutz und Unreinheit. Und da die Helden und damit auch ihr widerständiges Potenzial schon lange ausgestorben sind, laufen wir alle Gefahr bald das menschliche vollends zu vergessen. Da scheint Goethes Satz "Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd" aus einer anderen, besseren Zeit zu stammen.

Dabei ist die geistig-leibliche Auseinandersetzung mit Menschen das, was Gemeinschaft und Zusammenleben ausmacht. Doch diese wird erschwert durch die digitale Kommunikation, die es kaum mehr möglich macht eine ehrliche und offene Debatte zu führen. Das völlige Fehlen kollektiver Zusammenkünfte kommt verschärfend hinzu. Dabei gäbe es genug Anlässe zu hinterfragen, wieso das fehlende Vertrauen in staatlichen Institutionen strukturell bedingt und demnach kein Einzelfall ist. Und besonders zu fragen ist, wieso auf der linken Seite jeglicher Gesellschafts-, Wissenschafts-, sowie Solidaritätsbegriff affirmativ, also systemstützend, geworden zu sein scheint. Unter diesen Bedingungen gestaltet sich eine ehrliche und politische (statt moralische) Auseinandersetzung äußerst schwierig.

„Schwurbler“ ist bereits der, der was anderes sagt als Drosten

Der Gesundheitsminister Jens Spahn hat uns systematisch belogen. Beständig tritt er weiter in neue Fettnäpfchen sowohl auf Pressekonferenzen als auch in Mitteilungen aus seiner 4 Mio. Euro teuren Villa (auch „Home-Office“ genannt). Im Herbst versicherte er zuletzt noch aus Infektionsschutzgründen „niemals wieder“ flächendeckend Läden dicht zu machen, was sich kurze Zeit später als Lüge herausgestellt hat. Doch auch am 14. März 2020 warnte das Gesundheitsministerium vor kursierenden „Fake-News“:

„Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit/die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“ [1].

Es dauerte nur wenige Tage bevor diese „Fake-News“ mediale Wirklichkeit wurden. Was öffentlich deklarierte Verschwörungstheorie war, ist nun seit Beginn der Pandemie Realität. Dieser Jens Spahn war auch der Erste, der das Virus mit der Grippe verglich und auch ständig seine Meinung über Masken änderte. Quasi eine staatlich verordnete Verwirrungspolitik.

Neben diesen Verirrungen, die massiv zum Vertrauensverlust der herrschenden Politik beigetragen haben, darf die soziale Lage der Menschen nicht unberücksichtigt bleiben. Die Sicherheit im Alltag und eine sichere Lebensplanung ist durch Prekarisierung und den Umgang mit "Covid-19" noch schwieriger geworden. Schließende Schwimmbäder, langsame Justiz, stillgelegte Bahnstrecken sind Beispiele für den Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsvorsorge. Besonders in der Pandemie wurde deutlich, wie die Schwächen des neoliberal zusammengesparten Gesundheitssektors nunmehr durch "individuelle Verantwortung" aufgefangen werden sollen. Dabei werden dem Individuum (und den Familien) die Lasten der "kollektiven Unveratwortlichkeit" des Sozialstaatsabbaus, inklusive moralisierender Schuldrethorik, aufgebürdet. Nicht die politische Steuerung in pädagogisch sinnvolle Kleingruppen in Bildungszusammenhängen, eine höhere Taktung von Bus und Bahn etc., sondern die individuelle "Einhaltung der Maßnahmen" sind die neuen gesellschaftlichen Normierungen von Progressivität. Dabei ist die moralische Bewertung des angepassten Menschen darauf zurückzuführen wie viele soziale Kontakte dieser pflegt, ob Masken auch draußen beim Spazieren getragen werden – unabhängig von ihrem medizinischen Sinn oder Unsinn - das alles schaukelt sich zu einem Moralwettbewerb hoch, der von neoliberalen Dogmen durchsiecht ist und gipfelt in der Wette "Wer bleibt am längsten allein". Eine Alternative dazu sei nicht möglich, wie uns die Expertokratie aus wenigen ausgewählten "Wissenschaftler*innen" tagtäglich anhand ihrer "Inzidenzzahlen" erinnert.

Ohnmacht und Alternativlosigkeit sind die „super-spreader“ der Inhumanität

Die uns allenthalben eingeimpfte Alternativlosigkeit im neoliberalen Kapitalismus erzeugt systematisch eine Handlungsunfähigkeit der Individuen, die sich den Sachzwängen beugen müssten. Bewusste politische Maßnahmen verstecken sich dahinter. Beispielsweise ist es eine bewusste politische Maßnahme der WHO gerade mal ein Budget zuzusprechen, was der Berliner Charité entspricht. Den durch die Unterfinanzierung entstehenden Bedarf decken Reiche wie Bill Gates in „Wohltätigkeitsorganisationen“, die durch Impfkampagnen bisher Krankheiten heilten, die häufig durch sauberes Trinkwasser, einfachste Hygiene oder ausgewogene Ernährung an der Wurzel gepackt worden wären. Damit wären uns viele Tote – auch bereits vor der Pandemie [2] – erspart geblieben. Dass diese Wohltätigkeitsorganisationen durch ihre finanziellen Ressourcen überhaupt entscheiden dürfen, welche Krankheiten geheilt werden und auch auf welcher Art, sowie welche Krankheiten nicht geheilt werden – das alleine ist ein absoluter Skandal. Dieser unzivilisierte Umgang mit Krankheiten entspricht in ihrer Gänze nicht dem Grundgedanken der WHO. Diese nutzt einen weiten Gesundheitsbegriff, der nicht nur die Abwesenheit der Krankheit meint, wie ihre Grundsatzerklärung von Alma-Ata deutlich macht und an den es auch an heutigen Tagen sowie Jahren zu erinnern gilt:

„Die Konferenz bekräftigt mit Nachdruck, dass Gesundheit, die der Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen ist, ein grundlegendes Menschenrecht darstellt und dass das Erreichen eines möglichst guten Gesundheitszustands ein äußerst wichtiges weltweites soziales Ziel ist, dessen Verwirklichung Anstrengungen nicht nur der Gesundheitspolitik, sondern auch vieler anderer sozialer und ökonomischer Bereiche erfordert“ [3].

