Im 20. Jahrhundert hat sich das Britische Empire zweimal bis zur völligen Erschöpfung verausgabt, um zu verhindern, dass Kontinentaleuropa unter deutsche Kontrolle gerät. Jetzt überlassen die Briten den Kontinent freiwillig den Deutschen. Der Brexit kann als zweites Dünkirchen gelten, bei dem die Flucht vom Kontinent dieses Mal allerdings durch Verhandlungen und ohne eilig zusammengezogene Fischereiflotte organisiert wird, was die Angelegenheit jedoch nicht ansehnlicher macht. Wären die Briten konsequent, müssten sie den Trafalgar-Square nun in Kaiser-Wilhelm-Platz umbenennen. Denn jetzt gibt es kein Mitgliedsland in der EU mehr, das den Deutschen etwas entgegensetzen, sie zur Räson bringen könnte. Damit ist die EU so gut wie erledigt.
Ok, ein recht plakativer Einstieg ins Thema und von der Denke her scheinbar ein wenig aus der Zeit gefallen, aber so what. Auch ernstzunehmende Ökonomen sehen den Brexit als Anfang vom Ende des Euros und der EU an. Warum, kann man hier en detail nachlesen. In vorliegendem Text will ich mich dagegen darauf konzentrieren, die Aufmerksamkeit auf gewisse Aspekte zu lenken, die ich so in der Art noch nirgendwo anders gelesen habe. Also, let´s go: Gut 25 Jahre nach Abschluss des Vertrages von Maastricht hat sich der Eindruck verfestigt, dass mehr Europa immer auch weniger Demokratie bedeutet. Daraus haben die Briten die Konsequenz gezogen und treten nun aus. Das ist sehr verständlich, denn es ist nicht absehbar, dass die Europäische Union sich von sich aus so reformiert, dass eine Mehrheit der europäischen Bürger sagen würde: „Das ist unser Europa, die EU macht eine Politik, die für uns ist.“ Doch geht mit dem Austritt ein immenses ökonomisches Risiko für die Briten einher, auch das Alltagsleben, vor allem der Auslandsbriten, wird davon nicht unberührt bleiben und die Existenz des Vereinigten Königreichs als solches durch die proeuropäischen, separatistischen Bestrebungen der Schotten und Nordiren einer harten Belastungsprobe unterzogen werden. Insofern, Respekt, Tommies, Respekt, dass ihr trotzdem diesen Schritt gewagt habt, nach welchem ihr euch in einer mutmaßlich eher unsplendid-isolation wiederfinden werdet, in der ihr alleine den neuen Giganten China, EU, USA, Russland und den großen aufstrebenden Schwellenländern, darunter einige eurer alten Kolonien, gegenüberstehen werdet. Lieber wäre es mir ja gewesen, ihr hättet einen Gegenentwurf vorgelegt, wie die Europäische Union eurer Meinung nach aussehen sollte, damit ihr, genauso wie die vielen Skeptiker aus anderen Ländern, sie akzeptieren könntet. Stattdessen haben sich die verschiedenen Regierungen Eurer Majestät in den vergangenen Jahren leider darauf beschränkt, Vorzugskonditionen für euer Land herauszuhandeln, was aber am eigentlichen Problem, nämlich dass dieser bürokratische und undemokratische Koloss namens EU nicht das ist, was ihr euch wünscht, nichts geändert hat. Wenn ich einem Land aber zugetraut hätte, ein überzeugendes Alternativkonzept zu formulieren und eine Mehrheit dafür zu gewinnen, dann dem Eurigen, Großbritannien. Doch diese Chance ist nun leider vertan.
