Es war einmal vor langer Zeit, um das Jahr 7000 nach Erschaffung der Welt, als ein junger Mensch die alte Rus wie fremder Herren Länder auf seinem Weg der Reifung durchwanderte, viele Leben und Namen dabei annehmend.
Eingebetteter MedieninhaltGetauft wurde dieser Mensch auf den Namen Arsenij, im selben Kloster des Heiligen Kirill, in dem ein Jahr später ein Gottesdienst abgehalten werden sollte, in dem seine Eltern Dank sagten, dass dieses ihr drittes Kind, anders als die beiden Davorgeborenen, sein erstes Jahr überlebt hatte. Lange währte ihre Freude jedoch nicht. Bald schon wurden sie vom schwarzen Tod dahingerafft. Der Waise Arsenij wurde zu seinem Großvater Christofor gegeben, einem alten kräuterkundigen Mann, der in einem kleinen Holzhäuschen am Rande des Friedhofs wohnte. Christofor zeigte ihm vieles. Sie durchzogen die Wälder und pflückten Kräuter. Er lehrte ihn das Lesen, hauptsächlich der Bücher der Heiligen Schrift, aber auch des Alexanderromans und eines heilkundlichen Almanachs, und er lehrte ihn das Schreiben, das mühselige Ritzen der Buchstaben auf präparierter Birkenrinde. Christofor und Arsenij, sie lebten in einer selbstgenügsamen Symbiose. Zwar suchten die Menschen des Dorfes Rukino sie häufig auf, immer dann, wenn etwas zwickte oder zwackte, doch waren Christofor und Arsenij der Welt der gewöhnlichen und gebrechlichen Dorfbewohner so weit enthoben, dass sie eher den Sphären jenseits als diesseits des Friedhofs zugehörten. Einzig ein zugelaufener Wolf, handzahm und zutraulich, leistete ihnen dauernde Gesellschaft, auf dass auch das Animalische vom Ozean der Vergeistigung durchdrungen und durchflossen würde.
Eingebetteter MedieninhaltDes Winters gefroren die Gewässer, gebrochen die morschen Bäume unter den Lasten des Schnees, verlässt der Wolf den Platz am Ofen seiner Gefährten, zu sterben allein in einer kalten Mulde im Schnee. Bald schon schlägt auch Christofors Stunde. Arsenij bleibt alleine zurück, mit niemandem verbunden, doch kommen die Kranken weiter zu ihm. Er kuriert ihre Leiden, lindert ihren Schmerz. Gelernt hat er alles von Christofor, ist dazu gesegnet mit einer Gabe des Heilens, die direkt aus seinen Händen strömt. Ein Sommer kommt, ein Winter geht, wieder bestellt der schwarze Tod sein Feld. Ein verwahrloster Klumpen Mensch kratzt an seiner Türe, ein Bündel der Pest, nimmt Arsenij sich seiner an, entdeckt die junge Frau in ihm und gibt sich ihr bald schon hin. Bewandert in vielem ist er doch unkundig im Gewöhnlichsten, schämt sich ihrer, Ustinas, womöglich ein wenig und versteckt sie vor den Blicken der Dorfbewohner. Geht nicht mit ihr zur heiligen Kommunion, empfängt nicht das Sakrament der Ehe. Doch liebt er sie grenzenlos, will das alles nachholen, wenn erst ihr Sohn zur Welt gekommen ist. Die Geburt ist das geringste Problem, einer Hebamme bedürfen sie nicht, hat er doch alles Notwendige und Wissenswerte auf den Birkenrinden Christofors gelesen, besitzt er doch die Gabe der heilenden Hände …
Nachdem des Schicksals Knoten unauflöslich festgezurrt, tritt Arsenij die eigentliche Reise seines Lebens an. Ein eigener Ort im Gefüge des Weltenraums ist ihm nicht mehr gegeben. Er geht, wohin es ihn verschlägt, bleibt, bis ein Impuls ihn weitertreibt. Die Zeit vergeht, verliert ihre Bedeutung, verschwindet im Nichts. Gefährten an seiner Seite prophezeien die Zukunft, das Ende der Welt im Jahre 7000 nach ihrer Erschaffung, Exkurse ins Reich der Sowjets durchbrechen das Raum-Zeit-Gefüge, beim Kräutersammeln im Wald tritt Ustin, wie Arsenij sich jetzt nennt, auf eine Plastikflasche. Das Heilen nimmt ihn nicht mehr gefangen, nur gelegentlich teilt er, der schon lange nicht mehr spricht, noch seine Gabe. Er ist dort, wohin Worte nicht dringen, ist das, was der Verstand nicht begreift, ein ausgemergeltes Gerippe in einem Lumpenschurz, das selbst im Winter nur zwischen zwei Bäumen nächtigt. Er wirft mit Steinen nach bösen Geistern, erduldet die Prügel der weltlichen Menschen, hat wie ein indischer Saddhu Zeit und Raum hinter sich gelassen, ist nur noch in Licht und Liebe seiner Innerlichkeit.