„Kolleteralschäden“ – Ein Krieg gegen den Virus?

Mit dem Begriff der „Kollateralschäden“ wurden wir bislang vor allem bei Drohnenangriffen in Afghanistan konfrontiert. Nunmehr reiht er sich in der Sprache des „Lockdowns“ in die kriegerische Rhetorik des französischen Staatspräsidenten Macron ein. Diese Rede von "unvermeidlichen Nebenwirkungen" geht in Kriegseinsätzen einher mit einer Rechtfertigung von Toten und Verletzten. Das kommt auch dem blinden Fleck des Gesundheitsbegriff näher, der uns aktuell überall präsentiert wird.

Wenn wir nur zwischen der Krankheit (ausgehend von der Infektion) „Positiv“ sowie „negativ“ entscheiden, blenden wir vollkommen das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden aus. Dies ist höchst problematisch und reduziert den Menschen auf einen „Homo Hygienicus“ [4].

Der Mensch als soziales Wesen wird in der Pandemie negiert oder zumindest kleingeredet. Die menschliche Persönlichkeitsentwicklung, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe als Voraussetzung dafür, sowie grundlegende Rechte auf von Wohnen, Bildung und Menschenwürde werden dabei in die Waagschale geworfen. Dass diese Grundrechte auch in der Pandemie gelten, besonders für Benachteiligte, ist das Wesens jeder Verfassung und darf nicht zeitlich, örtlich oder inhaltlich eingeschränkt bleiben. Anderenfalls wären sie das Papier nicht wert, auf denen die Verfassungen geschrieben wären. Offensichtlich ist dies der jedoch Fall. Der autoritäre Verordnungsstaat, in dem wir seit nunmehr einem Jahr leben, hat insofern auch mehr mit dem Bonapartismus des 19. als mit dem bürgerlichen Verfassungsstaat des letzten Jahrhunderts zu tun. Damit hat aber auch der im Grundgesetz geronnene Stand der Klassenkämpfe [5] seine Substanz verloren und fast alle in den letzten 150 Jahren durch die Arbeiter*innenklasse erkämpften Rechte stehen wieder zu Disposition. Derartige Versuche sind nicht neu. Schon 1965 stellte Wolfgang Abendroth fest:

"Wenn [...] Art. 90 des Grundgesetzes dahin gehend ergänzt werden soll, daß schon im Falle eines nur innenpolitischen Konfliktes oder einer Naturkatastrophe [...] die Versammlungsfreiheit [...] und die Freizügigkeit [...] 'beschränkt', also praktisch aufgehoben werden können, so zeigt sich, daß jede Auflockerung dieser Überlegung der Väter des Grundgesetzes dahin drängt, nicht nur die liberalen Freiheitsrechte der einzelnen Bundesbürger, sondern auch die Grundlagen der Freiheit der demokratischen Willensbildung des Bundesvolkes infrage zu stellen." [6]

Zur Verteidigung dieser Rechte scheint die Linke aktuell jedoch weder fähig noch bereit zu sein. Dabei waren es die Kämpfe der Arbeiterbewegung, die Gesundheit als Krankenversicherungsschutz, gesundes Wohnen, bessere und gesündere Arbeitsbedingungen uvm. erst erkämpft und erstritten haben. Diese Einschränkungen im Kampf hinzunehmen, naht einer Selbstkastration.

Alle einsperren? Über das Vorbild von Gefängnissen in Zeiten der Pandemie

Aber noch einmal zurück zur Sprache des Lockdowns. Jakob Augstein verwies in diesem Zusammenhang berechtigterweise auch darauf, dass die Sprache der "Corona-Bekämpfung" sehr große Parallelen zu der des Strafvollzuges aufweist. Wenn die Herrschenden heute die Bevölkerung zur Bekämpfung eines (scheinbar) von Außen kommenden Übels in den Kategorien und mit den Methoden des Justizvollzuges behandeln, so muss nach mehreren Dingen gefragt werden.

Woher kommt eigentlich der Gedanke und die Anmaßung des Staates mit der Isolierung von Individuen? Früher waren es nur wenige, heute sind es wir alle, um der gesamten Gesellschaft helfen zu können? Der frühmoderne Staat kannte solche Maßnahmen nur in sehr eingeschränktem, zeitlich stark begrenztem, Maße. Erst im 19. Jahrhundert gewann die Idee große, wohlgemerkt "unproduktive", Teile der Bevölkerung einfach wegzuschließen, auch im Kontext biologistischer Debatten um Vererblichkeit von Kriminalität und Wahnsinn, an Popularität. Dienten diese Maßnahmen, etwa in den sogenannten "Arbeitshäusern", zuerst auch besonders der Disziplinierung, wurde anschließend zunehmend dazu übergegangen "unintegrierbare" Individuen dauerhaft wegzusperren. Die "Irrenhäuser" des 19. Jahrhunderts sind hier nur ein erstes großes Beispiel. Und es ist nicht weiter überraschend, dass, mit der zunehmend strengeren Disziplin der Industriegesellschaft, die physische Vernichtung der "unnützen Esser" (Euthanasie) in vielen Staaten nur eine logische Fortsetzung dessen darstellte. Wurde ein Teil weggesperrt oder vernichtet, so musste der andere Teil der Gesellschaft jedoch immer noch diszipliniert werden, um sich in die Arbeitsgesellschaft einzufügen. Dabei galten vielen Staatsmännern dieser Zeit Fabrik und Armee als konstitutive Elemente bei der Herstellung gesellschaftlicher Disziplin, so galt etwa die preußische Armee auch als "Schule der Nation".

