Es ist noch nicht lange her, da saß Tim Berners-Lee bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele inmitten des Londoner Stadions an einem Schreibtisch und tippte den Tweet „This is for everyone“ in einen Computer, der dann in riesigen Leuchtbuchstaben ins Stadionrund projiziert wurde – eine Hommage an seine Erfindung: das World Wide Web. Beklatscht wurde der Netzpionier von Millionen Menschen, die seinen Namen teils wohl zum ersten Mal hörten, sich aber dank seiner revolutionären Erfindung täglich durch ein globales Netzwerk klicken.
An diesem Samstag steht Berners-Lee vor ein paar Hundert Leuten in einem Hangar des stillgelegten Flughafens Berlin-Tempelhof – und diesmal beklatscht Berners-Lee sein Publikum. Viele hier sind nicht viel älter als das World Wide Web, Jahrgang 1991: „Ihr seid die Hoffnung – die Hoffnung, dass die Welt friedlich wird“, feuert Berners-Lee die Teilnehmer der „Campus Party Europe“ von der Bühne aus an. Wie unter Strom beschwört der 57-Jährige Prinzipien, die allerdings auch aus einer kommunikationswissenschaftlichen Vorlesung stammen könnten: den „Hacker Spirit“, die Vision eines von überall und für alle zugänglichen Netzes statt einer Inselbildung durch mobile Apps, Achtung vor der Einflussnahme durch Wirtschaft und Politik, stattdessen Open Source und Kollaboration. „Teilt eure Ideen und baut gemeinsam etwas auf.“
Überdimensionaler Anspruch
Große Erwartungen, große Worte – auf der ersten „Campus Party Europe“ scheint alles überdimensional. Der Flughafenhangar mit Blick aufs Rollfeld, in dem an vier Tagen auf neun Bühnen und vielen Randflächen Hunderte von Vorträgen, Pitches, Workshops und Wettbewerbe stattfinden. Zu Themen wie Astronomie und Apps, Biotechnik, freie Software oder Robotertechnik. Das Ziel: Nicht weniger als „den Source- Code Europas umschreiben, um Europa zu einem besseren Ort zu machen“.
Der Nerd-Nische ist die 1997 in Spanien entstandene und auch in Lateinamerika legendäre Campus Party längst entwachsen: Etwa 10.000 Gamer, Roboterfans, Entwickler, Start-up-Anwärter und Neugierige sind in Berlin zusammengekommen – mehr als bei den deutschen Großveranstaltungen Re:publica und Chaos Communication Congress zusammen. Viele internationale Besucher aus Spanien, den USA und Mexiko wurden durch Gratis-Tickets angelockt.
Kreatives Chaos geht anders
Ein Riesendenklabor soll die Campus Party sein, doch kreatives Chaos sieht irgendwie anders aus. Der Hangar wirkt wie ein kühler Co-Working-Space, in dem zwischen den Bühnen Hunderte junger Menschen in weißen Stuhlreihen vor Desktop-Computern oder Laptops sitzen, viele für sich, manche brüten in Zweiergruppen vor dem Bildschirm. Jeder Laptop wird am Eingang in einer Sicherheitsschleuse kontrolliert, Alkohol ist verboten, Angestellte schieben Mülltonnen durch den Raum. Auf Frachtcontainern am Rand der Halle stehen Slogans wie „If you have a brain, you are a startup“ und „Coder of the World unite“ mit dem Logo des Hauptsponsoren Telefónica, zu dem auch die Mobilfunkmarke O2 gehört – viele deutsche Hacktivisten und Netzexperten hatte dieser kommerzielle Umarmungsversuch abgeschreckt.
Auch die O2-blauen Zelte stehen in einer Nebenhalle in Reih und Glied. Nicht mal dort würden Partys gefeiert, sagt der Brasilianer Edson Faulin, 42, der seit 2009 bei jeder Campus Party war. „Es ist immer ziemlich chaotisch, unvorhersehbar, laut, aber auch witzig“, erzählt er. „Aber hier sind die Leute nicht so offen.“ In Brasilien hätten sich die „Campuseros“ einfach abseits des Programms die Bühnen erobert und dort Musik gemacht – quasi illegal.
In Berlin steht eine Menschenmenge um einen Roboter herum, der ein Konzert gibt. Mit Metallarmen und -beinen spielt er Schlagzeugsoli und Songs von Metallica, es dröhnt durch die Halle. Ein technisches Kunstwerk, just for fun. Bei den Roboterfans geht es weniger um große gesellschaftliche Probleme, mehr um technische Details. Sie tüfteln an der Mechanik, löten Teile zusammen. Drohnen in Insektenform treten im Kampf um Aufmerksamkeit gegen kickende Roboter an. Zwei spanische Entwickler versuchen dem sozialen Roboter „Aisoy“, ein dreißig Zentimeter hohes weißes Kerlchen mit Kulleraugen, neue soziale Funktionen anzutrainieren – Aisoy soll seine Konversationsfähigkeiten verbessern, auch mit Reaktionen wie Kopfschütteln auf sein menschliches Gegenüber reagieren. Die Erfolge sind überschaubar. Am anderen Ende der Halle bei der Start-up-Bühne basteln Schüler und Studenten an technischen Lösungen, die etwa soziales Engagement erleichtern sollen.
17 Stunden am Stück daddeln
Revolution? Berners-Lee? Start-ups? Marcelino Coll Rovira, schmal, lange Haare, interessieren die großen Schlagworte hier nicht. Er sitzt wie eine Mumie eingepackt in seinem Schlafsack, seine Welt ist sein Computerbildschirm: Der 20-jährige Informatikstudent ist mit Freunden aus Barcelona zum Spielen gekommen, 17 Stunden jeden Tag. Gegessen hat er nicht viel, geschlafen hat er vorm Computer: „Auf anderen LAN-Partys schlafen alle vor ihrem Computer“, sagt er. Ein paar Leute habe er hier auch kennengelernt, natürlich online.
Die digitale Szene, die sich im Hangar versammelt, ist keine eingeschworene Nerd-Gemeinschaft mehr, die an einer großen Mission feilt. Wer die Halle durchschreitet, wechselt durch sehr verschiedene Milieus. Natürlich gibt es Teams, die zusammenarbeiten, Programmier-Workshops und inspirierende Vorträge, die Trends ausloten. Doch durch die Größe zerfällt die Veranstaltung in viele Einzelteile, ein bisschen wie das Netz selbst: Tausend Dinge geschehen gleichzeitig, es bleibt schwer, den Überblick zu behalten. „Diese Riesenkonferenz ist notwendig“, sagt der US-Hacker Lucky Gunasekara, 28. „Die entscheidende Frage ist: Was bleibt?“ Anregungen, sicher. Ein neuer Source-Code für Europa? Sicher nicht. Aber ein bisschen mehr vom visionären Enthusiasmus Tim Berners-Lees würde man den Nachwuchshackern doch wünschen.
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