Zum Umgang mit "Hygienedemos"

Hygienedemos Antifaschistische Organisation muss sich verbessern

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Wie viele andere war auch ich die letzten beiden Samstage auf der Straße, um gegen die sogenannten „Hygienedemos“ zu protestieren. Denn in diesen Demonstrationen marschieren nicht nur „besorgte“ BürgerInnen, die Angst davor haben, dass sie ihre im Zuge der Coronamaßnahmen vernünftigerweise eingeschränkten Freiheitsrechte nicht mehr zurückbekommen. Diese Angst kann ich sogar nachvollziehen und finde es daher auch grundsätzlich legitim, gegen die Maßnahmen der Regierung zu protestieren, um sie daran zu erinnern, dass sie die Freiheit auch irgendwann wieder zurückgeben muss.

Aber so nicht! Sie laufen leider nämlich Schulter an Schulter mit Verschwörungsspinnern und strammen Neonazis, welche teilweise ihren Menschenhass nicht einmal verbergen. Diese bunte Mischung ist wohl auch der Grund dafür, dass von den Demonstrierenden sehr oft die Aussage kommt: „Wir sind weder rechts noch links, wir sind einfach nur Bürger.“ Dass es für echte Linke jedoch niemals einen Schulterschluss mit Neonazis geben darf und man folglich auch niemals gemeinsam für oder gegen etwas demonstriert, versteht sich eigentlich von selbst.

Und das ist natürlich auch der Grund dafür, dass sehr viele antifaschistische Organisationen zum Protest gegen diese Demos aufrufen. Diesem Aufruf sind, besonders letzten Samstag, viele gefolgt.

In diesem Text möchte ich aber gar nicht so viel auf die „Hygienedemos“ an sich eingehen, denn dazu gibt es bereits sehr viele gute Beiträge und eigentlich kann sich jeder vernünftig denkende Mensch selbst sehr schnell eine Meinung zu ihnen bilden. Ich möchte auf die Fehler aufmerksam machen, die leider auch uns, den AntifaschistInnen, sehr schnell unterlaufen sind und die uns vermutlich wieder unterlaufen, wenn man nicht an Strategie und Organisation arbeitet. Ich selbst musste letzte Woche in Frankfurt nämlich einige Dinge beobachten, die mir große Sorgen bereiten:

1. Der antifaschistische Selbstschutz

Natürlich finde ich das Bedürfnis verständlich, zu den „HygienedemonstrantInnen“ auf direkte Konfrontation zu gehen. Aber hier darf man nicht den Fehler machen, sich selbst und andere zu gefährden. Denn leider macht man sich unglaubwürdig, wenn man auf einmal selbst nicht mehr auf Sicherheitsabstände zueinander und natürlich auch zu den „HygienedemonstrantInnen“ achtet. Auch wenn es AntimilitaristInnen weh tut, eine feste Marschordnung in Reihen kann durchaus dazu beitragen, zu seinen Vor- und Nebenmenschen genügend Abstand zu bewahren. Dass dies auch taktische Vorteile bietet, zeigen bspw. die Proteste von Ende Gelände, wo ebenfalls oft geordnet marschiert wird. Und man kann sich als Bezugsgruppe auch viel besser gegenseitig beschützen und im Auge behalten, wenn man genau weiß an welcher Position die GenossInnen sich gerade befinden (müssten). Der andere Punkt ist, dass man besonders darauf achten sollte zu den „HygienedemonstrantInnen“ genügend Abstand zu halten. Diese fühlen sich ja in der Regel deutlich weniger oder sogar gar nicht an Infektionsschutzmaßnahmen gebunden und haben deswegen ein höheres Risiko, sich mit COVID-19 zu infizieren - und dann folglich auch euch anzustecken. Auch wenn es schmerzt, manchmal muss man dann selbst zurückweichen, denn sie werden es nicht tun. Die andere Option, und zwar sie körperlich auf Abstand zu halten (z.B. mit Gegenständen wie Fahnen etc.), ist aus mehreren Gründen nicht vorteilhaft, selbst wenn man die eventuell moralische Problematik mal außen vor lässt. Denn kommt es erst einmal zu einer körperlichen Auseinandersetzung, dann ist es überhaupt nicht mehr möglich, Abstände einzuhalten. Außerdem wissen wir ja, wie so etwas meist endet - mit Polizeiknüppeln. Auch wenn es dem Grundsatz „¡No pasarán!“ widerspricht, plädiere ich in Coronazeiten daher für das Zurückweichen. Besondere Situationen erfordern nunmal besondere Maßnahmen. Dies gilt aber selbstverständlich nicht, wenn man selbst oder andere körperlich angegriffen werden. Dann hat man natürlich das Recht, sich zu verteidigen.