Das heißt also, dass die Wegsperrung und deren Androhung in der Vergangenheit ein wichtiges Instrument war, um gesellschaftliche (Arbeits-)Disziplin herzustellen. Heute jedoch, wo die Einsperrung universell geworden ist, verliert sie auch ihren disziplinierenden Charakter. An ihrer Stelle tritt, wie in vormodernen Gesellschaften, wieder Moral, Inquisition und das Mittel der Exkommunikation. Nur war in diesen Gesellschaften die Möglichkeit moralische Urteile zu fällen streng reguliert und nur wenigen Menschen zugänglich. Heute kann sich dagegen jeder, der ausreichenden Zugang zu Medien und ein entsprechendes soziales Kapital verfügt, zum Großinquisitor aufschwingen. Das Ergebnis ist eine universelle Hexenjagd. Die Gesellschaft wird zunehmend von Angst dominiert, die Angst vor Brandmarkung und sozialem Ausschluss. Und das alles funktioniert ganz ohne die Intervention staatlicher Akteure, die ihre Hände in Unschuld waschen können. Die Methoden autoritärer Regime der Vergangenheit erscheinen harmlos dagegen, war diese doch immer auf Handlanger und bezahlte Schläger angewiesen, so ist es heute möglich auf dem Wege der moralischen Empörung große Teile der Bevölkerung sozial zu disziplinieren, ganz ohne finanzielle Mittel einzusetzen.

In der Vergangenheit hat die (insb. neue) Linke nicht nur den Strafvollzug an sich bzw. seine Form, sondern generell derartige Methoden der Disziplinierung bekämpft, so etwa in den Auseinandersetzungen um die Humanisierung des Strafvollzugs und in der Pychatriebewegung. Heute jedoch gibt es scheinbar immer mehr Akteure die solcherlei Disziplinierung unter dem Schlagwort der "Solidarität" befürworten oder gar vorantreiben. Sie scheint dabei das zutiefst inhumane Menschenbild des Protestantismus anzutreiben. In dessen Augen nur das gefügige und arbeitsame Individuum Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe hat. Besonders deutlich wird diese Logik heute beim Umgang mit Alten z.B. in Pflegeheimen in Pandemiezeiten. Neu ist sie jedoch nicht. So war sie bereits in der Rauchverbotsdebatte am Beginn des Jahrhunderts maßgeblich. [7]

Manipulation als Mittel zur Erzwingung von Konformität

Freilich hat die unterschwellige Zustimmung vieler linker Menschen auch mit dem öffentlichen Druck zu tun, der seit einem Jahr durch Politik und die sich konform verhaltenden Medien aufgebaut werden. Der Zwang zur Anpassung liegt in der sozialen Dimension der menschlichen Koexistenz. Das aufgebaute Bild der "Volksgemeinschaft" gegen das Virus entlädt sich allen Interessenkonflikten, die diese "Volksgemeinschaft" objektiv eigentlich hat – und stellt nicht mehr in Frage, dass diese Art der Gemeinschaft in dieser Form eigentlich überhaupt gar nicht existiert.

Jenseits der durch Öffentlichkeitsarbeit gesteuerten Angstkampagnen des März 2020 in der absurd hohe Todeszahlen in die Welt gesetzt wurden und bewusst Kindern vermittelt werden sollte, dass Angehörige qualvoll sterben werden, wenn die Anordnungen von Oben nicht rest- und bedingungslos unterstützt würden. Dieses Quasiverbot öffentlicher Kritik führte dazu, dass viele kritische Menschen fürchten mussten und müssen zu gesellschaftlichen Außenseitern zu werden, sollten sie allzu lautstark Wiederworte zur herrschenden Politik geben. Die Schuld für Tote wird so auf das individuelle Verhalten eines Kindes, aber nicht mehr die Verantwortlichen für ein privatisiertes Gesundheitssystem und Bettenabbau, abgewälzt.

Doch wie ist es in solch einer Lage noch möglich Verletzungen der Menschenwürde und Grenzüberschreitungen durch die Politik offen zu benennen?

Walter Moßmann, Liedermacher aus dem Umfeld der Antiatomkraftbewegung und der späteren Grünen, drückte dieses Problem schon in den 1970er Jahren folgendermaßen aus:

"Fragt sich bloß, was in den Köpfen

Da noch frei ist, fragt sich bloß –

Wenn du mal die Wahrheit ausspuckst

Bist du schon die Arbeit los!

Keine Arbeit, keine Kohle

Licht aus, Kohldampf, Bude kalt

Also lieber halbe Wahrheit –

And're Hälfte wird bezahlt!

Ach, gespalten ist die Zunge

Ach, verfinstert ist der Sinn –

Halbe Lügen kriegen Junge

Halbe Wahrheit schmilzt dahin!