Stattdessen wird das europäische Projekt den Deutschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Der deutschen Regierung, die ernsthaft daran glaubt, dass andere Länder eigentlich nur so viel Geld benötigen, um ihren Bedarf an deutschen Waren zu decken, und alles, was darüber hinausgeht, einsparbar sei. No words. Und dem deutschen Volk. Also, dem Teil des Volkes, das pro EU ist, die Meinungsführerschaft inne hat und das bereit ist, das strukturelle Demokratiedefizit und die antisoziale Politik der EU noch weitere 25 Jahre zu ignorieren. Also derjenigen, die „gute Europäer“ sein wollen und nicht checken, dass das ungefähr genauso dämlich ist wie ein „guter Deutscher“ sein zu wollen. Der Deutschen also, die nicht deutsch sein wollen und infolgedessen mit klebrigstem Vereinigungspathos jedem um den Hals fallen, der nicht bei drei aufm Baum ist. Stichwort "Grenzen überwinden!" Ob Syrer, Engländer oder Ukrainer – wir vereinigen uns jetzt mit allen. Und ob die Nazis auf ihre Weise nicht auch schon Grenzen überwinden wollten und es vielleicht eine gute Idee wäre, zur Abwechslung mal die Grenzen anderer Leute zu respektieren (und auch die eigenen zu spüren und sie gegebenenfalls nicht überschreiten zu lassen), spielt keine Rolle. Nein, wir haben aus unserer nationalsozialistischen Vergangenheit gelernt, wir wollen jetzt Internationalsozialismus – die Vereinigung aller mit allen, nur um der Vereinigung willen, eine Vereinigung, bei der Demokratie, Sozialstaat und eine intelligente Friedenspolitik keine Rolle zu spielen brauchen. Denn wozu auch? Die Hauptsache ist ja, dass wir uns als gute Europäer nicht mehr als Deutsche fühlen müssen, dass wir in etwas Größerem aufgegangen, dass wir endlich unsere Nationalscham losgeworden sind. Ja, die Scham als zugrundeliegendes Motiv für eine Vereinigung mit anderen Völkern, die frei von dieser Scham sind, einfach, weil sie sich in ihrer Vergangenheit nicht so hölleschreiend idiotisch angestellt haben wie die Deutschen – das muss einfach funktionieren (Ironie aus).
Nein, nein, also, ich kann gut verstehen, wenn man da Reißaus nimmt und sich nicht „vereinigen“ lässt. Die Überwindung der deutschen Nationalscham als Idee für ein vereinigtes Europa (Demokratie, Sozialstaat und Frieden, vgl. Konfrontationspolitik gegen Russland, sind es ja nicht, siehe diesen Text) ist eindeutig zu wenig. Bleibt als Bindungskraft für das europäische Projekt eigentlich nur der wirtschaftliche Vorteil, den Länder aus einer Mitgliedschaft ziehen, doch ist dieser in der Eurozone nicht mehr gegeben, nicht zuletzt dank verschiedener deutscher Regierungen. Insofern wird es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis die Völker anderer Länder sagen: Ach ne, machen wir doch lieber unser eigenes Ding …
Gewiss werden unsere guten, unsere besten Europäer dann aufjaulen und die Welt nicht mehr verstehen. Aber sie verstehen sie ja jetzt schon nicht, haben zum Beispiel bis heute, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht wahrgenommen, dass bei den anstehenden Präsidentenwahlen in den USA Trump der bessere Kandidat ist als Clinton, vor allem was seine sicherheitspolitischen Konzeptionen angeht. Und schimpfen werden sie, schimpfen auf diese seltsamen Wirrköpfe, die nicht gegen ihre eigene Lebenswirklichkeit und ihre Interessen anleben wollen, um sich dadurch „gut“ zu fühlen … Allein gelassen und verschmäht werden sich dann die Deutschen, die nicht deutsch sein wollen, die Wähler der Grünen wohl, von Ländern umgeben sehen, die sich dann doch nicht mit ihnen vereinigen wollten und, shit and dammit!, lieber Rechtspopulisten gewählt haben, weil die leider als Einzige derzeit glaubhaft behaupten können, die Interessen der Mehrheitsgesellschaft vertreten zu wollen …
Doch was tun, wenn nicht sich bis zur Besinnungslosigkeit vereinigen? Vielleicht, das Eigene und das Gemeinsame innerhalb des europäischen Projekts so auszubalancieren, dass es für die Menschen in Europa stimmig ist? Vielleicht zu einer Politik und, ganz wichtig, einer Sprache finden, die die Mehrheitsgesellschaft nicht permanent vor den Kopf stößt, sondern Lust macht, über den eigenen Tellerrand zu blicken und sich auch für die Lebenswirklichkeiten diskriminierter Minderheiten zu öffnen? Ach ja, es gäbe so viele kleine Umjustierungen in allen möglichen Bereichen, die man vornehmen könnte, um den großen Zulauf für die Rechtspopulisten wieder zu stoppen und den Druck aus dem Kessel zu nehmen, aber wozu, wenn man auch einfach weiter so wie bisher verfahren kann.