2. Aufgaben (besser) verteilen

Dieser Punkt schließt gewissermaßen an Punkt 1 an. Denn ich musste leider beobachten, dass der schwarze Block und auch andere Gruppen sehr fokussiert darauf waren, der „Hygienedemo“ Paroli zu bieten und ihr hinterherzulaufen. Dadurch wurde aber komplett vergessen, dass auch antifaschistische Organisationen wie bspw. die VVN-BdA offizielle Kundgebungen angemeldet haben und dass diese vor rechten Übergriffen geschützt werden müssen. Mit einer Handvoll GenossInnen habe ich versucht, diese Kundgebung auf dem Opernplatz abzuschirmen und wirklich nur Menschen mit Mund-Nasen-Bedeckung nahe an die RednerInnen, die Infotische und die persönlichen Gegenstände (Taschen usw.) der OrganisatorInnen heranzulassen. Erfolglos. Es scheiterte definitiv an der Anzahl der Menschen, die bereit dazu waren diese Kundgebung durch eine Kette abzuschirmen. Statt einer Kette bestehend aus AntifaschistInnen im 2-Meter Abstand mussten wir uns so weit verteilen, dass immer wieder Leute durchschlüpfen konnten - auch erkennbare DemonstrantInnen von der Gegenseite. So sehr ich mich auch darüber freue, dass es gelungen ist, der „Hygiene“-Kundgebung auf dem Roßmarkt das Megafon zu klauen - dasselbe hätte uns passieren können. Viele Einzelpersonen hätten die Möglichkeit dazu gehabt. Von dem was hätte passieren können, hätte es einen organisierten Angriff auf die Kundgebung gegeben, möchte ich gar nicht erst anfangen. Mein Plädoyer lautet daher: Verteilt (besser) Aufgaben. Es ist natürlich richtig, der Gegenseite die Stirn zu bieten, sie zu verfolgen und nicht unbeobachtet zu lassen. Aber das müssen doch nicht ALLE von uns tun. Sprecht euch schon im Vorfeld ab, ob Bezugsgruppen bereit dazu sind, sich um die Sicherheit von Kundgebungen zu kümmern oder überlegt auch innerhalb der Bezugsgruppen, ob ihr bestimmte Aufgaben an kleinere Untergruppen oder sogar Buddies verteilen wollt. UND haltet natürlich immer die Augen offen, damit schnell erkannt wird, wenn es irgendwo brennt und ihr rechtzeitig zur Hilfe kommt. Teilt aber auch das möglichst vielen anderen Gruppen mit. Je mehr wir alle wissen, desto stärker sind wir.

3. Diskussionen mit der Gegenseite

Dieser Abschnitt geht vor Allem an diejenigen, die Kundgebungen organisieren, Infotische betreuen und generell Öffentlichkeitsarbeit machen. Es geht dabei um Gespräche und Diskussionen mit TeilnehmerInnen von „Hygienedemos“ und ob/wie diese sinnvoll sind. Grundsätzlich spricht ja nichts dagegen, sich auch mit TeilnehmerInnen von der Gegenseite zu unterhalten, wenn sie einen ansprechen. Ihr werdet vielleicht denken: „Vielleicht lassen sie sich ja bekehren und im schlimmsten Fall ist es zumindest für die umstehenden, vielleicht noch unentschlossenen, Personen ein abschreckendes Beispiel.“ Das mag auch tatsächlich für diejenigen gelten, die einfach nur „mitmarschieren“ oder noch nicht besonders tief im Sumpf der Verschwörungstheorien versackt sind, aber die Diskussion gegen einen eingefleischten Spinner könnt ihr immer nur verlieren. Und deshalb sollte man die Diskussion umgehend beenden, wenn offensichtlich wird, dass es sich um diese Art von DemonstrantIn handelt. Es gibt gewisse Anzeichen, auf die man achten kann:

a) Ihr werdet bombardiert mit Zahlen und „Informationen“. Das ist eine gängige Taktik, denn ihr werdet weder diese Zahlen und „Informationen“ ,noch die Quelle, aus denen sie stammen, in dem Moment des Gesprächs nachprüfen können. Dann bleibt euch nur noch die Wahl, sie entweder im Raum stehen zu lassen oder sie ohne Prüfung zu dementieren. Und damit wird automatisch entweder ihre Legitimität als Argument anerkannt oder ihr macht euch selbst für den weiteren Verlauf der Diskussion unglaubwürdig. Denn etwas einfach abzustreiten, ohne sich vorher damit befasst zu haben, ist halt leider wirklich kein guter Ausgangspunkt für eine Diskussion auf Augenhöhe. Oftmals kommen diese „Informationen“ auch nacheinander mit einer solchen Geschwindigkeit, dass, selbst wenn ihr sie tatsächlich alle einzeln faktenbasiert widerlegen könntet, es euch nicht möglich sein wird, euch die Masse der „Informationen“ zu merken, geschweige denn sie argumentativ zu widerlegen.