Und ich bleibe dabei:

Die Gedanken sind nicht frei!" [8]

Soziale Konformität in (linken) Parteien und Medien stärkt den Herrschenden den Rücken

Längst sind wir in Deutschland an einem Punkt angekommen, wo man sich durchaus in die Zeit der paranoiden Kommunistenjagd eines McCarthy zurückerinnert fühlt. Dass viele etablierten Medien in ihrer Rolle als Kritiker*innen der offiziellen und desaströsen Regierungspolitik ausfallen, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass besonders eine ökonomische, aber auch kulturelle Verbürgerlichung linker Medienmacher stattgefunden hat. Längst ballt man sich in speziellen urbanen Stadtvierteln, wo man nur noch seinesgleichen trifft und sich in gegenseitig in seinem Misstrauen gegen Menschen aus gesellschaftlich weiter unten stehenden sozialen Gruppen bestätigt.

Jenes vielleicht nicht ganz so aufgeklärte und polyglotte „Volk“ wird durchgängig rechtes bis faschistoides Denken unterstellt, wobei in erster Linie nicht auf die ökonomische Dimension, sondern auf Wertehaltungen verwiesen wird. Dabei wird ein wesentlicher Teil des Erfolges rechter Agitation bei nicht akademischen Gruppen konsequent übersehen. Schließlich stammt ein Großteil deutscher Journalist*innen, aber auch politischer Aktivist*innen, aus Akademiker- und Beamtenhaushalten. Der Bedeutungsverlust, den die Leitmedien aller politischen Lager aufgrund ihrer äußerst homogenen sozialen Zusammensetzung (insbesondere) der Medien-Redaktionen erfahren, da deren Lebenswelt, mit jener da draußen, so offen kollidiert, führt jetzt in der sogenannten "Covid-19-Krise" zu einem noch offeneren Angriff der Etablierten gegen die "gefährlichen und demokratiefeindlichen Alternativmedien“. Bewegungen, die sich kritisch mit der Regierungspolitik auseinandersetzten, deren Akteure aber nicht in die relevanten Diskussionszirkel eingebunden sind, fallen ebenso in ihr Beuteschema.

Gerade Menschen mit geringen Bildungstiteln suchen den Weg zu politischen Organisationen erfahrungsgemäß mittlerweile nicht bzw. weniger - in die des Journalismus haben sie noch weniger Zugang. Doch wo kaum noch Austausch mit der Welt "da draußen" besteht und Politik vor allem als ideentheoretisches und strategisches Feld wahrgenommen wird, deformiert sie zu kritischer Kritik.

Nicht die konkrete Welt wird in den Mittelpunkt gestellt, sondern diese muss sich durchweg an unbeweglichen Theoriekonzepten messen lassen. Diese sind Bewertungs- und Handlungsgrundlage für die politischen Akteure geworden. Freilich werden so quasi alle gesellschaftlichen Bewegungen durch und für die modernen Linke gleich als rechts abgestempelt, da diese geistige Reife und inhaltliche Kohärenz im unübersichtlichen Ringen gegen unmenschliche staatliche Politik noch nicht besitzen oder gar nicht besitzen können. Diese muss sich erst entwickeln und dabei auch praktische und sprachliche Formen entwickeln, die alten, zu recht in der politischen Linken hochgehaltenen Bewegungen, notwendig entwachsen muss.

Und selbst wenn der Weg nach linkem Protest gesucht werden würde - wo gibt es momentan die Demos gegen die aktuelle Corona-Politik von links - wo ist die linke Opposition?

Intellektuelle Vergeistigung verkennt klassenpolitischen Zündstoff

Die französische Zeitschrift Frustration (zu deutsch: Frust) zitierte jüngst den populären französischen Schriftsteller Edouard Louis mit den Worten, dass Politik für die Arbeiter*innenklasse eine harte Realität sei und nicht, wie für das Bürgertum, eine Frage der Haltung und Moral. Wie sinnvoll scheint dieser Gedanke, wenn man an den Aufruf „ZeroCovid“ denkt, der ja auch über Zuspruch aus linken Kreisen verfügt.

So führt Adamczak in der Kampagnenzeitung "ZeroCovid" richtigerweise aus, es sei zwar eine „Fantasie, das Problem technologisch in den Griff zu bekommen“ und es insofern „wichtig, nicht nur auf medizinische, technische, sondern auch auf soziale, politische Lösungen zu setzen.“ [9]. Dass diesem dann jedoch die Forderung nach flächendeckender Umsetzung einer der repressivsten Sozialtechnologien überhaupt folgt, ergibt sich aus einer, freilich sehr holzschnittartigen, Einschätzung des politischen Feldes:

„Dass die extreme Rechte kranke oder schwache Menschen sterben lassen will, ist nicht überraschend. Wenn die liberale Mitte jedoch beschließt, zwischen Schutz des Lebens und Schutz der nationalen Wirtschaftsleistung abzuwägen und letzterer dabei den Vorrang einräumt, dann scheint Pandemiebekämpfung zu einer linken Aufgabe zu werden.“ [10]

Hier wird deutlich, dass ZeroCovid zwei wesentliche Ansätze zu Grunde liegen. Erstens ist dies ein recht verquerer Antikapitalismus, der Wirtschaft als etwas außerhalb der Gesellschaft stehendes, den Menschen rein äußerlich dominierendes und zugleich monolithisches Phänomen begreift. Wenn man also immer nur das Gegenteil dessen fordert, was der BDI sagt, so ist man auch schon auf der richtigen, progressiven Seite der Geschichte. Vergessen wird dabei, neben der Einkommensfunktion von Erwerbsarbeit und der durchaus widersprüchlichen Fraktionsbildung der wirtschaftlichen Akteure hinsichtlich Covid-19, der psychologische Wert von Arbeit in unserer heutigen Gesellschaft, sowie, vielleicht am entscheidendsten, die konstitutive Funktion von Arbeit in der Emanzipation des Menschen, wie dies Hegel in seinem Dilemma von "Herr und Knecht" und daran anschließend Marx ausgeführt und entwickelt haben. Die Bearbeitung der Welt und ihre Aneignung oder einfach kurz "Arbeit", bildet dementsprechend die elementare Grundlage für Selbstbewusstsein und Emanzipation von fremder Unterdrückung. Von einem solchen Arbeitsbegriff, welcher auch seine gesellschaftliche Funktion ernst nimmt, scheint man sich in der deutschen Linken jedoch längst verabschiedet zu haben. Dominanter erscheint jener mittelalterliche Arbeitsbegriff, welcher sie vor allem als Leid denkt.