Eingebetteter MedieninhaltUstin ist ein mittelalterlicher Dadaist, ein Narr in Christo, ein Jurodiwy, wie diese Menschen im alten Russland hießen, auch wenn diese Bezeichnung nicht in Ewgenij Vodolazkins Roman vorkommt, den Olga Radetzkaja ziemlich gekonnt ins Deutsche übertragen hat, vor allem auch hinsichtlich der vielen altsprachlichen Passagen, die, im Original auf Altkirchenslawisch, ins Post-Luther-Deutsche eines Gryphius übersetzt wurden und sehr viel zum atmosphärischen Gewebe dieses äußerst stimmungsvollen Romans beitragen. Dieser Roman, Laurus, wurde mit den bedeutendsten russischen Literaturpreisen, dem Jasnaja-Poljana- und dem Big-Book-Preis, ausgezeichnet, vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen und bereits in siebzehn Sprachen übersetzt. Sein Autor, gebürtiger Kiewer, arbeitet seit 1990 als Literaturwissenschaftler am Puschkinhaus in Sankt Petersburg und wird seit Laurus als russischer Umberto Eco gefeiert. Dieser Vergleich, so berechtigt er vom schriftstellerischen Format her auch sein mag, geht allerdings fehl, da Eco, auch wenn er oft übers Mittelalter geschrieben hat, ein durch und durch rationalistischer Autor war, wohingegen bei Vodolazkin die Spiritualität einer magischen Weltsicht dominierend ist. Wie es sich für die Vita eines anständigen Heiligen, der was auf sich hält, gehört, reihen sich nämlich auch in der Hagiografie des Heiligen Laurus, wie Arsenij am Ende seines Lebens genannt wurde, Wunder an Wunder, so zum Beispiel Menschen, die übers Wasser laufen oder die Zukunft prophezeien oder eben Wunderheilungen verbringen. Doch stört man sich da als Leser nicht dran. Im Gegenteil versinkt man so sehr in die imaginierte Welt, dass einem Wunder als etwas vollkommen Natürliches vorkommen und man durch die Seiten hindurch die Verbindung zu einer Kraft spürt, die die eigenen Ängste und Sorgen vertreibt. So mag man diesem Roman nur viele Leser wünschen. Er ist Balsam für die Seele, gerade auch für alljene, die sich übergroße Sorgen ob des Weltenlaufs machen, angesichts von diesem und jenem gleich das Ende der Welt oder zumindest Deutschlands hervordräuen sehen und eigentlich nur eines guten Buches bedürfen, um ihre Herzrythmusstörungen zu beheben.
Evgenij Vodolazkin
Laurus
416 Seiten
25,00 Euro
Verlag: Dörlemann
Kommentare 14
Spannend und anschaulich erzählt, diese Buchvorstellung, vielen Dank! Kommt auf die Wunschliste :-)
hm, der geschmack der zeit und der vielen ist wahrscheinlich nicht meiner. von wundern hab ich hierzulande schon genug. etwa das wunder von bern, das wirtschaftswunder, das sommermärchen ...
"von wundern hab ich hierzulande schon genug..." Das Wunder von Bern, das Wirtschaftswunder, das Sommermärchen, sind das nicht gesellschaftspolitische, von den Medien mythologisierend hochgeputschte Ereignisse und Entwicklungen?
Also ich persönlich hätte schon noch mehr "wunder"bar frische Landluft :-)
Von anderen wundervollen Naturphänomenen kann ich ebenfalls kaum genug bekommen...
Aber - was mische ich mich überhaupt ein :-P
Kann doch soloto selbst was zu sagen, so er denn möchte, was mich Wunder nehmen würde.
...ich hätte schon noch gern mehr "wunder"bar frische Luft :-)
Also ich persönlich hätte schon noch mehr "wunder"bar frische Landluft :-)
liebe lee,
wo ist das problem? weniger rauchen und weniger auto fahren, und schon ist die landluft maiig grün...