b) Jegliche Kritik wird als Lüge oder „Systemmeinung“ abgeschmettert. Ein tatsächlicher Austausch von Argumenten kann hier gar nicht mehr stattfinden, denn alles, was ihr sagt, werdet ihr euch entweder ausgedacht haben, um ein Gegenargument zu haben oder ihr seid ein naives Schaf, dass die Propaganda des Staates, der Medien, der geheimen Weltregierung oder von wem auch immer brav schluckt. Diese Vorgehensweise erfüllt eine doppelte Funktion, denn zum einen bleibt somit das eigene Weltbild intakt und kann von keiner seriösen Information zerstört werden und zum anderen dient sie der Diskreditierung des Diskussionsgegners. Dieses Vorgehen ist dadurch sowohl ein psychologischer Schutzmechanismus, als auch ein argumentum ad hominem.

c) Das ist zwar keine Notwendigkeit, aber hin und wieder kann man Verschwörungsspinner tatsächlich auch an der äußerlichen Erscheinung erkennen. Eine umgehängte oder angesteckte Kugel aus zusammengeknüllter Alufolie etwa ist in der Regel ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die betroffene Person bereits eine zweifelhafte Weltanschauung hat. Auch T-Shirts, Schilder oder Transpis, auf denen bekannte Symbole von Verschwörungstheorien oder Bezüge zu ihnen vorkommen (Q; Bill Gates; Auge der Vorsehung etc.) zeigen deutlich an, dass sich hier eine Diskussion nicht lohnt. In diesen Fällen sollte man ein Gespräch oder eine Diskussion.tatsächlich komplett vermeiden.

Sollte euch etwas davon im Laufe des Gesprächs auffallen, dann solltet ihr die Diskussion umgehend beenden. Abgesehen davon, dass es nur Zeit und Nerven kostet, könnt ihr auch nicht gewinnen. Wichtig ist hierbei ein Verweis darauf wieso ihr die Diskussion beendet, damit bei umstehenden Personen nicht etwa der Eindruck entsteht, ihr wüsstet nicht mehr weiter oder wärt „geschlagen“. Mit der Begründung wieso hier eine Diskussion nichts bringt, werdet ihr vielleicht sogar euer Publikum davon überzeugen können, die Argumentation eures Gegenübers selbst zu hinterfragen. Das ist meiner Meinung nach die einzige Chance, die sich dann noch bieten kann, um wenigstens etwas bewirkt zu haben. Seid aber auch konsequent. Wenn ihr erklärt habt, wieso ihr die Diskussion an der Stelle beendet, dann beendet sie auch WIRKLICH, das bedeutet: Geht nicht mehr auf das ein, was euer Gegenüber sagt und verlasst eventuell den Ort oder bittet die andere Person darum sich zu entfernen (falls ihr räumlich gebunden seid). Sollte sie sich weigern zu gehen wäre es vorteilhaft bereits eine gute Sicherheitsstruktur organisiert zu haben, die dann helfen kann (wie in Punkt 2 beschrieben).

Für mich waren das die größten Fehler, die ich letzten Samstag beobachten konnte. Ich hoffe wirklich, dass einige AntifaschistInnen das lesen, darüber nachdenken und im besten Fall sogar umsetzen. Das wäre meiner Meinung nach zumindest ein guter Schritt im Hinblick auf den weiteren Umgang mit den sogenannten „Hygienedemos“, die vermutlich leider nicht so bald verschwinden werden. Daher sollten auch wir unsere Strategie und Organisation so ausrichten, dass wir dauerhaft angemessen agieren und reagieren können. Die nächsten Samstage werden dann wohl zeigen, ob uns das gelingt.

Dieser Text ist von Philipp. Er ist 24 Jahre alt.

Dieser Beitrag ist die Meinung eines Linksjugend-Mitgliedes. In diesem Blog soll regelmäßig von Mitgliedern zu aktuellen Themen Stellung bezogen werden.

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