Die heilige Familie gegen die "Bösen"

Konsequenterweise kann also auch von der als „solidarische Pause“ verbrämten Abschaltung, wenn nicht sogar Zerstörung der Gesellschaft, als etwas beglückendes gedacht werden. Die Menschen werden von einer ([unter-]drückenden) Last, der Arbeit, befreit und helfen sich gleichzeitig alle gegenseitig damit. Dass damit aber das arbeitende Individuum zum unselbstständigen Bittsteller herabgewürdigt wird, dem mit Hegel nunmehr auch die Möglichkeiten zur Selbstemanzipation abgeht, gerät völlig aus dem Blick.

Zweitens liegt diesem Denken ein Moralismus zu Grunde, der das "Gute" immer als Gegenteil dessen sieht, was die "Bösen" sagen. Es handelt sich um eine unselbstständige "Haltung" die sich immer nur als Negation der bzw. des "Bösen" denken kann. Eigenständige Positionierungen haben hier keinen Platz. Und der Böse ist, wie könnte es in Deutschland anders sein, immer der Nazi. Wer freilich Nazi ist und wer einer der Guten, das definieren heute immer noch Leitmedien und herrschende Politik über ihre gesellschaftliche Diskursmacht. Mit einem solchen plumpen Moralismus, dies liegt auf der Hand, macht man sich zur reinen Marionette des herrschenden Blocks. Statt einer eigenständigen Analyse der Verhältnisse (und auch einer selbstbewussten und selbstständigen Definition dessen, was heute links ist) als Grundlage für politisches Handeln, tritt die moralische Empörung und Anklage. Wir brauchen nicht bis zu Marx zurückzugehen, um zu erkennen, dass die herrschende Moral, auf der diese Art der Politik beruht, doch immer nur die Moral der Herrschenden ist. Dazu kommt noch, dass sie sich bei linken Aktivist*innen allzu gerne mit Formen pietistischer Selbstdisziplinierung, über Sprach- bis zu Verhaltenskodizes, mischt. Folglich basiert ZeroCovid, und diese Tendenz sehen wir in der gesamten Linken mit zunehmender Besorgnis seit Jahren im Ansteigen, nicht nur um einen affirmativen, sondern auch um einen anti-emanzipatorischen - sprich einen rechts-autoritären Ansatz. Vertreten wird dieser von selbsternannten Linken, die in orwellscher Weise die Begriffe verdrehen, wenn sie von Demokratie reden, aber Disziplin und Kontrolle meinen, die die Würde des Lebens missachten, wenn sie die Notwenigkeit und Bedeutung des Todes als zynisch hinstellen und die uns autoritäre Regime als Vorbilder für die Zukunft preisen.

Nebenbei gesagt ist jedoch das gestörte Verhältnis zum Tod kein Alleinstellungsmerkmal der Linken, sondern zieht sich durch unsere ganze post-heroische Gesellschaft.

Bildung als Rettung aus der Misere? - Fehlanzeige!

Bei der Forderung nach einem sofortigen und möglichst totalen "Lockdown" trifft es die Menschen aus der "Unterklasse" am stärksten. Diese verfügen nicht, wie die wichtigsten Unterstützer*innen solcher Aufrufe, über die entsprechenden ökonomischen und sozialen Absicherung, um einen solchen dauerhaften Ausnahmezustand zu überstehen. Als Beispiel sei nur darauf verwiesen, welchen sozialen Ausschluss die dauerhafte Schließung der Schulen gerade für Kinder aus migrantischen oder "Unterschichts"-Familien zur Folge hat, die über wenig (oder gar keine) Unterstützung bei der Bewältigung der sogenannten "Online-Lehre" verfügen. Allein die Begrifflichkeit "Online-Lehre" suggeriert, dass verstehendes Lernen gemeinsam über Chat-Nachrichten, Hausaufgaben und unechte Diskussionen durch das Bildschirmfenster funktionieren würde. Da Bildung aus einem dynamischen Prozess zwischen den lehrenden und lernenden Personen heraus entsteht, kann es so etwas wie "Online-Lehre" gar nicht geben. Das Prinzip des verstehenden Lernens im Dialog wird umgemodelt in das selbstständige Lernen von PDFs, Google-Wissen und mittlerweile auch über "Lernsoftware". Letztere prüfen das auswendig-gelernte Wissen und rechnen über einen Algorithmus aus bei welchen Lerneinheiten Nachholbedarf besteht. Zusammenhänge und Kontexte sind nicht wichtig, sondern einzig auswendig gelerntes Faktenwissen zählt. Einen Überblick über Gesamtzusammenhänge zu erhalten wird so nahezu unmöglich - Lernen wird zur bloßen synaptischen Reaktion des Vorgegebenen - und leitet damit zu Unmündigkeit und Unterordnung an. Es ist, als würde man Kants Aufklärungsbegriff über eine „Multiple-Choice-Klausur“ (Ankreuztest) abfragen und damit durch eine falsche methodische Aufarbeitung bereits den Inhalt der Lehre zerstören. Eigenständiges Denken, Hinterfragen und ggf. die Verweigerung sind nicht vorgesehen.