Hallo H.Yuren,
zu ergänzen wäre bei Deiner Aufzählung von vermeintlichen Wundern unbedingt noch "Wunderwaffen", damit man mal deutlich sieht, in welcher sprachlichen Kontinuität "das Wunder von Bern" und das "Wirtschaftswunder" stehen. Ja, kann ich gut nachvollziehen, dass man auf solche Wunder keinen Bock hat und ihnen eher ablehnend gegenübersteht.
Die Wunder, die in Laurus vorkommen, sind dagegen welche, die für die christliche Literatur typisch sind, also übers Wasser Laufen, oder dem Bereich der Grenzwissenschaften zuzuordnen sind wie z.B. Präkognition und dergleichen. Literarisch wird das teilweise bis zum Balken Biegen eingearbeitet, aber dadurch kontrastiert, dass die Protagonisten des Romans anderen unaufgeklärten Unsinn des Mittelalters ebenfalls für bare Münze nehmen, wie z.B. die Vorstellung, dass es Menschen mit Hundeköpfen gebe oder es oben im Himmel einen Ozean gebe, aus dem es heruntertropft (Regen).
Dieser Trick mit dem Kontrast (der kritische Verstand kommt auch zu seinem Recht) führt dann dazu, dass man die Passagen, in denen es um energetisches Heilen geht, so hinnimmt, weil man schon spürt - ging mir jedenfalls so -, was die Russen mit "Energetika" meinen. Im Grunde, denke ich, ist der ideale Leser von Laurus hierzulande ein Heilpraktiker.
oben im Himmel einen Ozean gebe, aus dem es heruntertropft (Regen).
hallo soloto,
nach dem himmlischen ozean dürfte es nicht sehr weit bis zur erde als scheibe sein.
gegen kräuterkunde habe ich nichts, benutze z.b. kamille für diverse zwecke. besser ists natürlich, kein kraut zu brauchen.
in meinen regentonnen gibt es wasserläufer. aber für menschen ist das wie mit dem fliegen. mehr einbildung als realität. was man landläufig fliegen nennt, ist in wahrheit sowas wie wasserski, nur nicht auf oder im wasser, sondern auf bzw. in luft.
um es mit Guiseppe aus der Werbung zu sagen:
"Isch abe garr keine Auto" - aber die Straßen sind voll damit,
und rauchen tun nur die Nachbarn unter mir... :-(
Ansonsten mach ich mir die Luft, wiede wie sie mir gefällt :-)
Isch abe garr keine Auto" - aber die Straßen sind voll damit,
und rauchen tun nur die Nachbarn unter mir... :-(
liebe lee,
das wollte ich doch nur lesen... so gefällst du mir noch besser...
pippi langstrumpfs liedchen ist besser als die meisten kinder- und wiegeliedchen. ich denke speziell an: hoppe hoppe Reiter...
herzliche grüße, helder
Ja, natürlich sind die Personen im Roman auch der Ansicht, dass die Erde eine Scheibe ist. Wär ja auch komisch, wenn nicht. Schließlich leben sie innerhalb der magischen Weltsicht des Mittelalters und es wäre unauthentisch, es anders darzustellen.
Sind die Figur und das Ambiente des Laurus eigentlich mit dem "Medicus" zu vergleichen, der ja mal ein Bestseller war? So im allerweitesten mittelalterlichen Sinn...
Voll ertappt ... Die Überschrift sollte erst heißen "Laurus" - ein russischer "Medicus"? Aber dann waren mir das doch zu viele Anführungszeichen und mir ist der Medicus auch nicht mehr so präsent. Zu lange her, zu jung gewesen, als dass ich ihn jetzt noch beurteilend zu einem Vergleich heranziehen könnte.
Hm, ja, hab ja eigentlich ziemlich wenig gespoilert vom Roman. Der Held führt halt viele verschiedene Leben. Als Arzt/ Heiler, als Narr in Christo, als Pilger, als Mönch. Rote Fäden gibt´s mehrere, die Liebe und Zwiesprache mit der verstorbenen Frau, die Heilungen, die Zeit-Philosophie, die Reifung ...
:-)
Die hier von dir letztlich gewählte Überschrift ist eindeutig besser! Die verschiedenen Webfäden klingen für mich schon anders als im Plot vom Medicus, ja, ist bei mir auch schon was länger her... also heißts für mich: ran an die Buchdeckel.