Viel erlebt, und nichts begriffen

Nationalismus Lasst uns endlich wieder mehr Demokratie und mehr Europa wagen. Die visionären Ansätze dazu gibt es

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EU und mehr Demokratie müssen einander nicht ausschließen.
EU und mehr Demokratie müssen einander nicht ausschließen.

Foto: Carl Court/Getty Images

Ulrike Guérot hat vor knapp anderthalb Jahren den Entwurf einer europäischen Utopie vorgelegt und diesen m.E. ganz bewusst zur Diskussion gestellt. Im Gegensatz zu allen anderen schweigenden Akteuren des “Weiter so” – und das sind zumindest breitenwirksam 99,9% – hat sie etwas gemacht, ja sogar gewagt. Sie hat es gewagt mehr Demokratie zu wagen (Willy Brandt ist für seine damalige Äußerung, die heute breit gefeiert und wieder eingefordert wird, oft zur Persona non grata erklärt worden. Einfach mal drüber nachdenken.)

Man haut der Frau wahlweise Naivität, Realitätsverlust, falsches Timing, elitäres Erasmusdenken oder eine politische Geisterfahrt um die Ohren. Das sind meist dieselben Leute, die beklagen, dass von Politiker*innen und Intellektuellen keine Vorschläge für die großen Veränderungen der gesellschaftlichen Zukunft gemacht werden – übrigens sehr gerne von links. “…hört die Signale…die Internationaaaaaale…”

Ich möchte darauf hinweisen, dass sie eine der wenigen prominenten Personen ist, die es geschafft hat in Deutschland (!) die gravierenden strukturellen und sozio-ökonomischen (Demokratie-)Defizite der EU zu analysieren und anzuprangern, ohne plumpen Nationalismus und/oder “früher war alles besser” (das gilt für links und rechts) als Alternative überhaupt in Betracht zu ziehen.

Sie verzichtet erfrischend auf jegliche (heute oft propagierte) Europa-Nostalgie der Kohl-Mitterand-Ära, ohne deren ideologische Ansätze zu diskreditieren. Setzt man hingegen (vierlerorts) deren Motivationen ausschließlich in den Euro-Rahmen (€), dann war deren (ein) vereintes Europa natürlich eine Farce zur Etablierung der heute herrschenden (Finanz-) Oligarchie. Nur: Diese Männer hatten bestimmt nicht die heute etablierte Finanzoligarchie einer europäischen Einheitswährung im Sinn, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass Nationalstaaten mit derselben Währung keine Kriege gegeneinander führen können – systemisch bedingt (Das gilt demnach sogar bis heute und das ist gut so). Im Punkt Globalisierung waren die Herren allerdings äußerst beschränkt. Das gilt für sie, aber nicht für Frau Guérot, die m. E. versucht, eine neue Antwort auf die Globalisierung, äh nein, falsch, die Internationlisierung zu finden.

Nach Jahrhunderten gewachsener und international gewohnter Nationalstaaten und dem (wirtschaftlichen) Hassobjekt der Globalisierung ist es nachvollziehbar, dass Frau Guérots neue Vorstellung einer (veralteten) Internationale (die setzte Nationalstaaten fundamental voraus) flächendeckend eine Herausforderung im Denken darstellt. Sie ist aber notwendig.

Im Frühjahr 2014 gab es die letzten Europawahlen. Allerorts wurde bemängelt, dass sich keine Sau um die Europapolitik kümmere, sich irgendwelche abgehalfterten Ausschusspolitiker in Brüssel noch mal schön die Taschen vollmachen und oftmals, dass Kommission und Rat über/gegen die Interessen der Europäer entschieden und ein Europaparlament nahezu machtlos sei. Damals war "die Finanzkrise" bereits knapp sechs Jahre alt. In den letzten vier Jahren hat es nun, dank vieler kluger journalistischer Beiträge und gesellschaftlicher Initiativen, vielen Leuten gedämmert, dass die Europapolitik in unzähligen Fragen, die uns alle angehen, eine enorme, ja fundamentale Rolle spielt.