Sogar unter Studierenden ist das aktuell laufende Selbststudium äußerst sozial selektiv. Informelle Lerngruppen, Gruppenarbeiten oder gemeinschaftliche Aufarbeitungen innerhalb des Seminars sind noch seltener vorgesehen. So müssen viele der Aufgaben individuell gemeistert werden. Aber um im Selbststudium Informationen herauszukriegen, ist es wichtig sich in den Epochen auszukennen, Literaturkenntnisse mitzubringen und zu Wissen mit welchen Begrifflichkeiten man überhaupt sucht - was Kinder aus ärmeren Familien seltener aus Elternhäusern beigebracht bekommen - denn dafür wären unsere Bildungsinstitutionen eigentlich da, die sich nun mal momentan auch im "Lockdown" befinden. Das führt zur stärkeren Selektion: Schlau wird schlauer - dumm bleibt dumm, "da helfen keine Pillen".

Diese Tendenz hat ihren Ursprung in der Bildungspolitik, die sich klar auf verwertbares Wissen ausgerichtet hat. Während zu Prüfungen ganze Messehallen bundesweit angemietet werden, um die formale Qualifikation sicherzustellen, wird Bildung in universitären und schulischem Kontext auf eine reine Betreuungs- bzw. Qualifikationseinrichtung degradiert. Netflix-Serien zwischen Videoaufnahmen der Vorlesungen unterscheiden sich ausschließlich darin, ob man im Anschluss die Serie bewertet oder selbst bewertet wird. Bildung wird mehr und mehr zum Konsumgut, das nur angeboten und angeeignet wird, um dann in Prüfungen mess- und verwertbar abgefragt werden zu können. Demgegenüber stand mal ein Begriff von Bildung als eine soziale Interaktion, als aktive, geistig-leibliche Auseinandersetzung mit und an Gegenständen aus Natur (mit allen Sinnen), Geschichte, Gesellschaft und Kultur. Gerade in Zeiten, wo die vermeintlich "neutrale" Wissenschaft hoch gehalten wird, befindet sich die Universität, das Herz der Wissenschaften, ebenso im „Lockdown“.

Daran gemessen scheint also Aufklärung, wissenschaftlicher Streit und die Vernunft nicht allzu „systemrelevant“ zu sein - umso heuchlerischer ist, dass gleichzeitig Wissenschaftler*Innen prominent im Fernsehen hochgehalten werden. Doch eine linke Wissenschaftspolitik geht über das Humboldt‘sche Bildungsideal hinaus und versucht in den Universitäten an aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu forschen und mithilfe der Forschung auch explizit politisch einzugreifen. Fragen gäbe es viele: Soziale Ungleichheiten, Krieg & Frieden, Klimawandel, Geschlechtergerechtigkeit - auch der soziologische, psychologische, medizinische und insgesamt auch der interdisziplinäre Umgang mit der Pandemie. Um zu diesen Fragen gemeinsam zu forschen, müssten die Universitäten und Bildungseinrichtungen in sicherer Präsenz bzw. Hybrid öffnen, um Diskussionen und Räume zu kreieren - Lehre und Forschung müssten zusammengehen. Themensemester wie z.B. „Soziale Perspektiven aus der Corona-Krise“ müssten überfachlich gemeinsam studiert und gleichzeitig auch geforscht werden. Aber scheinbar verstehen Linke heute unter Wissenschaft nur noch die unkritische Annahme von immer denselben Floskeln aus Podcasts wie von Drosten & Co. Wissenschaft unter Linken war 1968 mal mehr als die alltägliche Verkündung der "Inzidenzzahlen" und dem Mantra des bedingungslosen Zuhausebleibens bis die Herrschenden die Krise lösen.

Deshalb sind große Teile der Linken auch für die Schließung der Universitäten, statt ihre Öffnung und linke Bearbeitung als Krisenlösungschance zu begreifen.

