Das Unternehmen Uni ist gescheitert

Wettbewerb Zu lang schon bieten Hochschulen nicht mehr Freiraum für Streit und Ideen. Corona zeigt deutlich, wie sehr das fehlt
Ausgabe 14/2021
Student*innenproteste gibt es zwar noch, sie fallen aber oft deutlich harmloser aus als die vor einigen Jahren noch gelegentlich durchgeführten Streiks
Student*innenproteste gibt es zwar noch, sie fallen aber oft deutlich harmloser aus als die vor einigen Jahren noch gelegentlich durchgeführten Streiks

Foto: Miguel Villagran/Getty Images

Es ist still geworden an den Universitäten. Seit einem Jahr funktionieren sie relativ geräuschlos. Hochschulen befinden sich in keinem Ausnahmezustand, anders als Krankenhäuser oder Schulen. Es soll sogar Kollegen geben, die endlich die Zeit finden, ein Buch zu schreiben. Diese Ruhe bedeutet nicht, dass es keine Überforderung, Zukunftsängste oder geplatzten Träume gäbe. Sie bedeutet auch nicht, dass alle gleichermaßen betroffen wären, Studierende wie Lehrende, Wissenschaftlerinnen wie Wissenschaftler. Die Empirie erzählt bereits eine andere Geschichte: Die Publikationstätigkeit von Frauen in der Wissenschaft nahm seit der Pandemie signifikant ab, während die ihrer männlichen Kollegen sogar zunahm. Und die Kluft zwischen Studierenden aus Arbeiter*innen- und jenen aus Akademiker*innenfamilien weitet sich aus. Doch wie schwer wiegen diese Belastungen angesichts des Schicksals anderer gesellschaftlicher Sektoren?

Was aber geräuschlos funktioniert, wird in dem aufgeheizten Politikbetrieb leicht übersehen. Die Universitäten kommen im öffentlichen Corona-Diskurs daher schlicht nicht vor.

In diesem Nichtvorkommen ereignet sich womöglich eine unbemerkte Transformation. Damit ist nicht die Sprunginnovation gemeint, die die Pandemie in Sachen Digitalisierung ausgelöst hat. Vielmehr scheint das Herunterfahren des universitären Lebens etwas auf die Spitze zu treiben, das in der unternehmerischen Hochschule schon weit vorangeschritten war.

Auf Wettbewerb getrimmt

Damit bezeichne ich jene Gestalt des akademischen Betriebs, welche die Massenuniversität seit Ende der 1990er Jahre abgelöst hat und immer weitere universitäre Bereiche dem „Tribunal des Marktes“ unterwarf, wie der französische Philosoph Michel Foucault es formulierte: Ein „Workload“, der mit „Credit Points“ vergolten wird in Bachelor- und Masterstudiengängen, die den Magister und das Diplom ersetzten, die Modularisierung der Studiengänge, Akkreditierungsagenturen, Zielvereinbarungen, Exzellenzinitiativen, Drittmitteldruck, Peer-Review und prekäre Arbeitsverträge hatten die Hochschulen bereits vor Corona so auf Wettbewerb getrimmt, dass es nur konsequent war, als eines Tages die Universität Frankfurt eine Unternehmensberatung anheuerte.

Die Umstellung auf eine marktnahe Organisationslogik änderte nichts an der Misere der Universität, an den schlechten Betreuungsrelationen etwa – dazu hätte das Personal massiv aufgestockt werden müssen –, sondern multiplizierte die Bürokratie. Vor allem aber ließ diese Entwicklung allmählich etwas erodieren, dessen Verschwinden erst jetzt, da es nicht mehr existiert, so richtig greifbar wird. Etwas, das gar nicht so leicht auf den Begriff zu bringen ist, obgleich es doch das Wesentliche der Universität ausmacht, der universitas, der Gesamtheit der Wissenschaften, der Lehrenden und Lernenden.

Dieses Gemeinsame erschien viel zu lange als Beiwerk. Erst jetzt, da die Universitäten in der Pandemie auf ihr „Kerngeschäft“ reduziert werden, springt es als das Gegenteil des Social Distancing ins Auge: Wissenschaft und Bildung sind verkörperte, affektive und kreative Prozesse, die Zeit, Raum und gemeinsame Praxis benötigen. Sie lassen sich nicht durch Zielvereinbarungen verordnen. Kommunikation, Kooperation und Erkenntnis, aber auch Leidenschaft und Empathie, entfalten sich in den offiziellen universitären Formen nur, weil sie Momente eines umfassenderen Gemeinsamen sind.