Insofern: Bon voyage in den Abgrund wünscht,
TJ
Kommentare 27
Mit dieser Herangehensweise kann man jeden Puffbesuch mythisch überhöhen.
Wobei ich zugebe, dass der Vergleich hinkt: beim Puffbesuch sind die Motive nicht so gemischt wie beim Brexit-Votum.
Ist sich wohl jemand zu fein für Captain Obvious.
Respekt? Ich denke der Autor hat manches falsch verstanden. Die Briten sind ausgetreten weil viele nicht über die Folgen nachgedacht haben, weil sie auf Populisten reingefallen sind, weil sie sich seit Jahren unsolidarisch benehmen usw.
Eine EU nach britischen Vorstellungen wäre schlimmer als der jetzige Zustand.
Die Briten sind ausgetreten weil viele nicht über die Folgen nachgedacht haben, ...
Das würde ich trotz des knappen Ergebnisses nicht so hoch hängen. Es haben auch viele gegen den Brexit gestimmt, ohne über die Folgen nachzudenken.
Übrigens wird bisher von allen Seiten ein viel zu großes Fass aufgemacht. Das Referendum hatte, um das in Erinnerung zu rufen, beratende Funktion.
Entweder, die beiden Seiten des Kanals erreichen vor einer Aktivierung des Artikel 50 einen Vertrag, der sie zufriedenstellt, oder das UK hangelt sich wieder davon runter.
Ich würde mir eine starke britische Stimme in der EU - zusammen u. a. mit den Visegrád-Staaten, durchaus wünschen. Wir müssen ja nicht ihr Wirtschaftssystem übernehmen.
Die Folgen sind für die Briten weitaus schlimmer. Überrascht über die Folgen waren nicht die Befürworter eines Verbleibs sondern die Gegner. Die Briten haben viel Unruhe und Probleme verursacht. Insofern besteht die Chance, daß es leichter wird.
Eine Regulierung des Finanzmarktes haben die Briten verhindert. Das alleine hat hunderte Milliarden gekostet die alle tragen mußten.
Die Briten haben viel Unruhe und Probleme verursacht. Insofern besteht die Chance, daß es leichter wird.
Zum einen ist Großbritannien noch lange nicht raus. Und zum anderen ist es in der "Union" Usus, eigene Versäumnisse bzw. Motive mit der angeblichen Spielverderberei anderer zu vertuschen.
Nun, wie die letzten Jahre zeigen ist es leider so.
Dann zeigen Sie doch mal.
Was zeigen?
Inwiefern vor allem das UK den Dreck am Stecken haben soll.
Respekt? Klar, was denn sonst? Die Briten haben ihre Entscheidung getroffen, mutmaßlich eher aus dem Bauch heraus denn nach sachlicher Abwägung der Argumente, aber sie haben ihre Entscheidung getroffen - und das verdient Respekt. Auch wenn man ihre Entscheidung für falsch und objektiv für schädlich hält. Trotzdem ist es wichtig, sie zu verstehen - und das geht bei Entscheidungen, die aus dem Bauch heraus getroffen werden, nur durch Analyse der emotionalen Dynamik. Auch wenn einem dann "Puff-Niveau" unterstellt wird.
Falls sie die letzten Jahre nicht verfolgt haben sollten finden Sie vieles im Internet.
Zur Zeit sieht man Briten wie Entscheidungsträger am zurückrudern. Nennt man das naiv oder dumm?
Also erst mal alles glauben was von Populisten kommt, ein Kreuz machen, darauf stolz sein und anschließend sagen: Ich habe nicht gewußt was ich tat.
Nun ja, mündige Bürger eben.
Der englische Autor Tim Parks, der in Italien lebt und deshalb beim Referendum nicht wahlberechtigt war, hätte für Remain gestimmt, ärgert sich aber über die Selbstgerechtigkeit der Brexit-Gegner: Die Engländer haben einfach vor langer Zeit aufgehört, an einen Sinnes- oder gar Stilwandel seitens der EU zu glauben. Und sie hatten keine Angst, den Bann zu brechen, der Europa so lang gefangen hielt.
Zur Zeit sieht man Briten wie Entscheidungsträger am zurückrudern. Nennt man das naiv oder dumm?
Mir scheint, "man" liest vor allem Publikationen, die von vornherein gegen den Brexit waren, und die exemplarisch jedem reuigen Sünder Symbolstatus verleihen, weil's ins gewünschte Bild passt.