Der Scheuklappen-Internationalismus

In vielen armen Ländern ist oft der ersatzlose Wegfall des Schulunterrichts (für 463 Mio. Kinder laut UNICEF) nicht nur ein bildungspolitisches Desaster, sondern auch sozialpolitisch verheerend. So teilte die UNICEF bereits während des ersten "Lockdowns" im vergangenen Frühjahr mit, dass 370 Millionen Kinder auch um ihre Schulspeisungen gebracht wurden. Zudem wurden wirklich lebenswichtige Impfkampagnen gegen Masern und Kinderlähmung in Staaten wie Afghanistan und Pakistan gestoppt. Durch die Kontaktsperren wurden in vielen Staaten auch kaum noch notwendige Medikamente an Kleinkinder ausgeben. Und die Corona-Politik hat, Schätzungen der WHO nach, allein knapp 500.000 zusätzliche Tuberkulosetote im letzten Jahr nach sich gezogen [11]. In den Ländern des südlichen Afrikas drohen aufgrund von Mangelernährung mehrere zehntausende Kinder zusätzlich zu sterben. Es ist ebenso naiv zu glauben, der Staat agiere gegen das Kapital und schütze die Arbeiter*innen. Tatsächlich haben viele Staaten, auch die BRD, die angeblich notwendige rigorose Eindämmung von "Covid-19" zu einem rigorosen Ausbau der gesellschaftlichen Überwachungs- und Repressionsstrukturen genutzt, die gezielt gegen soziale Bewegungen vorgehen. Erwähnt seien hier nur exemplarisch die Pläne der griechischen Regierung eine Universitätspolizei einzurichten oder die Pläne in Frankreich die Polizei mit neuen noch mächtigeren Befugnissen auszustatten und ein Film-Verbot von Augen-ausschießenden Polizist*innen im Einsatz zu verhängen, während gleichzeitig neue rassistische Gesetzespakte gegen muslimische Menschen verabschiedet werden. Jüngst gab es auch schwere Auseinandersetzungen um ähnliche Pläne in Großbritannien. Die Aktionen der Staatsregierungen gehen eindeutig in die Richtung einer massiven Stärkung der Exekutive auf Kosten der Bürgerrechte. Der Rechtsstaat wird wieder zum Obrigkeitsstaat. Dieser autoritäre Staatsumbau dient dem dem Imperialismus weltweit - auch in Deutschland. Für eine grundlegenderes Verständnis des Autoritarismus ist allerdings eine Ahnung (eine Analyse ist wohl zu viel erwartet) des heutigen Kapitalismus notwendig. Es ist aber auch klar herauszustellen, dass der autoritäre Umgang mit Restriktionen, Bußgeldern, Verboten und Verhaftungen im Geiste des Kulturpessimismus und der Menschenfeindlichkeit steht - sowohl in Taiwan, Australien, Frankreich oder auch in Deutschland. Der aufgeklärte, emanzipatorische und an Wissenschaft und Bildung appellierende Umgang, der Streit und Pluralität zulässt, diskutiert - dieser wird im Schein eines SPD-Gesundheitsökonomen autoritär gewendet. Die Frage, wie wir künftig mit Pandemien umgehen werden, mit Mutationen, wo noch kein "Allheilmittel" des Impfstoffes verfügbar ist, kann nicht auf restriktiven „Lockdowns“ bis zur Entwicklung eines weiteren Impfstoffes und dessen Produktion verkürzt gedacht werden. Denn die "Ausrottung" eines Krankheitserregers bildet die absolute Ausnahme der Menschheitsgeschichte und das unter ganz anderen Voraussetzungen als bei Coronaviren.

Digitaler Kapitalismus als "neue Normalität"

Zurzeit erleben wir Ansätze einer Umstrukturierung des Kapitalismus: Neue digital getriebene Kapitalfraktionen erobern die Märkte und verdrängen alte Unternehmer*innen. Eine Kapitalismus-Analyse (oder gar eine Ökonomische) dazu fehlt der Linken momentan gänzlich.

Hier geht die Aushöhlung von Freiheitsrechten Hand in Hand mit dem Ausbau staatlicher Überwachung. So sind es privaten Unternehmen, welche im großen Stil Software und Apps liefern, die Bewegungsprofile erstellen teilweise sogar die Daten aus den Adressverzeichnissen von Handys abgreifen. Zudem dient der Vorwand der Pandemiebekämpfung Unternehmen auch dazu die eigenen Mitarbeiter*innen noch intensiver zu überwachen als bisher schon. Die entsprechenden Softwarelösungen, um die im "homeoffice" vereinzelt arbeitenden Beschäftigten zu entsprechender Performance anzutreiben, werden durchaus nachgefragt.

Überhaupt stellt sich die Frage, inwieweit arbeitsrechtliche Standards in der "Heimarbeit" eingehalten werden können. So geht mit der politisch forcierten Ausweitung des sogenannten "homeoffice", entgegen der bisher gebräuchlichen Formen der Telearbeit, auch ein massiver Angriff auf Arbeitsbedingungen und Arbeitsschutz einher, angefangen bei der kaum mehr gewährleisteten "ergonomischen Gestaltung des Arbeitsplatzes" bis hin zur permanenten (digitalen) Erreich- und Überwachbarkeit der Arbeitenden und einer damit einher gehenden Entgrenzung des Arbeitstages etc. Es sollte also auf der Hand liegen, dass die "Digitalisierung" ein Feld des Klassenkampfs ist, in welchem die Entrechtung der Arbeitenden momentan in enormer Geschwindigkeit von statten geht und das letztlich eine substanzielle Bedrohung für das gesamte Arbeitsrecht darstellt.

Die "Digitalisierung" lässt allerdings auch die Unternehmen, die ohnehin schon hauptsächlich im Onlinesektor tätig sind, weiter wachsen. Dies führt zur Verödung der Innenstädte, da sich kleine Ladeninhaber*innen mit Öffnungsverbot kaum mehr gegen Konkurrenz dieser Großanbieter wehren können. Und es geht auch auf Kosten der Beschäftigen außerhalb des "homeoffice", die ohnehin schon kaum über realen Arbeitsschutz verfügen und zudem häufig schlecht entlohnt werden. Die Neustrukturierung des Gegenwartskapitalismus durch das Krisenmanagement der "Covid-19-Krise", lässt einen neuerlichen Auftrieb für die radikale Rechte befürchten. Für die Arbeiter*innenklasse ist durch „Shutdowns“ der Volkswirtschaft nicht viel zu gewinnen. Dass Teile der linken Community, die eigentlich eine konsequent basisdemokratische verfasste gesellschaftliche Struktur fordern nun auch noch unkritisch vom neoliberalen Staat eine Verschärfung polizeistaatlicher Gewalt fordern, um ihren „absoluten Lockdown“ durchzusetzen macht die Gesamtsituation nicht besser.

„Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“

„Leeres Wort: des Armen Rechte!

Leeres Wort: des Reichen Pflicht!