Museal

Denn zur Kommunikation in körperlicher Anwesenheit gehören nicht weniger die nächtelangen Debatten in den Küchen der Wohngemeinschaften, die Gespräche auf den Universitätsfluren oder nach Vorlesungen, in den Konferenzpausen, in Mensen und Kaffeehäusern – nicht zu vergessen die Lesegruppen und studentischen Kämpfe für Freiräume. In diesen Beziehungsweisen werden die üblicherweise getrennten Bereiche von Arbeit und Freizeit, von öffentlich und privat, in einem produktiven Sinn aufgehoben. Die Neuen, die durch die Pandemie noch nie eine Universität von innen gesehen haben, können nicht einmal eine Fantasie davon entwickeln. Die leer stehenden universitären Gebäude wirken befremdlich museal.

Das offenkundigste Anzeichen dafür, dass bereits die unternehmerische Hochschule dieses entscheidende Potenzial schon vor der Pandemie substanziell ausgehöhlt hat, ist das Ausbleiben der studentischen Streiks. Diese gehörten seit Ende der 1960er Jahre mit konjunktureller Regelmäßigkeit zur Normalität der Universität – die letzten großen fanden 2003, dann 2005/2006 und 2009 statt. In jenen Streiks, in denen Generationen von Studierenden politisch sozialisiert wurden und in denen soziale Beziehungen entstanden, die meist ein Leben lang hielten, wurden alle wesentlichen Verbesserungen erkämpft, zuletzt die Abschaffung der Studiengebühren.

Doch seit zehn Jahren gibt es keine Streiks mehr – jedenfalls nicht an den Universitäten. Hier schien das Gemeinsame mit dem Ende der fordistischen Massenuniversität zu verblassen. Der französische Philosoph Jacques Rancière stellte vor einigen Jahren die These auf, dass sich das Begehren nach dem Gemeinsamen, nachdem die kollektiven Räume und Organisationen zerstört wurden, in den sozialen Bewegungsformen der Platzbesetzungen neue Orte aneignet hat: 2011 während des Arabischen Frühlings sowie in Griechenland und Spanien, 2016 in Frankreich bei „nuit debout“, 2019 bei den Fridays for Future. Auch diese basieren auf der materiellen, körperlichen Präsenz.

Hypervereinzelung

Die pandemiebedingte radikale Suspendierung des Gemeinsamen ist die Zuspitzung dieser Entwicklung. Auch wenn die digitalen Programme gerade zur rechten Zeit verfügbar waren, so lässt sich das universitäre Leben darin kaum abbilden, nicht einmal in den virtuellen Arbeitsgruppenräumen. Die erschöpften Eltern genauso wie die Vereinzelten, die in ihren Wohnungen oder in überteuerten Einzimmerapartments, in ihren alten Kinderzimmern oder in WGs auf den bloßen Bildschirm und das mehr oder minder gut funktionierende Internet zurückgeworfen werden, sind sich ihrer körperlichen Existenz in dieser Hypervereinzelung durchaus bewusst.

Das, was über Jahre unbemerkt immer mehr verschwand, wird in dem Moment, da es schlagartig suspendiert ist, umso deutlicher. Seine Rückkehr wird sehnlichst erwartet. Das Wissen darüber, dass es das Wesentliche der Universität ausmacht, wird bleiben und könnte eine Dynamik entfalten, die nicht eingetreten wäre, wäre die Erosion graduell weiter vorangeschritten. Das Ereignishafte bewirkt einen Bruch mit den routinierten Alltagspraxen und holt das Selbstverständliche aus seiner Unsichtbarkeit. Dies wird eine Rolle spielen, sobald mit der Pandemie auch die Haushaltsbudgets abflauen werden.

Erfolgt dann eine Radikalisierung der unternehmerischen Hochschule durch die Ablösung der Präsenzuniversität, vermittelt über Sparprogramme und eine Inwertsetzung der digitalen Lehre? Oder aber beginnt hier eine neue Reformphase, angetrieben von der Erfahrung des radikalen Verlusts? Wird die Pandemie der Beginn der Aufwertung „akademischer Sorgearbeit“ sein, die, wie meine Kolleginnen Kendra Briken, Birgit Blättel-Mink, Alexandra Rau und Tilla Siegel dies beschreiben, für das Gemeinsame der Universität konstitutiv ist?

„Fin de l’université“ lautete die Devise des Mai 1968, eine Form der Universität fand ihr Ende, eine neue nahm ihren Anfang. Auch das, was aus dieser Krise hervorgeht, hängt von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ab.

Es ist die Erfahrung des Fehlens des Gemeinsamen, die Sprengkraft besitzen könnte.

Sonja Buckel ist Professorin und Dekanin am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel

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