Beispielsweise das tagelang herumgereichte Argument, "die Alten" hätten "den Jungen die Zukunft bestimmt", bis dann so langsam mal schüchtern darauf hingewiesen wurde, dass nur 36% der hoffnungsvollen Jugend sich am Referendum beteiligt hatte.
Es ist eine Frage der Medienkompetenz, nicht jedes Stimmungsbild unreflektiert auf sich wirken zu lassen - auch wenn man, wie ich z. B., vom Referendumsergebnis enttäuscht ist.
Well said, Sir.
Nun, man könnte auch sagen, die Briten haben sich immer sehr egoistisch gezeigt in Bezug auf ihre eigene Position. Soviele Sondervergünstigungen wie z.B. den Briten-Rabatt bekam kein anderes Land. Wer sich über die EU beschwert aber permanent Privilegien fordert macht sich unglaubwürdig.
Auch wurde die EU häufig von GB durch Veto blockiert. Auch dies hat Probleme verursacht über die die Briten sich wieder beschwerten.
Was solls. Der Austritt ist zu verschmerzen und die Folgen für die Wirtschaft werden nicht sehr groß sein.
Falls sie die letzten Jahre nicht verfolgt haben sollten finden Sie vieles im Internet.
Wenn Sie mit Ihren Vorwürfen gegen London so schnell bei der Hand sind, gehe ich davon aus, dass Sie Ihre Sachen parat haben.
Auch wurde die EU häufig von GB durch Veto blockiert. Auch dies hat Probleme verursacht über die die Briten sich wieder beschwerten.
Na, dann bitte Butter in die Pfanne. Werden Sie mal konkret.
Nein, man liest nicht nur das. Medienkompetenz zeigt sich auch dadurch, daß man dazuschreibt wieviel Alte abgestimmt haben und ob die Beteiligung überhaupt etwas mit Ihrer Ausführung zu tun hat.
Ich seh' schon - das wird nichts, Herr Duvall. Ich denke, wir überlassen es interessierten Mitlesern zu beurteilen, ob Sie Ihre Vorwürfe belegt oder zumindest mit konkreten Fakten unterfüttert haben.
Da sie ja Medienkompetenz besitzen brauche ich wohl keine Quellen zu zitieren. Ihre Vorgehensweise ist mir nur zu bekannt. Ihre laienhafte, psychologisch erklärbare Frageweise verfängt nicht bei jedem. Von AFD Anhängern ist sie mir gut bekannt.
Wobei ich mir bezüglich einer Zugehörigkeit kein Urteil erlaube.
Dazu habe ich von Ihnen bisher nichts gehört. Der Satz von den "Mitlesern" habe ich schon oft gelesen. Scheint in einem Leitfaden zu stehen um in einer Situation als vermeintlicher "Sieger" gelten zu können.
Aber um Sie beim Wort zu nehmen, untermauern Sie doch einmal ihre Position. Ich habe wenig Widerworte gelesen.
Wer anklagt, muss liefern, Herr Duvall.
Lach, aber nicht Ihnen.
Hallo von einem Mitleser; mich würde auch interessieren, an welche konkreten Fälle sie dachten. Das ist weder eine rethorische noch eine Fangfrage, sondern eine sachlich-interessierte. Ein paar Stichworte würden schon reichen.
Und ob die Nazis auf ihre Weise nicht auch schon Grenzen überwinden wollten und es vielleicht eine gute Idee wäre, zur Abwechslung mal die Grenzen anderer Leute zu respektieren...
Musste gut lachen dabei. Aber insgesamt ist mir beim Artikel ein bisschen unklar, was ernst und was Ironie ist. Da gehen für meinen Geschmack die Inhalte ein bisschen verloren.
Denken Sie wirklich, dass die Engländer aufgrund des Demokratiedefizits für den Austritt gestimmt haben? Erscheint mir recht abwegig; letztlich sind die 'großen' Umschwünge der öffentlichen Meinung doch immer auf sozioökonomische Faktoren zurückzuführen. Die Engländer sind m.E. vor allem wütend über den wirtschaftlichen Niedergang - der allerdings ist auf Thatcher und Blair zurückzuführen und hat mit der EU rein gar nichts zu tun.
Und welche 'britische Vision' des vereinten Europas könnte das sein? Wenn 'die Briten' keine politische Union wollen, ist eine Verständigung nicht möglich und der Rückzug (nach dem Teilabschied Ende 2011) nur folgerichtig.
