Das Zeitalter der Angst

Unmut Angst essen Seele auf: Vom Ungefühl unserer Zeit.

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Ich schreibe diesen Text aus der unsicheren Distanz meines tropischen Refugiums hier auf den Philippinen bei 35 Grad Celsius und 75% Luftfeuchtigkeit. Es ist 12:34 Uhr und am Himmel ziehen Wolken auf, am liebsten würde ich schreiben: dunkle Wolken. Aus der Onlineausgabe der Frankfurter Allgemeinen springt mir der Titel eines Kommentares ins Auge: „Pandemie und Klimawandel sind erst der Anfang“. Ich muss leer schlucken.

1947 veröffentlichte W. H. Auden (1907–1973) seinen großen Versdialog „Das Zeitalter der Angst“. Auch Albert Camus sprach später von einem Zeitalter der Angst. Gibt man „Zeitalter der Angst“ auf Google ein, dann generiert dieser Suchbegriff eine lange Reihe von Ergebnissen. Pandemie und Klimawandel sind also erst der Anfang. Das Zeitalter der Angst ist wieder zurück. Hat es jemals aufgehört? Oder wird die Allgegenwart der menschlichen Angst, die übrigens auch eine schöpferische Kraft sein kann, einfach immer wieder neu vertont und interpretiert?

Vor uns die Sintflut. Ich fasse den Titel dieses Kommentares als Metapher für unser gegenwärtiges Lebensgefühl auf: Pandemie und Klimawandel sind erst der Anfang. Nach der Ebbe kommt die Flut. In den Gewässern des südchinesischen Meeres kreuzen zur Zeit US-amerikanische, australische, kanadische und japanische Kriegsschiffe- nebst jenen der chinesischen Kriegsmarine, nota bene. Die Grenzen der Nationen werden wieder einmal neu gezogen und die Wolken am Horizont werden dunkler. Bald hat meine Frau Geburtstag. Ihre Familie hat ein kleines Fest für sie vorbereitet und ich habe eine wunderschöne, seltene Orchidee für sie gekauft. Es ergeht leiser Donner. Ein Gewitter zieht auf.

Die kollektive Wahrnehmung unserer Zeit gleicht einer grossflächigen, offenen, blutenden Wunde unter freiem Himmel. Alles, was ihre nässende Oberfläche berührt, ruft augenblicklich starke Schmerzen hervor und lässt den ganzen Körper zusammen zucken. Es gibt kaum etwas, was nicht mit dieser Wunde in Berührung kommt. Und dann noch diese Fliegen überall... Sie will einfach nicht heilen, diese offene, eitrige und nasse Wunde.

Ich träume immerzu von Europa, obwohl ich schon lange hier auf den Philippinen lebe. Europa nehme ich nur noch schemenhaft wahr. Heimat ist etwas, was nur der Reisende kennt, hat Franz Kaffka einmal geschrieben. In meinem Rücken steckt kein fauler Apfel. Und Albträume habe ich seit meiner Abreise keine mehr gehabt. Aber die Zeit, in der ich lebe, entwickelt sich langsam zu einem. Zumindest scheint mir das so. Man ist nirgendwo mehr sicher, selbst in den eigenen Tagträumen nicht. Und dann diese verdammte Seuche erst! Jetzt fällt zu allem Übel auch noch der Strom aus.

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Reinkarnation

„Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen.“ Albert Camus

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