Das Stigma tötet

Prostitution Nach dem tragischen Mord an zwei Sexarbeiter_innen wurde am vergangenen Freitag weltweit ein Protesttag gegen Gewalt gegen Sexarbeiter_innen organisiert

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Jasmine war 27, Mutter von zwei Kindern, Sexarbeiterin sowie Aktivistin für die Sexworker-NGO Rose Alliance. Vor zwei Wochen wurde sie von ihrem Ex-Ehemann ermordet. Schon oft hatte sie versucht Anzeige wegen häuslicher Gewalt zu erstatten. Nebenher lief ein langwieriger Sorgerechtstreit. Ihr Ex-Ehemann erlaubte ihr nicht, die gemeinsamen Kinder zu sehen. Doch man glaubte ihr - einer „Hure“ - nicht und ihr zukünftiger Mörder erhielt letztendlich das alleinige Sorgerecht mit der Begründung, dass eine Sexarbeiterin als Mutter nicht geeignet sei.

Das ereignete sich in Schweden, wo Geschlechtergerechtigkeit und Feminismus allen Frauen ein besseres Leben ermöglichen sollte, dort wo der Kauf von sexuellen Dienstleistungen „zum Schutz der Frauen“ in der Prostitution verboten ist, wo aber ein schweres Stigma weiterhin über Sexarbeiterinnen schwebt: Bis zu ihrem Tod und darüber hinaus.

Dora war 24 Jahre alt, eine Transfrau und ebenfalls Sexarbeiterin. Sie wurde vor zwei Wochen in der Türkei ermordet, wo sie der staatlich geduldeten Transphobie zum Opfer gefallen ist. Richard Köhler von Transgender Europe sprach in einem Artikel von systematischen Morden von TransMenschen in der Türkei. Manche sprechen gar von einem Massaker und von Hassverbrechen.

Weltweit gab es Proteste vor der schwedischen und türkischen Botschaft

Die Morde lösten eine weltweite Protestwelle unter Sexarbeiter_innen und LGBT-Menschen und Organisationen aus, die jedoch nur geringe mediale und zivilgesellschaftliche Aufmerksamkeit und Unterstützung erfuhr. Auch in Berlin fand am vergangenen Freitag ein Protest vor der schwedischen Botschaft statt, an dem sich ca. 50 Menschen beteiligten. Proteste gab es in vielen Sädten weltweit, doch nur jene in Australien, Frankreich, Großbritannien und Italien schafften es in die Medien, auch in die schwedischen Medien hier (Englisch), hier und hier. Sie protestierten gegen Gewalt und Morde an Sexarbeiter_innen. Schuld daran sei die gesellschaftlich verbreitete und akzeptierte Stigmatisierung von Prostituierten. Auch Rechte von Sexarbeiter_innen sind Menschenrechte, so ihr Slogan.

Die europäische Sexworker-Organisation ICRSE schrieb in einer Pressemitteilung:

„In jedem Land, in Europa und auf der ganzen Welt, werden Sexarbeiter_innen ermordet, weil unser Leben als weniger wert angesehen wird als das anderer. Wir werden nicht als gleichberechtigte Bürger_innen angesehen und diese staatliche Diskriminierung rechtfertigt für viele das Stigma und die Gewalt, unter der wir leiden.“

Wir brauchen eine neue Debatte über Sexarbeit: Verbote verstärken Stigmatisierung und Ausgrenzung

Dort wo Prostitution und Sexarbeiter_innen gesellschaftlich geächtet werden, dort wo sie kriminalisiert und unter staatliche und polizeiliche Kontrolle gestellt werden, dort wo sie als Menschen zweiter Klasse gesehen werden, ist die Gewalt gegen Sexarbeiter_innen am größten. Auch das sogenannte schwedische Modell, das nur Kunden kriminalisiert (obwohl bisher deshalb noch niemand inhaftiert wurde, so die neueste Polizeistatistik), basiert auf einer vollständigen Ablehnung der Prostitution. Sexarbeiter_innen, die dort dennoch unter erschwerten Bedingungen Sexarbeit ausüben wollen, werden geächtet – in erster Linie durch jene Feminist_innen, die sich gegen Prostitution einsetzen.

