In Boris Andrejewitsch Pilnjaks experimentellem Erstling aus dem Jahre 1922 herrscht das reine Chaos. Eine kohärente Handlung gibt es nicht, ebenso wenig die Handlung bestimmende Protagonisten. Vielmehr wird der Leser in einen wilden Strom aus Ereignissen geworfen, in dem ihm an die hundert verschiedene Personen begegnen, die oft nach wenigen Seiten wieder auf Nimmerwiedersehen verschwinden, manchmal aber auch unvermutet wiederkehren. Es ist eine Kaskade von Impressionen, die die Dynamik des schlimmsten Jahres des fernen russischen Bürgerkrieges, des Jahres 1919, lebendig werden lässt. So plastisch, dass man beständig hofft, niemals Ähnliches erleben zu müssen, aber dennoch versteht, warum Boris Andrejewitsch die Revolution so vorbehaltlos begrüßt hat. Pilnjak wurde 1938 wegen angeblicher Spionage für Japan erschossen. Er wurde 44 Jahre alt. Statt einer Rezension folgende Verse im Majakowskij Stil:
Zeit des Zerbrechens
Roman ohne Gerüst
Lesestrom
Golyj God, Nacktes Jahr
in der Provinzstadt
Ordynin
Hunderte Figuren
wechseln sich ab
kein Held
Alte Honoratioren entehrt
geschlagene Söhne revoltieren
Konterrevolution Blutbad
„Glutheißer Himmel
schüttet glutheißen
zitternden Dunst“
Über Ordynin
die Familie
gleichen Namens
Die Alte
spritzt Morphium
Wie Tolstoj
flieht der Alte
sein Gut verlassend
zur Bahnstation
Konfiskation
Zwangsprostitution
des Bahnvorstehers Regiment
Leichen aus den Waggons
Trinkwasser aus den Pfützen
an der Ausweichhaltestelle Mar
Im Hintergrund
brennt des Klosters
zwiebeltürmige Kuppel
Ein Archäologe
gräbt im Kurgan
der persischen Prinzessin
Die Bolschewiken
nicht die Kommunisten
tragen Lederjacken
Abends ins Venedig
die Blaskapelle
spielt die Warschawianka
Genosse Laitis
Genossin Olenka
Genosse Nebenbuhler
Befehl
Verhaften
Erschießen (vielleicht)
Komitee der Dorfarmut
im alten Gutshof
schon die neuen Herren?
Kommune der Anarchisten
träumen und trinken
scheitern und sterben
Bauernsekte im Erweckungswahn
Jegor, der Kräuterkundige
des Bischofs Buch vom Untergang
Arbeiter in Fabrik und Grube
organisieren alles und sich selbst
die Glut der Öfen erlodert
***
Derweil in Berlin
nachts vorm LaGeSo
sitzen arabische Flüchtlinge
in Decken gehüllt
unter Planen verdeckt
und sitzen Schlange
Sitzen Schlange
den ganzen Abend
die ganze Nacht
den nächsten Tag
und mittags, vielleicht,
der Termin
***
Mein Start in Berlin
meine Bleibe Fieberwahn
Abwärtsspiralen, taumelnd
Zurück nach Hamburg
das Glück der Bar
Freunde, Wärme, Halt
Meine Jacke
geklaut
Wintereinbruch
Im Schneetreiben
halbnackt nach Berlin
Gefriertiefpunkt
Neues Hostel, neue Leute
neue Jacke, neue WeGes
Luftholen. Wie geht’s?
Innere Haltung
Alles ist cool
Skeptische Blicke
Fuck, Pilnjak
Nacktes Jahr in nackten Monaten
erspürte Blöße
Junge Obdachlose
fast wie ich
Verzweiflung im Gesicht
Am Ende der
Abwärtsspirale
Almosen, vielleicht
Treffpunkt der Geflüchteten
Deutsch Stammtisch in Moabeat
beisammen ist´s nicht kalt
Frostglutiger Himmel
schüttet Schneetreiben derweil
über mondfrostigen Asfalt.
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