Zwischen Nähe und Neiddebatten: Sozialberichterstattung im Lokalen

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Gerade in Lokalzeitungen können Sozialstaatsdebatten aufklärend konkretisiert werden. In einem Workshop auf der LIMA diskutierte Renate Angstmann-Koch vom Schwäbischen Tagblatt mit den Teilnehmern über Chancen und „Tücken der Sozialberichterstattung“ auf lokaler Ebene.


Wenn Guido Westerwelle Hartz-IV-Empfängern Dekadenz vorwirft oder Thilo Sarrazin gegen Migranten und Arbeitslose hetzt, ist eine sachliche mediale Aufarbeitung gefragt. Gerade auf lokaler Ebene könnten Journalisten den „Sozialschmarotzerkampagnen“ entgegenwirken, meint Renate Angstmann-Koch vom Schwäbischen Tagblatt in Tübingen. Der Vorteil der Regionalzeitung sei der Nähe-Faktor: Das Lokalmedium habe einen schnellen Zugang zu von Armut oder Arbeitslosigkeit Betroffenen und bei seinen Lesern eine hohe Glaubwürdigkeit.

Entlarvung durch Quellen-Check

Die erste Regel für kritische Lokalberichterstattung ist die Quellenprüfung. In Sozialdebatten wird oft mit falsch interpretierten Zahlen jongliert, Thilo Sarrazin gab in einem Bericht in der SZ kürzlich sogar zu, sich Zahlen notfalls gefügig machen – entscheidend sei das Ergebnis. „Man muss dieser Hetze immer wieder Fakten entgegenhalten“, so Angstmann-Koch. Auch Begriffe wie Leistungsträger oder Mittelschicht müssten hinterfragt werden und die angebliche Sozialstaatsbedrohung durch Hartz-4-Betrug mit Vergehen wie Steuerhinterziehung in Beziehung gesetzt werden.

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Schwäbisches Tagblatt: Sozialdebatten hinterfragen

Örtliche Ansatzpunkte für Sozialberichterstattung sind Informationen und Statistiken von Sozialämtern und Arbeitsagenturen sowie die Armuts- und Reichtumsberichte von Städten und Landkreisen. Allerdings sei es schwierig, das Zahlenmaterial zu verstehen. Der Lokaljournalist müsse sich einarbeiten und sich laufend über Debatten und Novellierungen informieren – ein hoher zeitlicher Aufwand.

Einzelschicksale versus Neiddebatte

Eine Konkretisierung von Problemen wird durch Portraits von Einzelschicksalen erreicht. „Zahlensalat allein interessiert keinen Mensch.“ Die Lokalzeitung könne dabei mit einer besonders großen Offenheit rechnen: Die LeserInnen würden sich sehr für ihre Nachbarn und das Geschehen im Nahraum interessieren. Über Stellen wie Selbsthilfe-Organisationen, Interessenvertretungen oder Kirchen erreicht der Lokaljournalist Betroffene. Bei einem medialen „Outing“ müssen die Konsequenzen für die Person bedacht werden. Angstmann-Koch berichtet, dass eine Sozial-Serie abgesetzt wurde, da die erste Portraitierte – eine alleinerziehende Hartz-4-Empfängerin mit Studiumswunsch – heftig angefeindet worden sei. Ein Leserbrief zu einem Artikel über Mobilitätshilfen für Migranten sei dagegen harmlos gewesen – der Leser habe empfohlen, dass die jungen Männer die paar Kilometer zwischen den Dörfern ja zu Fuß gehen könnten. Fit genug sähen sie aus.

Im Lokalen besteht die besondere Gefahr, dass die Veröffentlichung negative Auswirkungen auf den Alltag hat. „Leute können oft nicht einschätzen, was es bedeutet, wenn etwas in der Zeitung steht. Was es auch bei ihnen selbst auslösen kann und welche Anschlussdebatten folgen können.“ Der Journalist ist dafür verantwortlich, im Vorfeld über mögliche Folgen aufzuklären und zu entscheiden, welche persönlichen Geschichten nicht veröffentlicht werden sollten.

Umstritten: Anonymisierung von Protagonisten

Beim Workshop wurde eine mögliche Anonymisierung zum Schutz der Personen kontrovers diskutiert. „Du brauchst ein Gesicht, die Leute lesen nichts, wo nicht ein Bild dabei ist“, meint Angstmann-Koch. Nur in Extremfällen sei eine Anonymisierung möglich, dennoch könne man die Menschen bei kleinen Einzugsgebieten oft erkennen – außer man würde alle Angaben fälschen. Eine anwesende Lokaljournalistin einer sächsischen Zeitung berichtete, dass Berichte mit Anonymisierung und ohne Foto grundsätzlich nicht abgedruckt werden würden. Andere Workshop-Teilnehmer argumentierten, dass Geschichten für sich stehen könnten – auch ohne Namen und Foto. Und dass die Glaubwürdigkeit anonymisierter Erfahrungsberichte auch von der Glaubwürdigkeit des Mediums abhinge.

Eine Alternative zur Darstellung von Betroffenen gibt es kaum. „Die Wallraff-Methode kann ich im Nahraum nicht machen.“ Erstens kenne man sich auf dem Land, zweitens treffe man sich garantiert wieder. Eine Möglichkeit, an authentische, persönliche Schilderungen zu gelangen, sei es, um die Ecke zu recherchieren. So kann der Lokaljournalist Personen befragen, die mit Betroffenen zu tun haben – wie eine Arbeitslosenberaterin. Dabei müsse man wiederum deren spezifische Interessen berücksichtigen. Angstmann-Koch empfiehlt auch, sich „glaubwürdige Verbündete zu suchen“. So werden soziale Positionen auch über die Stimme lokal anerkannter Persönlichkeiten transportiert.

Entscheidend: Engagement, Kollegialität und Zeit

Ob und wie soziale Themen auf lokaler Ebene realisiert werden, hängt von redaktionellen Rahmenbedingungen und vom Engagement der einzelnen Journalisten ab. Renate Angstmann-Koch fordert einen anwaltschaftlichen Journalismus – und verfolgt soziale Themen mit persönlichem Engagement. Der Kontext des Schwäbischen Tagblatts erleichtert dies. Der Ex-Verleger Christoph Müller hatte Respektlosigkeit und Rebellion in der Provinz gepflegt. Mittlerweile hat das Enfant Terrible der Lokalmedienmacher zwar seine Anteile an die Südwestpresse Ulm verkauft, die Zeitung versteht sich aber immer noch als „aufklärerisch, kritisch, engagiert“.

Befürchtete Sanktionen sind ein häufiger Grund, kontroverse Themen, die Akteure wie Politiker, Ämter oder Unternehmen betreffen, zu unterdrücken. Einflussnahmen, beispielsweise durch Anzeigenkunden, habe die Lokaljournalistin jedoch noch nicht erlebt. Der Zeitdruck – der bei der aufwändigen Sozialberichterstattung eine wichtige Rolle spielt – trifft das Tagblatt allerdings auch. Hier ermögliche ein Grundkonsens unter den Redakteuren, dass wichtige Themen realisiert werden könnten, indem sie sich gegenseitig entlasten.

Manchmal kann auch ein Bild mehr bewirken als eine sauber recherchierte Sozial-Reportage. Der Tübinger Karikaturist Sepp Buchecker habe im Tagblatt eine Karikatur veröffentlicht, auf der der Nikolaus einen kleinen Jungen fragt, was er werden wolle. „Satt“, ist die Antwort. Die Verantwortlichen hätten sich „geschämt“ und den Beschluss gegen eine kostenlose Schulspeisung rückgängig gemacht.

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