Kaum eine feministische Organisation in Europa hat sich anlässlich der beiden Morde und der Proteste solidarisch gezeigt. Keine einzige Organisation, die sich für Frauenrechte engagiert oder für die ermordeten Sexarbeiter_innen getrauert – obwohl sie sich eigentlich genau für sie und ihre Rechte einsetzen. Warum haben sie geschwiegen?

Viele feministische Organisationen und auch der schwedische Staat betrachten Prostitution als "Gewalt gegen Frauen" und wollen Prostitution abschaffen – ein Projekt, das nur mit Verboten und Repression und einem Ausschluss von Sexarbeiter_innen aus demokratischen Prozessen und der Gesellschaft umgesetzt werden kann. Die Folgen von einem solchen Modell kann man in den USA beobachten, wo jährlich zwischen 60.000-80.000 Prostituierte inhaftiert werden, die private Gefängnisindustrie am Leben halten und, neben Vergewaltigern und Vertreibern von Kinderpornographie, in die Sexualstraftäter-Datei eingetragen werden.

Dieser Verbots-Ansatz führt zu einer vollständigen Rechtlosigkeit und Ausgrenzung der Sexarbeiter_innen, die somit ungeschützt bleiben, da sie in erster Linie als Kriminelle gelten. Wer auch immer das deutsche Prostitutionsgesetz kritisiert, sollte sich das amerikanische Modell gut vor Augen führen: In Deutschland kann eine Sexarbeiter_innen Gewalt und Vergewaltigung anzeigen, in den USA nicht – sie ist der Gewalt rechtlos ausgeliefert. Auch gibt es in den USA mehr Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung als in Deutschland, obwohl jegliche Tätigkeit um die Prostitution verboten ist.

Es gibt Menschen, die sich Sexarbeit nicht vorstellen können und deshalb glauben, auch Sexarbeiter_innen vorschreiben zu dürfen, was sie mit ihrem Körper machen dürfen und was nicht. Doch diese Ideologie des Paternalismus und der Bevormundung, die vor allem der westliche, weiße Feminismus tief in sich trägt und meist jeglichen Versuchen der Selbstreflexion standhält, ist aus meiner Sicht mit einer pluralistischen Demokratie nicht vereinbar. Wir haben nicht das Recht über Entscheidungen anderer Menschen zu urteilen. Wenn wir uns unbedingt mit ihrem Leben beschäftigen wollen, dann dürfen wir das nur mit ihnen gemeinsam machen.

Jener Feminismus, der Prostitution abschaffen will (es gibt ja schließlich auch andere Feminismen), muss sich in einer Demokratie darauf einstellen, dass er nicht das Monopol über die Definitionsmacht dessen hat, was Frauenrechte sind und wie Frauen diese Rechte umsetzen. Der Tod von Jasmine und Dora ist die Verkörperung des Scheiterns dieses Feminismus, der vergessen zu haben scheint, dass das Patriarchat jahrhundertelang genau das gemacht hat, was er nun selbst macht: Über den Köpfen von Frauen und Prostituierten zu entscheiden; Frauen und Menschen, die anderer Meinung sind, zum Schweigen zu bringen und über sie zu verhandeln, ohne sie fragen: „Wie siehst Du das?“ Dieser Feminismus benötigt dringend eine Demokratisierung, auch er muss auch Sexarbeiter_innen zuhören.

Melanie, Mutter, Sexarbeiterin und Aktivistin sagte anlässlich des Protesttages in Berlin:

"Erst nahm man ihnen das Recht, für sich selbst zu sprechen und nun bringen die Medien und die Politik sie noch über den Tod hinaus zum Schweigen,indem sie sie ignorieren. Wir müssen gegen dieses Stigma kämpfen und der ganzen Welt zeigen: Seht her, diese Menschen könnten noch leben, hätte man ihnen zu Lebzeiten zugehört und ihre Rechte ernst genommen, statt sie mit Füßen zu treten. Wir brauchen keinen Schutz vor unseren Freiern sondern vor der Gesellschaft, dessen falsches Bild von Prostitution nur mit ausgewogener Berichterstattung und Rechten statt Verboten korrigiert werden kann."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sonja Dolinsek

Sonja schreibt über Menschenrechte, Migration, Gender, insb. über Sexarbeit und Menschenhandel. Twitter: @sonjdol

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