Berlinerin Anni May in Argentinien: „Keine Heimat mehr“

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Von Berlin nach Buenos Aires: Die jüdische Berlinerin Anni May ist als junge Frau mit ihrer Familie vor dem Nationalsozialismus geflüchtet. Jetzt lebt sie in Argentinien - das Gefühl, eine Heimat zu haben, hat sie dennoch verloren.

Anni May ist eine elegante ältere Dame, die im Villenviertel von Vicente Lopez, einem Vorort von Buenos Aires, zum Tee bittet. „Cuando Anni May dice que tiene 83, nadie le cree“, schrieb die argentinische Zeitung „La Nacion“ in einem Portrait über Anni und ihren Mann Egon. „Niemand würde glauben, dass Anni May bereits 83 Jahre alt ist“.

Der Artikel ist mittlerweile fünf Jahre alt und immer noch könnte Anni May unauffällig zehn bis zwanzig Jahre unterschlagen. Sie wirkt jung, wenn sie von ihren Reisen durch die ganze Welt und ihrer Lebensgeschichte erzählt – in flüssigem Deutsch.

Flucht vor Hitler`s Deutschland
Anni May wurde als Anni Lichtenthal in Berlin geboren und ist als 16-jähriger Teenager mit ihren Eltern nach Argentinien ausgewandert: „Meine Eltern hatten ein Seidengeschäft am Kurfürstendamm. Wir sind jüdisch und mussten auswandern im Jahr 1938.“

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Buenos Aires: Neue "Heimat" für viele jüdische Deutsche

Für die Einwanderung nach Argentinien war eine sogenannte „Llamada“ notwendig: Jeder Einwohner mit Aufenthaltsgenehmigung durfte Verwandte ersten Grades ins Land holen. Die Familie von Anni May hatte Glück: Die große Schwester war bereits 1937 eingewandert und konnte die Eltern, Anni und ihren Bruder nachkommen lassen.

Heimatlos
In Argentinien war Anni May vor allem Ehefrau und Hausfrau: „Ich habe nie etwas Richtiges gemacht. Ich war bis 14 in der Schule und dann später noch auf einem Pensionat in Italien, Sprachen lernen und so, das gehörte sich damals so.“ http://fernlokal.wordpress.com/wp-includes/js/tinymce/plugins/wordpress/img/trans.gifMit 19 Jahren lernte sie ihren ersten Mann kennen. Später machte sie sich im Modebereich selbstständig: „Ich habe dann angefangen mit Konfektionen, habe mir in der Garage eine Werkstatt eingerichtet und war damit dann auch erfolgreich“.

Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete Anni May erneut – Egon, der in Magdeburg Schaufenster dekoriert hatte und später in Argentinien eine große Werbeagentur besaß. Das Ehepaar konnte viele Reisen unternehmen: quer durch Lateinamerika, Europa, auch nach Berlin ist Anni May oft zurückgekehrt. „Jetzt machen wir beide nichts mehr. Ich bin 87 und er ist 91“.

Spanisch mit starkem Akzent

Anni May reist jetzt nur noch im Kopf: Nach dem Kreuzworträtsel schlägt sie in der deutschen Zeitung, dem "Argentinischen Tageblatt", die Reisereportagen auf. Wirklich angekommen ist sie in Argentinien nicht, auch wenn sie zufrieden wirkt: „Eigentlich haben wir keine Heimat mehr. In Deutschland nicht, aber hier auch nicht“, beschreibt die Einwandererin das generationenspezifische Gefühl der durch den Nationalsozialismus Entwurzelten.

„Wir sprechen Spanisch mit einem starken Akzent, wir haben vor allem Freunde, die auch deutsch sprechen, wir haben uns nie richtig eingelebt. Aber Argentinien ist trotzdem das schönste Land, ich liebe es. Man ist hier viel offener und großzügiger.“ Mittlerweile zählen auch viele Argentinier zum Freundeskreis – es verbindet die gemeinsame Leidenschaft: Bridge.

Deutsche Medien in Argentinien: sentimentaler Wert
Neben argentinischen Medien gehören „Deutsche Welle TV“ und das deutschsprachige „Argentinische Tageblatt“ zum Alltag. Das Tageblatt hat für Anni May „sentimentalen Wert“. Die Zeitung ist ein Identifikationsobjekt für die deutschsprachige Gemeinschaft in Argentinien – besonders der jüdische Teil der Eingewanderten bleibt dem antinationalsozialistischen Blatt treu. Doch die alten Stammleser werden immer weniger: „Früher waren alle Todesanzeigen von unseren Bekannten darin, jetzt aber nicht mehr“, so Anni May.

Die Verbindung zu Deutschland und zu deutscher Sprache verflüchtigt sich von Generation zu Generation. Von Anni Mays Söhnen – 65 und 57 Jahre alt – spricht nur einer ein bisschen deutsch, da er in einer Schweizer Firma arbeitet. „Und meine Enkel und Urenkel haben nur noch deutsche Pässe.“

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