Unmündig nennt man uns und Knechte,

duldet die Schmach nun länger nicht!“ [12]

Zuhause zu bleiben und darauf zu warten, dass Merkel gemeinsam mit den Ministerpräsidenten und der "unsichtbaren Hand des Marktes" diese Krise löst, ist mit "naiv" sehr wohlwollend umschrieben. Doch auch viele linke Menschen werden gegenwärtig eher von der nackten Angst getrieben. Eine Angst nach einer Infektion mit Covid-19 kein Intensivbett mehr zu erhalten oder nicht rechtzeitig geimpft zu werden. Doch diese Verkürzung gesellschaftlicher Debatten auf persönliche Fragen ist präpolitisch. Politik bedeutet Masse und in Präsenz zu diskutieren, welche Antworten die politische Linke auf aktuelle gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisensituation gegen muss. Lasst uns also ohne falsche Panik vor unseren Mitmenschen zur Analyse schreiten, denn es ist wie Gramsci sagt:

"Für die Revolution sind Menschen mit nüchternem Geist notwendig, Menschen, die alles tun, damit das Brot nicht in den Bäckereien fehlt, Menschen, die die Züge fahren lassen, die dafür sorgen, daß die Betriebe Rohstoffe haben und daß Industrieprodukte gegen Landwirtschaftsprodukte getauscht werden können, die Integrität und Freiheit der Person vor Angriffen der Verbrecher garantieren, die den Komplex der sozialen Dienstleistungen funktionieren lassen und das Volk nicht zur Verzweiflung und zu einem wahnsinnigen Gemetzel untereinander treiben. Die Begeisterung in Worten und die Zügellosigkeit der Phrasen bringen einen zum Lachen (oder zum Weinen), wenn es darum geht, daß auch nur ein einziges dieser Probleme in einem Dorf von hundert Einwohnern gelöst werden soll" [13].

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[1] Eine Chronik von Spahns Lügen bzgl. Corona von der Tagesschau bis zum 06. April: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/spahn-corona-113.html, 24.03.2021.

[2] Rund 1,7 Mio. Kinder (unter 5 Jahren) sterben jedes Jahr an mangelnder Hygiene (WHO 2017: https://www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/who-kinder-tod-dreck-hygiene-luftverschmutzung, 24.03.2021. Rund eine halbe Mio. Kinder sterben jährlich an Durchfall (Hauptproblem ist fehlende Hygiene & fehlen von sauberem Trinkwasser). 42% dieser Toten in Indien und Nigeria Quelle: Forscher des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76436/Jedes-Jahr-sterben-eine-halbe-Million-Kinder-durch-infektioese-Durchfallerkrankungen, 24.03.2021.

[3] WHO (1978) Erklärung von Alma-Ata: https://www.euro.who.int/data/assets/pdf_file/0017/132218/e93944G.pdf, 24.03.2021.

[4] Vgl. Burchardt, Matthias; Baureithel, Ulrike, Holtgre, Ursula u. a.: Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern, Wien 2020.

Und vgl. Labisch, Alfons: Homo hygienicus. Soziale Konstruktion von Gesundheit, aus: Wagner, Franz(Hg.): Medizin. Momente der Veränderung, Berlin/Heidelberg/New York u.a. 1989, S. 115-138.

[5] „Wenn man so will, kann das Verfassungsrecht als ein jeweiliger Klassenwaffenstillstand gelten, aber im Fortgang des Klassenkampfes, nicht als Klassenfrieden. Ein Klassenwaffenstillstand mit dem Zweck, im Klassenkampf, der als Problem in einer Klassengesellschaft ja niemals aufgehoben sein kann, die physische Gewaltsamkeit auszuklammern und durch andere Formen der Gewalt, natürlich aber durchaus der Gewalt, zu überspielen.“ [Abendroth, Wolfgang: Diskussionsbeitrag, aus: Römer, Peter(Hg.): Der Kampf um das Grundgesetz. Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretation. Referate und Diskussionen eines Kolloquiums aus Anlaß des 70. Geburtstags von Wolfgang Abendroth, Frankfurt(Main) 1977, S. 188.]

[6] Abendroth, Wolfgang: Der Notstand der Demokratie. Die Entwürfe zur Notstandsgesetzgebung, aus: Kogon, Eugen; Abendroth, Wolfgang; Ridder, Helmut; Hannover, Heinrich; Seifert, Jürgen: Der totale Notstandsstaat, Frankfurt(Main) 1965, S. 15.

[7] Vgl. u.a. Pfaller, Robert: Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur, Frankfurt(Main) 2008, S. 15.

[8] https://www.youtube.com/watch?v=ZO8ek7ImhIY, 24.03.2021. Und vgl. https://taz.de/Nachruf-auf-Walter-Mossmann/!5201769/, 24.03.2021.

[9] Berghöfer, Birte: #ZeroCovid. Warum nur solidarisches Handeln die Pandemie beenden kann. Interview mit Bini Adamczak, in: ZeroCovid. Solidarität in den Zeiten der Pandemie [ViSdP: Wolf, Winfried], 1 (Februar 2021), S. 2.

[10] Ebd.

[11]https://www.dw.com/de/kampf-gegen-tuberkulose-corona-macht-jahrelangen-fortschritt-zunichte/a-56964770, 24.03.2021

[12] "Die Internationale", zitiert nach: http://www.dasrotewien.at/seite/die-internationale-deutsch, 24.03.2021.

[13] Gramsci, Antonio: Zu Politik, Geschichte und Kultur – Ausgewählte Schriften, Leipzig 1980, S. 69ff.

Dieser Text wurde von Sebastian Chwala, Yusuf Karaaslan und Dorian Tigges verfasst.

Dieser Beitrag ist die Meinung von Linksjugend-Mitgliedern. In diesem Blog soll regelmäßig von Mitgliedern zu aktuellen Themen Stellung bezogen werden.

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