Zwischen Egoismus und Systemfragen

Alltag im Rettungsdienst Überfüllte Krankenhäuser, blockierte Rettungsgassen - der ganz normale Wahnsinn im Notdienst

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Es ist 05:30 Uhr, als der Wecker klingelt. Früh aufstehen ist angesagt, denn es steht ein langer Arbeitstag bevor: 12 Stunden Notfallrettung im Stadtgebiet von Fulda.

Dienstbeginn an meiner Wache ist um 07:00 Uhr. Da ich meine Kollegen von der Nachtschicht ablöse und es natürlich ärgerlich wäre, wenn diese kurz vor Feierabend noch einen Einsatz bekämen, bin ich schon um 06:30 Uhr da. Die Kollegen erwarten mich schon, der letzte Einsatz ist keine 5 Minuten her. Meine erste Aufgabe des Tages ist es, den kompletten RTW (Rettungswagen) auf Vollständigkeit der Materialien und Funktionstüchtigkeit der medizinischen Geräte und der Fahrzeugtechnik zu prüfen. Ich vertraue meinen Kollegen natürlich, aber bei 8 abgearbeiteten Einsätzen in der vergangenen Nacht wäre es durchaus verständlich, wenn eine Kleinigkeit vergessen würde. Mein Kollege für den heutigen Tag, Andreas, ist mittlerweile auch da und unterstützt mich mit der Dokumentation des durchgeführten Checks. Er hat Brötchen mitgebracht. Diese müssen aber warten: der Pager, unser Gerät, mit dem wir von der Leitstelle alarmiert werden, piepst. Bewusstlose Person, jetzt muss es schnell gehen.

In Fulda haben wir 10 Minuten Zeit, bis wir im Notfall am Einsatzort eintreffen müssen. Mit Blaulicht und Martinshorn sollte das eigentlich kein Problem sein, aber der morgendliche Berufsverkehr erschwert uns die Anfahrt. Der Grund ist nicht etwa der mangelnde Platz auf den Straßen oder die fehlende Lautstärke unserer Presslufthörner. Jeder hat nur die eigenen Interessen im Sinn. Obwohl die Kreuzung schon voll steht, muss man sich noch mit seinem SUV in die letzte verbleibende Lücke quetschen, denn man hat ja grün! Dass diese Lücke unsere einzige Möglichkeit war, die Kreuzung zu überqueren, fällt dem Mittfünfziger erst auf, als mein Kollege durch ein geschicktes Ausweichmanöver einen Zusammenstoß verhindert. Dennoch macht er nicht Platz, denn er hat keine Möglichkeit, weder vor noch zurück zu fahren. Stattdessen streckt er lieber seinen Mittelfinger in die Luft, denn das Martinshorn ist ihm zu laut. Zum Glück löst sich der kleine Stau wenige Sekunden später auf und wir können weiterfahren. Die Leitstelle teilt uns per Funk mit: Während dem Frühstück sei ein Mann plötzlich vom Stuhl gefallen und sei bewusstlos. Mehr habe man aus der aufgeregten Dame nicht herausbekommen.

Nachdem wir ein weiteres Mal aufgehalten werden, weil ein BMW-Fahrer seine Poleposition an der roten Ampel nicht aufgeben möchte, erreichen wir nach ca. 8 Minuten das Mehrfamilienhaus in der Innenstadt. Der Notarzt mitsamt seinem Fahrer trifft zeitgleich mit uns ein, er kam von einer anderen Wache. Als wir zu viert im Esszimmer des Ehepaars ankommen, wird uns der Ernst der Lage bewusst. Der Mann liegt auf dem Boden, er ist schon blau angelaufen. Seine Ehefrau schildert uns, dass er sich verschluckt habe und daraufhin nach Luft ringend vom Stuhl gekippt sei. Der Notarzt prüft, ob der Patient noch atmet, entscheidet aber, da dies nicht der Fall ist, mit der Reanimation zu beginnen. 20 Minuten lang versuchen wir, den 83-jährigen Mann wiederzubeleben – ohne Erfolg. Ob wir es geschafft hätten, wenn man uns im Straßenverkehr freie Bahn gegeben hätte? Das bleibt ungeklärt.