Untergang der EU - oder Großbritanniens, das ist hier die Frage. Eigentlich hat 'der Kontinent' die deutlich besseren Karten, aber gerade das macht es so gefährlich.
Danke für das konstruktive Feedback, erstmal. Ja, meiner Meinung nach ziehen die Briten mit dem Brexit-Votum die nationale Karte - und dementsprechend wollte ich einen Artikel aus dieser Perspektive schreiben, was aber nicht ohne Ironie geht. D.h. geht natürlich schon ohne, aber dann ist´s halt nationaler Bullshit. Aber anyway, der Artikel ist natürlich grob gestrickt, geht nicht so sehr in die Feinheiten der konkreten ökonomischen Analyse. Hab deswegen auf ein paar Artikel verlinkt, die ich besonders gelungen fand und denen ich mich im Großen und Ganzen anschließe.
Warum die Briten austreten? Ich denke, weil es ihnen, schon seit Jahren, im Grunde too much ist. Da ist ein Faktor der Brüsseler Bürokratismus - ein anderer aber diese deutsche Vereinigungsklebrigkeit, die meines Erachtens nach viel zu wenig thematisiert wird, aber auf die Dauer abstoßende Wirkung haben dürfte.
Eine EU nach britischem Gusto hätte, denke ich, eine sein können, in der nicht danach gestrebt wird, so viel wie möglich gemeinsam zu machen, sondern nur das, wo´s auch wirklich erheblich Sinn macht, sodass jeder noch genügend Spielraum hat, um sein eigenes Ding zu machen.
Die nationale Karte ziehen - beinhaltet nicht diese Formulierung bereits, dass es eigentlich um etwas Anderes Geht? Klar ist viel Nationalismus im Spiel, darüber müssen wir nicht reden, aber die (Rück-)Besinnung aufs Nationale ist doch letztlich nur ein Symptom einer verbreiteten Unzufriedenheit. Solange deren Ursachen nicht bearbeitet werden, wird sie sich immer ein Ventil suchen, ob nun Religion/ Spiritualität, Hedonismus und Rückzug ins Private oder eben Nationalismus und Rassismus.
Den 'Vereinigungspathos' habe ich bislang nicht als etwas typisch Deutsches betrachtet, sondern als Teil der allgemeinen EU-Folklore, aber vielleicht haben Sie Recht. Bei Griechenland war es auffällig, wie wenig Substanz gerade bei der hiesigen Politik hinter den Sonntagsreden von Gemeinschaft etc. steckt.
Dass so viel wie möglich gemeinsam gemacht werden soll sehe ich nicht; vielmehr ist mein Verständnis, dass eben genau die Bereiche 'harmonisiert' werden, wo es "erheblich Sinn" macht - das sind aber aufgrund der Freizügigkeit ziemlich viele und wichtige.
Schon der Binnenmarkt kann auf Dauer nicht ohne gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik (Bsp. Steuerdumping) funktionieren, beim Euro ist es dann ganz aus. Egal ob Lohnpolitik, Steuern, Umweltstandards oder Rechtsprechung: Es muss eine Angleichung geben, weil sie sonst durch die offenen Grenzen ständig unterlaufen und damit ad absurdum geführt werden können.
Wenn also der EU ein Vorwurf gemacht werden kann, dann dass der Integrationsprozess nicht ehrlich war: Es wurde so getan, als seien es rein ökonomische Harmonisierungsprozesse, obwohl den allermeisten Beteiligten klar gewesen sein muss, dass diese ohne gemeinsame Politik nicht funktionieren und somit mittelfristig erzwingen würden, was in den 90ern politisch nicht (im Konsens) möglich war.
Was Großbritannien sich damals gedacht hat weiß ich nicht. Wenn sie tatsächlich austreten - wenn! - , werden sie in der wenig vorteilhaften Situation sein, dass sie die allermeisten EU-Regulierungen übernehmen müssen, um am Binnenmarkt teilzunehmen. Alles Andere ist logisch widersprüchlich und kann von der EU gar nicht erlaubt werden.
Ein ziemliches Schlamassel. Aber es ist zu spät, das zu ändern, von daher kann es jetzt nur um eine Verbesserung und Demokratisierung des Bestehenden gehen. Der Versuch, nur einige Elemente rückgängig zu machen, würde unweigerlich zu zunehmender Desintegration, Nationalismus und möglicherweise Schlimmerem führen.