Entmenschlichung des Feindes

Rationalität und Mythos Enzo Traversos neues Buch "Moderne und Gewalt" liefert eine Genealogie des Nazi-Terrors

Eine europäische "Genealogie des Nazi-Terrors" hat der italienische Sozialwissenschaftler Enzo Traverso vorgelegt - nicht wie etwa Daniel Goldhagen eine Betrachtung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen als durch und durch deutsche Krankheit, sondern als übernationales Muster. Geht es Traverso, der heute als Dozent für Politische Wissenschaften an der Universität der Picardie in Amiens und der Ecole des hautes etudes en sciences sociales in Paris lehrt, darum, die Deutschen freizusprechen, indem er ihr Verbrechen als eines darstellt, dessen Bedingungen europäische sind? Und wenn er in seiner Genealogie von der Guillotine über das Gefängnis und die fordistische Fabrik zu den Nazi-Konzentrationslagern kommt - relativiert er dann nicht das einzigartige Verbrechen? Leugnet er die historische Singularität des Mordes an den Juden, wenn er in der Gewalt und dem Rassismus der kolonialen Mächte eine "Vorbedingung" der "später an Europäern und besonders Juden begangenen Verbrechen" sieht? Oder, wenn er bereits den Ersten Weltkrieg als "totalen Krieg" beschreibt, wie ihn auch die Teilnehmer empfanden und häufig in ein Schweigen verfielen, dass "das Schweigen der den Todeslagern Entkommenen" anzukündigen schien?

Tatsächlich gelingt es Traverso zu zeigen, dass es durchaus möglich ist, sowohl die Einzigartigkeit der Verbrechen ins Auge zu fassen, als auch die Tatsache, dass sie eine Geschichte hatten, "die nicht ausschließlich innerhalb der geographischen Grenzen Deutschlands und des Zeithorizonts des 20. Jahrhunderts zu begreifen ist". Dies ist möglich, wenn nicht in deterministischer Manier nach den "Ursachen" gefahndet wird, sondern eher nach den "Ursprüngen" im Sinne Hannah Arendts: "Das Ereignis erhellt seine eigene Vergangenheit, sollte aber nicht daraus abgeleitet werden." (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft). Durch neuere Arbeiten, wie die von Edward Said, sieht sich Traverso in seinem Ansatz bestätigt. Auch Said hat die Notwendigkeit aufgezeigt, zum Verständnis der Konstitution einer Gesellschaft, deren verborgene Tiefenschichten zu erforschen, um so Einsicht in bedingende zivilisatorische Elemente zu gewinnen. Für Said ist die Welt der Kolonien für die westlichen Gesellschaften "ein Raum erfundenen und zusammenphantasierten Andersseins, dessen Bild die eigenen Werte und Herrschaftsformen legitimieren sollte" (Orientalism). Auch der Rassismus der Nazis sog - genau wie "wissenschaftliche" rassistische Theorien in Frankreich, Großbritannien und den USA, die im 19. und 20. Jahrhundert im Schwange waren - ideologischen Saft aus jenen Bildern von den kolonialisierten Völkern, die als minderwertig und unfähig wahrgenommen wurden, mit den Anforderungen der (europäisch definierten) Moderne fertig zu werden. Die heute durchaus salonfähigen Auslassungen über die Demokratieunfähigkeit "der Araber" oder "der Afrikaner" und vor allem die entsprechende politische Praxis liegen ganz auf dieser Linie. Mit größter Selbstverständlichkeit wird auch heute von einem Verfügungsrecht gewisser Nationen über die Ressourcen anderer und eine Hierarchie im Lebensrecht beziehungsweise eine natürliche Rechtlosigkeit der Menschen "da unten" ausgegangen.

