Viele Treppen und andere Anstiege muss hinauf, wer das Viertel Altos de la Torre im Bezirk „Comuna 8“ erreichen will. Aber so ist es eben, das Zentrum der Großstadt Medellín liegt im Tal, die Armut ist auf den umliegenden Berghängen zu Hause. Die meisten Häuser dort bestehen aus Brettern, Pappe und Wellblech. Manche Bewohner firmieren unter der Kategorie „geduldet“, sie kamen nicht selten als desplazados in diese Gegend, auf der Flucht vor immer wieder aufflammenden Gefechten zwischen Paramilitärs, der Armee und versprengten Guerilleros.
Der am 30. November 2016 in Kraft getretene Friedensvertrag zwischen der Regierung und den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) sollte einen so viele Jahrzehnte überdauernden Konflikt beend
nden Konflikt beenden, dem über 220.000 Menschen zum Opfer fielen, doch statt innerer Befriedung steigt die Zahl der Vertriebenen im eigenen Land, von den Vereinten Nationen „internally displaced people“ genannt. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk gibt es in Kolumbien, gemessen an der Gesamtbevölkerung, extrem viele Binnenflüchtlinge.Darunter sind Frauen wie Piedad Arango, die 44-Jährige ist vor fünf Monaten mit ihrer Familie nach Medellín „ausgewichen“, wie sie sagt, weil die Bedrohung durch Paramilitärs keine Wahl ließ. „Sie wollten, dass mein Sohn gegen seinen Willen mit ihnen kooperiert, oder er würde seines Lebens nicht mehr sicher sein. Deshalb hat er sich hierher zu meiner Schwester abgesetzt. Danach haben sie uns als seiner Familie gedroht, sollten sie ihn nicht finden, würden sie uns alle umbringen. Also sind auch wir geflohen“, erzählt Piedad Arango und blickt mit ihren dunklen, traurigen Augen ins Leere. Sie habe alles zurücklassen müssen. Es falle schwer, sich hier, am Rand von Medellín, zurechtzufinden. „Auf dem Land war das Leben einfacher. Es gab Arbeit. In der Stadt braucht man für alles einen Abschluss.“ Sie habe nach den ersten drei Jahren die Grundschule abgebrochen, keines ihrer vier Kinder habe die überhaupt jemals besucht. Die Schuluniformen seien einfach zu teuer gewesen.Indigene auf der FluchtIm Augenblick arbeitet sie mit ihrer Schwester für ein Gartenbauprojekt, das von der deutschen Johanniter-Unfall-Hilfe und der Nichtregierungsorganisation (NGO) Las Golondrinas in Medellín gefördert wird. Was man erntet, soll helfen, die Familie mit Lebensmitteln zu versorgen, während die Überschüsse auf den Märkten der Umgebung verkauft werden.Bis zur Flucht nach Medellín lebte Piedad Arango mit ihrem Mann und den vier Kindern im ländlichen Puerto Valdivia, einem Anbaugebiet für Koka, das bis vor einem Jahr unter der Kontrolle der FARC-Guerilla stand. Sie habe erlebt, wie in dieser Region seit dem Friedensabkommen alles aus dem Ruder gelaufen sei. „Als die Guerilla noch da war, haben wir Bauern keine Gewalt erfahren, weil die FARC-Leute gut zu uns waren. Aber seit die weg sind, haben die Paras das Sagen. Die Guerilla hat einem Spielraum gelassen, die anderen tun das nicht. Die bringen dich einfach um. Frieden kann es nur geben, wenn mit den Paramilitärs Schluss gemacht wird.“Das Schicksal von Piedad Arango ist kein Einzelfall. Amnesty International erklärt in einem Bericht, dass in den Gebieten, die von den FARC verlassen wurden, nun andere Guerilla-Gruppen oder rechte Milizen um die Hegemonie kämpfen würden. „Viele Menschen jenseits der Grenzen unseres Landes glauben, in Kolumbien sei der große Frieden ausgebrochen, weil die Regierung ein Abkommen mit einer Guerilla-Armee geschlossen hat. Aber das trifft nicht zu“, meint auch Carolina Betancur, Politikwissenschaftlerin im „Museum der Erinnerung“ von Medellín. „Noch immer werden soziale Aktivisten ermordet und Farmer von ihrem Land vertrieben, noch immer heizt der Handel mit Drogen die üblichen Konflikte um Vertriebswege und Absatzmärkte an. Es gibt eine Vielzahl von Akteuren. Um zu verstehen, was geschieht, darf man nicht von einem Schwarzweiß-Raster ausgehen, sondern sollte sich an die Graustufen halten. Die sind der Grund dafür, dass die inneren Konflikte bei uns so schwer zu lösen sind.“Placeholder image-1Die Gewalt richtet sich derzeit besonders gegen indigene und afrokolumbianische Gemeinden. Die mehr als 90 indigenen Völker Kolumbiens werden seit Jahrzehnten durch Bergbau- und Agrarunternehmen aus angestammten Lebensräumen verdrängt. Felix Bailarín, 42 Jahre alt und Mitglied der Gemeinde „Llano Río Verde“ aus dem Volk Emberá Katío, lebt in der Nähe von Frontino, etwa sechs Autostunden von Medellín entfernt. „Früher hatten wir viel Land und konnten unsere Familien ernähren. Aber schon vor Jahren haben uns große Firmen die Latifundien entzogen. Wer nicht gehen wollte, wurde von Paramilitärs vertrieben.