Die Ehefrau trägt es mit Fassung. Dennoch müssen wir noch einen Moment vor Ort bleiben. Der Notarzt koordiniert das weitere Vorgehen und informiert die nächsten Instanzen, während Andreas und ich das Chaos beseitigen. Nun müssen wir die verbrauchten Materialien auf der Wache wieder auffüllen, ehe wir den zweiten Frühstücksversuch starten. Der Fahrer des Notarzteinsatzfahrzeuges, welches mit uns an der Wache stationiert ist, hat schon den Tisch gedeckt. Zum Glück, denn nur deswegen können Andreas und ich einen Schluck Kaffee trinken und einmal ins Brötchen beißen, eher unsere Pager das nächste Mal piepsen.

Diesmal verrät uns die Alarmierung, dass wir zu einem Verkehrsunfall auf die Autobahn fahren sollen. Schon auf der Auffahrt auf die Autobahn müssen wir das erste Mal halten, da uns ein LKW entgegenkommt. Er will anscheinend den Stau umgehen und hat deswegen auf der Autobahn gewendet, um über die Auffahrt abzufahren. Mit nur wenigen Zentimetern Spielraum quetscht Andreas den RTW vorbei. Dann folgt das immer wiederkehrende Thema: die Rettungsgasse. LKW links, LKW rechts, LKW egal wo man hinschaut. Da wir das erste Rettungsfahrzeug zu sein scheinen, welches durch den Stau fährt, bildet sich der Versuch einer Rettungsgasse nur langsam. Dass wir dennoch durchkommen, grenzt an ein Wunder. Immer wieder versperren uns Fahrzeuge den Weg und Andreas muss sich konzentrieren, um keine Schrammen in unseren RTW zu fahren. Plötzlich sehen wir am Stauanfang Rauch aufsteigen. Die Leitstelle bestätigt uns, dass einer der beiden verunfallten PKW zu brennen begonnen hat. Immerhin seien alle Insassen rechtzeitig ausgestiegen.

Wir sind fast schon an der Unfallstelle, als unsere Einsatzfahrt ein jähes Ende nimmt. Ein Jeep-Fahrer hat versucht, mitsamt seinem Wohnanhänger die Fahrspur zu wechseln und hat sich verzockt, er kommt nicht weg und steht genau da, wo wir hätten durchfahren können. Andreas und ich müssen also aussteigen und die restlichen 50m bis zur Unfallstelle zu Fuß zurücklegen. Die kurze Sichtung der Einsatzstelle und der Beteiligten ergibt, dass glücklicherweise niemand verletzt ist. Über Funk hören wir, dass die Feuerwehr 7 km vor der Unfallstelle im Stau nicht weiterkommt. Eine andere Feuerwehr wird alarmiert, sie soll von der Gegenrichtung anfahren. Andreas und ich versuchen, unseren RTW zur Einsatzstelle durchzuboxen, denn der Jeep-Fahrer hat es mittlerweile hinbekommen, sein Gespann beiseite zu Manövrieren, als es auf der Gegenfahrbahn plötzlich knallt: Ein PKW-Fahrer hat, um zu gaffen, so stark gebremst, dass ein dahinter folgender PKW-Fahrer aufgrund des Videos, das er mit seinem Smartphone dreht, die Gefahr nicht erkennt und dem Vordermann auffährt. Die beiden Fahrzeuge fahren auf den Standstreifen, es handelt sich auch in diesem Fall glücklicherweise nur um Blechschaden. Dennoch geben wir unserer Leitstelle Bescheid, damit die Polizei informiert werden kann, um auch diese Unfallstelle abzusichern.