Traverso lässt Primo Levis Bild vom "schwarzen Loch" unangetastet, um anzudeuten, dass das menschliche Vermögen, die Dinge einzuordnen, zu verstehen und mit analytischen Mitteln auszuleuchten, bei der Shoah überfordert ist. Er belässt es aber nicht beim Beschwören der Unbegreiflichkeit, sondern fordert eine Vertiefung des Wissens, zumal - und das wird bei der Lektüre von Moderne und Gewalt erschreckend deutlich - genealogische Linien, die zum Nationalsozialismus und seinem Terror hinführen, durchaus nicht aus der Welt sind.

Im Gegenteil. Obwohl sich Traverso an keiner Stelle ausdrücklich auf aktuelle Entwicklungen bezieht, lesen sich nicht wenige Passagen von Moderne und Gewalt wie Aussagen über das kriegerische Imperium, das sich heute anschickt, die Welt seiner totalitären Herrschaft zu unterwerfen: mit den Mitteln des totalen Krieges, des technisch perfektionierten Terrors gegen Zivilbevölkerungen sowie durch die Schaffung rechtsfreier und öffentlichkeitsfreier Räume und einer messianischen, häufig rassistisch unterlegten Ideologie.

Bei den Kolonialkriegen, so Traverso, handelte es "sich nicht um Konflikte, wie sie im Völkerrecht vorgesehen waren, in denen sich feindliche Staaten gegenüber standen (...): es handelte sich um Plünderungs- und Zerstörungskriege, die nicht erklärt wurden und mit der völligen Unterwerfung unter die erobernden Länder endeten. Die Feinde waren weder Regierungen noch eigentlich Armeen, sondern die Bevölkerungen selbst; deshalb gab es keinerlei Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten." Wohlgemerkt, die Rede ist von den klassischen Kolonialkriegen früherer Jahrhunderte.

Im Gefolge des Ersten Weltkriegs, stellt Traverso fest, als die Europäer sich gegenseitig und nicht zivilisationsferne "Wilde" bekämpften, kam es bereits zu "mentalen Veränderungen", so der "Gewöhnung an den gewaltsamen Tod und eine(r) Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben". Errungenschaften wie das Verbot der Folter, die Respektierung des Lebens der Gefangenen und der Zivilbevölkerung, "die seit der Aufklärung als unumkehrbar angesehen wurden", galten nicht mehr unbedingt. Dies ging einher mit einer "Entmenschlichung des Feindes", die von der militärischen Propaganda und der Presse betrieben wurde." - Nur allzu vertraute Gesichter, Möglichkeiten der westlichen Zivilisation. So sieht Traverso auch die Synthese von Archaisch-Irrationalem und Moderne in Form einer durchrationalisierten Verwaltung und der hohen Priorität, die der Technik durch die Nazis eingeräumt wurde. Die Vernichtungslager waren durchrationalisierte "Fabriken des Todes", in denen "ohne Hass" gemäß bürokratischen Richtlinien getötet wurde. Wer des Todes war und warum, leitete sich aus einer Ideologie ab, in der sich Mythen von einer Regeneration durch rassische Reinigung, und Projektionen allen Übels auf "den Juden" mit scheinwissenschaftlichen Begründungen verbanden. Solche Verbindungen von modernen Mythologien, wildwüchsigen Ideologien und pseudoreligiösen Topoi mit kühlem Pragmatismus und instrumentellem Denken sind offenbar keine längst überwundenen historischen Verirrungen und Verwirrungen. Verfolgt man den Kreuzzug gegen den Terror, findet sich leider kaum Anlass zu der Hoffnung, dass die "historische Kontinuität" unterbrochen ist, "die aus dem liberalen Europa des 19. Jahrhunderts ein Laboratorium der Gewalttaten des 20. Jahrhunderts und aus Auschwitz ein authentisches Produkt der westlichen Zivilisation machte".

Enzo Traverso: Moderne und Gewalt - Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors. Übersetzt von Paul B. Kleiser, ISP, Karlsruhe 2003, 160 S., davon 16 Bildseiten, 15 EUR


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