Die bestehenden Ungerechtigkeiten werden immer sichtbarer und nochmal, die strukturellen Defizite der EU bekommen immer mehr Menschen mit. Das gleiche gilt übrigens auch für die Regierungen der Nationalstaaten. Mit dem zur Schau gestellten Ergebnis: Viel Kritik, viel Moral, viel Problembenennung, vielfältigste Strafforderungen für verwerfliche Profiteure, Sanktionen, nach Verboten von Steueroasen bis Freihandelsabkommen, das Anprangern von Uneinigkeit schon bei so “simplen" Herausforderungen wie der heutigen und zukünftigen Migrationsfrage (Hallo? Findet das irgendwer simpel?) u.v.m.. Jean-Claude Juncker, Emanuel Macron, Teresa May u.a. halten Grundsatzreden, die aus Floskeln á la markt-getriebener Schicksalsgemeinschaft bestehen, ein "eigentlich alles in Ordnung, nur versteht leider keiner von diesen Deppen wie gut alles ist", oder sogar eine Verschärfung der Ungerechtigkeiten favorisieren.

Dann kommt Frau Guérot und haut, salopp formuliert, einfach mal Einen raus – einen großen Aufschlag, eine richtige Utopie. Ja, sie redet unglaublich viel und schnell. Sie greift auch mal deutsch-polnisch-historisch ordentlich ins Klo, wenn sie Teile vom westlichen Polen als zukünftige Teile der Region Berlin-Brandenburg vorschlägt, oder die Hürde unterschiedlicher Sprachen der EU-Mitgliedsstaaten außen vor lässt. Doch im Gegensatz zum Etablierten hat sie ein Gespür dafür entwickelt und formuliert, dass es in Europa ein tosendes Grundrauschen gibt, sich dem markt-radikal elitären Zentralismus von Brüssel und den nationalstaatlichen Pendants entziehen zu wollen (das gilt für links und rechts).

Linksseitig erstmal bestimmt nicht aus Europafeindlichkeit, sondern aus einer wachsenden Demokratiefreude (eine Forderung nach mehr und vielfältigerer Mitbestimmung) heraus. Die Ablehnung der EU gilt dem elitären Konsens-Zentralismus, den man heute “die Mitte” nennt, und diese Mitte ist und wird zunehmend zum Problem; eine Entwicklung, die die rechten Parteien unangefochten sehr erfolgreich missbrauchen, und was ihre Wähler*innen vielleicht bis heute nicht begreifen. Pan-europäische Treffen von rechten Parteien, die die Autonomie der Nationalstaaten abfeiern, müssten Dreh- und Angelpunkt der Fragen, Analysen und vor allem der Berichterstattung sein. Sind sie aber nicht.

Was hat denn Frau Guérot gemacht? Sie hat einen Vorschlag zur Demokratisierung Europas unterbreitet. Der mag vielfältige Schwierigkeiten aufweisen, aber es ist ein wirklich guter Ansatz für alle, die sich ein demokratischeres, sozialeres, gerechteres, vielfältigeres Europa wünschen. Das von ihr gesetzte Zeitfenster für die Europäische Republik ist 2050!

Mit der Entwicklung in Katalonien nimmt Ulrike Guérot in ihrem Gastbeitrag in der Zeit den Faden zu ihrer beschriebenen Utopie auf und formuliert darin eine Chance. Eine Chance das Bewusstsein dafür zu schärfen, was vor uns liegt. Sie benennt ein über Jahrzehnte vernachlässigtes Demokratieverständnis, ein Gespür für die Notwendigkeit einer Erneuerung des politischen Gefüges.

Was sie nicht benennt ist eine allgegenwärtige Misere, in der wir alle sitzen. Es sind nicht Frau Guérots Vorschläge, die absurd oder naiv sind, sondern der ausgelaugte frustrierte und zum Teil auch hasserfüllte nicht-begreifende Boden der Gesellschaft, auf den sie fallen.

Ihre Vorschläge offenbaren und enttarnen die strukturelle Krise - die Machtlosigkeit im Denken und im Handeln nach und mit Trump, nach dem Brexit und May, mit Macron, mit Tsipras und mit Aung San Suu Kyi.

Wenn in den katalonischen Ereignissen nun primär ein Geld-getriebener “nationalistischer Separatismus” erkannt und verteufelt wird (Puigdemont = Putschdämon), dann kann man nach all den politischen Ereignissen der letzten zehn Jahre den Journalisten und Politikern nur ein weiteres Mal zurufen: Viel erlebt, und nichts begriffen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Sonja Karas

Unternehmerin, Kommunikationsberaterin, Transition Politician. Schreibt was, wenn es aus dem Grundrauschen hervorsticht und es die Zeit erlaubt.

Sonja Karas

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