“Heute lebt die indigene Gemeinschaft in spartanischen Holzhütten auf einem kleinen Stück Land, hat zwar Wasser, aber keine Sanitäranlagen. Was noch an nutzbarem Boden zur Verfügung steht, reicht nicht, sich ausreichend zu ernähren. Alle Ländereien um sie herum gehören einem Großagrarier, der Zuckerrohr anbaut. Einige Gemeindemitglieder arbeiten für 25.000 kolumbianische Pesos am Tag (umgerechnet etwa sieben Euro) auf diesen Schlägen. „Für unsere Kultur ist es wichtig, im Einklang mit der Natur zu leben. Deshalb wollen wir unser Land zurückhaben“, sagt Felix Bailarín. Die Angst, dass die Paramilitärs zurückkämen und alles noch schlimmer werde, lasse sich nie verdrängen.Die meisten Entwurzelten fliehen in Großstädte wie Medellín. Ein Fünftel der Bewohner dieser Metropole, zumeist Indigene und Afrokolumbianer, sollen inoffiziellen Statistiken zufolge Opfer von Vertreibungen sein. Dabei gilt „Comuna 8“ als eines der ärmsten Viertel und als Zufluchtsort vieler „Entsiedelter“.Armut und DepressionDas beschwöre häufig Spannungen herauf, da verschiedene Kulturen aufeinanderträfen, berichtet Mauricio Giraldo, der für die Organisation Las Golondrinas arbeitet. „Comuna 8 ist eines der gewalttätigsten Quartiere von Medellín. Früher gab es hier erbarmungslos ausgetragene Konflikte zwischen paramilitärischen Gangs und afrokolumbianischen Gruppen. Es herrschten eben immer Armut und Depression, mit der man zwangsläufig aufwuchs“, meint Giraldo. Das Gebiet von „Comuna 8“ sei lange vom Drogenkartell des mächtigen Pablo Escobar kontrolliert worden. „Die Folgen spürst du bis heute, wenn junge Männer glauben, durch Drogengeschäfte kämen sie schnell an Geld und zu Ansehen.“ Die Organisation Las Golondrinas widmet sich deshalb vor allem der Bildung von Kindern und Jugendlichen in Vierteln wie diesem. Sie sollten eine Perspektive haben, bevor sie kriminalisiert werden. Im Stadtteil Caicedo in der „Comuna 8“ hat die Mehrheit afrokolumbianische Wurzeln. In der Schule „Caminos de Paz“,was so viel heißt wie „Wege zum Frieden“, dröhnt laute Musik. In mehreren Klassenräumen wird getanzt. Die Kinder schwingen ihre Hüften und singen. „Für Afrokolumbianer gehören Bewegung und Rhythmus zur Alltagskultur. Deshalb integrieren wir Tanz und Musik in den Schulalltag“, erklärt Lina Rodriguez, die Koordinatorin der Anstalt. Die Buntheit der Schule an den Fassaden, in Höfen und Räumen sei gleichfalls afrokolumbianischer Kultur nachempfunden. Neben Las Golondrinas engagiert sich dabei auch die deutsche Johanniter-Unfall-Hilfe.Der 14-jährige Jefferson Chaerra wurde in Chocó geboren und floh mit seinen Eltern nach Medellín in die „Comuna 8“. Der Junge sagt, seine Vertreibungsgeschichte sei bisher aufreibend und blutig verlaufen (in Chocó sind laut Amnesty International gut 60 Prozent der Bevölkerung als Opfer des Konflikts registriert). Auch dieser Geschichte liegt der Umstand zugrunde, dass einstiges FARC-Gebiet seit dem Friedensabkommen ständigen Angriffen durch kolumbianisches Militär und paramilitärische Gruppen ausgesetzt ist. Dazu machen sich versprengte Guerilla-Gruppen bemerkbar, die ihre Pfründe sichern wollen. „Am besten gefällt mir an dieser Schule, dass wir es feiern dürfen, Afrokolumbianer zu sein“, sagt Jefferson. Wenn er mit der Schule fertig sei, wolle er Profifußballer werden. Er und seine Freunde seien unbedingt stolz darauf, Afrokolumbianer zu sein.Reinel Arias ist Sozialpsychologe und arbeitet seit zwölf Jahren für Las Golondrinas in der „Comuna 8“. Damit die Schüler in seine Beratungsstunde kamen und ihm vertrauten, musste er sein Diplom abhängen, den Tisch wegräumen und Musikinstrumente anschaffen. Er weiß, wie schwer es viele Afrokolumbianer nach der Ankunft in Medellín haben, denn sie erleben Diskriminierung und Rassismus. „Sie driften von einem Krieg in den nächsten und müssen das verkraften“, sagt Reinel Arias. Aber inzwischen seien sie Teil der Schulgemeinschaft, kämen morgens gewaschen und gekämmt in die Schule, was keine Selbstverständlichkeit in einem solchen Wohnrevier sei. „Und das Wichtigste: Sie haben Träume und Pläne für ihre Zukunft.“Der Friedensschluss zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla war sicher ein erster Schritt zur inneren Versöhnung, aber der Weg zu einem belastbaren Frieden ist noch lang. Präsident Santos bekam zwar 2016 für die Übereinkunft mit den FARC den Friedensnobelpreis verliehen, doch scheint er seither das Interesse am Friedensprozess oder die Kontrolle darüber verloren zu haben. Es wird weiter gekämpft, Verfolgung und Vertreibungen reißen kaum ab, und die Guerilla des Ejército de Liberación Nacional (ELN) fühlt sich von der bisherigen Praxis des Friedensprozesses eher abgeschreckt, sodass deren Verhandlungen mit der Regierung derzeit unterbrochen sind.Placeholder authorbio-1
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