Kurz darauf trifft die nachalarmierte Feuerwehr ein, der Einsatzleiter sieht keinerlei Notwendigkeit für Andreas und mich, an der Einsatzstelle zu bleiben.

Wir fahren zurück zu unserer Wache, mittlerweile ist es 12:00 Uhr und wir entschließen uns, anstatt Frühstück gleich zu Mittag zu Essen. Diesmal klappt dies erfreulicherweise ohne Einsatz. Nach dem Mittagessen stehen für uns die Tagesaufgaben auf dem Plan. Heute müssen wir die Außenfächer von unserem RTW komplett wischen und desinfizieren und das Medikamentenlager auf Vollständigkeit prüfen und gegebenenfalls bei der krankenhauseigenen Apotheke nachbestellen. Auch nach Erfüllung dieser Aufgaben ist nicht an eine Pause zu denken.

Der Grund: wir werden zu einem Kindernotfall alarmiert. Ein zweijähriger Junge sei beim Spielen in der Wohnung vom Sofa auf den Kopf gefallen. Als wir eintreffen, ist ziemlich schnell klar, dass der Junge in keinem kritischen Zustand ist. Trotzdem ist die Mutter sehr aufgeregt und aufgelöst. Sie zu beruhigen, ist fast schon schwieriger, als das Kind zu versorgen. Obwohl es dem Kind gut zu gehen scheint, entschließen wir uns, es vorsorglich in die Kinderklinik zu bringen. Mit beiden „Patienten“ fahren wir gemächlich zum Krankenhaus. Andreas wirkt nachdenklich. Er hat selbst zwei kleine Kinder. Solche Einsätze sind immer etwas Anderes, erst recht für Eltern wie Andreas. Nach einer zügigen Übergabe melden wir uns bei der Leitstelle wieder einsatzklar. Diese hat einen Folgeeinsatz für uns, diesmal ist es aber nicht dringend und wir fahren ohne Blaulicht in eine angrenzende Nachbargemeinde.

Dort empfängt uns eine ältere Dame, sie klagt über Kreislaufprobleme. Während der Anamnese stellen wir fest, dass ihre Vitalwerte unauffällig sind. Wir bekommen immer mehr das Gefühl, dass die Frau uns wegen keinen gesundheitlichen Problemen gerufen hat. Sie erzählt uns, dass sie keine Angehörigen hat und so alleine ist. Dennoch gibt sie an, sich schlecht zu fühlen und will ins Krankenhaus. Andreas klärt bei der Leitstelle ab, welche Krankenhäuser die Patientin aufnehmen könnten.
Seit einiger Zeit haben wir das Problem, dass die Krankenhäuser dem Patientenaufkommen nicht mehr gerecht werden können. Dies führt dazu, dass einige Fachbereiche oder manchmal sogar ganze Krankenhäuser keinen Platz mehr für neue Patienten haben. Schuld daran sind nicht die Krankenhäuser selber, vielmehr zeigt uns unser System seine Grenzen, ein System, in dem es nur noch um Profit geht. Hausarztpraxen nehmen nur noch Patienten mit Termin an, manche Praxen auf dem Land haben nicht genug Ärzte, weil es nicht attraktiv genug ist. Deswegen gehen viele vermeintliche „Notfallpatienten“ in die Notaufnahmen in den Krankenhäusern, welche daraufhin überfüllt sind. Das fehlende Personal in den Krankenhäusern kann das nicht auffangen. Es kommt zu langen Wartezeiten, Rettungsdienste müssen teilweise mit Notfallpatienten in andere Landkreise fahren, um Patienten an Krankenhäuser übergeben zu können. Es wird an allen Enden gespart, regelrecht kaputtgespart. Aber zu welchem Preis?

Die einzige Anlaufmöglichkeit für unsere Patientin wäre das Krankenhaus in Hünfeld, einer Stadt im Norden des Landkreises Fulda, es kann als einziges noch Patienten mit diesem Krankheitsbild aufnehmen. Daraufhin entschließt sich die Dame, zu Hause zu bleiben, denn Hünfeld sei ihr zu weit weg und es ginge ihr ja gar nicht so schlecht. Gegen eine Unterschrift mitsamt Aufklärung lassen wir die Dame daheim.

Wenige Wochen später wird sie sterben, als Ursache wird man einen Tumor feststellen, den wir vor Ort nicht hätten diagnostizieren können, aber wenn ein näheres Krankenhaus die Patientin hätte aufnehmen können, hätte ihr vielleicht geholfen werden können. Auch wenn es sich hierbei um Spekulationen handelt, wird trotzdem immer mehr klar, welche Probleme das System bringt. Geändert wird trotzdem nichts, denn dann würde man weniger finanziellen und wirtschaftlichen Gewinn daraus haben.

Andreas und ich können jetzt erstmal zurück zur Wache fahren und tatsächlich eine halbe Stunde Pause machen, ehe wir erneut alarmiert werden.
Am Bahnhof habe ein alkoholisierter Mann randaliert, die Polizei hat uns nun angefordert. Der Mann soll in ein Krankenhaus gebracht werden, da er sich auch selbst verletzt hat. Seine beiden Freunde, welche auch merklich alkoholisiert sind, bringen die eigentlich beruhigte Lage aber erneut so zum Eskalieren, dass sie plötzlich auch Andreas und mich angreifen. Wir müssen in unseren RTW flüchten, während die Polizei die Lage wieder unter Kontrolle bringt. Schließlich können wir die Schnittverletzungen des Mannes erstversorgen und ihn in ein Krankenhaus bringen.

Von diesem bringen wir noch eine Patientin, welche dauerhaft eine Sauerstofftherapie benötigt, aus der stationären Behandlung in ihr Pflegeheim. Auch diese sogenannten qualifizierten Krankentransporte gehören zum Aufgabenfeld von Andreas und mir. Ein solcher kommt an einem anstrengenden Tag wie diesem als Ausgleich sehr gelegen.

Außerdem haben wir nach dieser Fahrt nur noch wenige Minuten zu überbrücken, ehe uns die Kollegen der Nachtschicht ablösen. Andreas muss am nächsten Tag das Notarzteinsatzfahrzeug fahren, während ich ausnahmsweise frei habe, was aufgrund des auch im Rettungsdienst herrschenden Personalmangels auch immer schwieriger wird. So werden unsere 48-Stunden-Wochen auch öfter mal zu 60-Stunden-Wochen, damit die Notfallversorgung der Bevölkerung sichergestellt werden kann. Dadurch werden durchschnittliche Tage wie dieser immer belastender, die Qualität der Notfallversorgung droht zu leiden. Das geht nicht nur Andreas und mir so, sondern auch sehr vielen anderen Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten und sich dafür einsetzen, dass es den Bürgern gut geht. Leider wird die ganze Thematik in der Politik noch nicht so ernst genommen, wie sie müsste; es werden keine Bedingungen verbessert, es wird kaum etwas gegen den Personalmangel getan, es gibt kaum Bemühungen, das Berufsfeld attraktiver zu gestalten.
Das Problem liegt aber nicht nur bei der Politik, zu einem Großteil trägt auch der Wandel der Gesellschaft dazu bei. Jeder ist sich selbst der nächste, ganz gleich ob im Straßenverkehr, wenn ein RTW mit Blaulicht und Martinshorn über die Kreuzung möchte oder in den Führungsstrukturen, die meist nur die Wirtschaft im Blick haben.

Die aktuellen Probleme Rund um den Virus SARS-CoV-2 zeigen zwar, auf wen man nicht verzichten kann, aber von 5 Minuten Applaus werden weder Patienten versorgt, noch leere Sitze in Rettungswägen besetzt.

Dieser Text ist von Erik. Er ist 20, arbeitet als Rettungssanitäter und macht eine Ausbildung zum Notfallsanitäter

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