Echo der syrischen Revolution in Frankreich

Ein gemeinsamer Kampf Syrer*innen im französischen Exil, die am Aufstand gegen das Assad-Regime beteiligt waren, sehen bei allen Unterschieden Parallelen zu dem der Gilets Jaunes.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mit der Bewegung der Gilets Jaunes hat ein breiter Diskussionsprozess die französische Gesellschaft erfasst. Menschen, die bisher kaum etwas voneinander wussten oder sich füreinander interessierten, lernen sich kennen, tauschen sich über sehr Grundsätzliches aus und ziehen gemeinsam solidarisch Konsequenzen. Linke Intellektuelle in Paris und anderen Großstädten wurden von der Bewegung überrascht, und manche konzedieren, dass sie einen großen Teil der französischen Gesellschaft und deren Nöte bisher nicht wahrgenommen haben. Aktuelle gewerkschaftliche Kämpfe, Mobilisierungen von Studierenden, Schüler*innen, Beschäftigten bei der Post, der Bahn, antirassistische Initiativen und viele andere öffnen sich - bei aller Skepsis - der neuen Bewegung gegenüber, und diese schließt sich teilweise jenen Mobilisierungen an. Auch Syrer*innen im Exil, die an der Revolution gegen das Assad-Regime beteiligt waren, erkennen sich in der Bewegung der Gilets Jaunes wieder - und fühlen sich angesichts der Repression des französischen Staates erinnert an die (selbstverständlich ungleich brutalere) des Assad-Regimes, sobald es sich ernsthaft in Frage gestellt fühlte.

Hier (aus dem Französischen übersetzt) die Gedanken der syrischen Revolutionär*innen im französischen Exil:

Auch wir, die wir die syrische Revolution, sei es vor Ort oder im Exil, erlebt haben, freuen uns, dem Aufstand der französischen Bevölkerung beizuwohnen. Wir sind allerdings allarmiert angesichts der „Sicherheitsmaßnahmen“ und „Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“, die gegen die Gilets Jaunes in diesem Land ergriffen werden, das von sich behauptet, für die Menschenrechte zu stehen. Selbstverständlich haben wir uns nichts vorgemacht, was den demokratischen Schaukasten der französischen Republik angeht. Wir wollen hier nur klarstellen, dass es der Staat selber ist, der diesen derzeit zertrümmert.

Die irrwitzige Zahl der Verhaftungen, zu denen es in den letzten Wochen gekommen ist; die voreiligen Bewertungen, durch die Menschen wegen ihrer politischen Überzeugungen ins Visier geraten, ohne dass irgendwelche Beweise für Straftaten vorlägen; der Ruf nach einer Intervention der Armee; die präventiven Verhaftungen; die Videos von der polizeilichen Repression, die man überall in Frankreich erleben kann; die Propaganda seitens Regierung und Medien und die lächerlichen Versuche, die Situation zu beruhigen – alles erinnert uns an das, was wir erlebt haben, als die syrische Revolution begann.

Selbstverständlich ist die Gewalt, zu der die französischen Ordnungskräfte greifen, kein Vergleich zur scharfen Munition, mit der das syrische Regime auf Demonstrant*innen schoß. Wir sehen in dieser relativen Zurückhaltung jedoch eher ein Zeichen der Vorsicht, während nichts darauf hindeutet, dass es am Willen fehlt, die zum Einsatz kommenden Mittel zu verschärfen. In den Erklärungen und im Verhalten des Präsidenten, der Polizei und oft auch der Medien erkennen wir die Reaktion eines Regimes, das hartnäckig an der Macht festhält, koste es, was es wolle.

Die Szene bei der die Schüler*innen in Mantes-La-Jolie zusammengetrieben wurden, hat uns tief erschüttert. Uns Syrer*innen erinnert das an die Schüler*innen von Deraa im Jahr 2011. Sie waren wegen Sprüchen, die sie an die Hauswände ihrer Schule gekritzelt hatten („Bald ist die Reihe an dir, Doktor“ und „Freiheit“), verhaftet worden, und einigen von ihnen wurden die Fingernägel ausgerissen. Beide Szenen, so unterschiedlich sie auch hinsichtlich des Ausmaßes der Gewalt sind, zeugen doch von der gleichen Bereitschaft umstrittener Regierungen, diejenigen, die sie destabilisieren wollen, zu demütigen. Die Revolution in Syrien ist tatsächlich ausgelöst worden, nachdem der Bürgermeister von Deraa sich weigerte, die verhafteten Kinder freizugeben und dazu folgenden Kommentar abgab: „Vergesst eure Kinder, eure Frauen werden euch neue schenken. Falls nicht, bringt eure Frauen zu uns, dann erledigen wir das für euch.“

Doch machen wir noch einen Schritt zurück: zur Place de a Contrescarpe (in Paris; S.D.) am vergangenen 1. Mai. Denn da zeigte sich etwas, was wir bis dahin für unsere „exklusive“ Erfahrung hielten. Von den Benallas haben wir jede Menge! Wir nennen sie shabiha: die Milizen des Regimes, ein bisschen wie die BAC (dem Innenministerium unterstehende polizeil. Spezialeinheit; S.D.), nur dass sie weder Armee noch Polizei sind, sondern Banden in Zivil. Zusätzlich zu den Plünderungen und Konfiszierungen, die das Regime zuvor begünstigt hatte, spezialisierten sich die shabiha vor allem darauf, Menschen zusammenzuschlagen, zu foltern, und darauf, Demonstrant*innen umzubringen, egal ob sie bewaffnet waren oder nicht.

Auf den Punkt gebracht – diese brutalen Schlägertrupps der shabiha verkörpern die zur Normalität gewordene Gewalt des Regimes als quasi patriotisches Vorgehen. Damit verbunden ist eine umfassende diskursive und materielle Struktur, die sich im Laufe der Zeit auch auf nicht direkt mit dem Regime verbundene Personen ausgedehnt hat, die jedoch entschlossen sind, das Regime bis zum Letzten zu verteidigen. Der Kommentar (eines Polizisten? Eines Zivilen?), den man am Ende des Videos von der Razzia in Mantes-La-Jolie hört, ist ein Beispiel par Exzellenz von dem, was shabiha bedeutet: „Na also, da haben wir eine brave Schulklasse.“ Am Ende ist jede Repression sadistisch.

Sicher, die Repression äußert sich hierzulande nicht auf dieselbe Weise – es gibt unterschiedliche Methoden, eine Bevölkerung zu beherrschen. Im Falle Frankreichs bedeuten die Brosamen, die das Regime schweren Herzens schließlich hingeworfen hat, nichts weiter als Vorwände mit Blick auf die öffentliche Meinung, um die Schläge zu rechtfertigen, mit denen die rechnen müssen, die immer noch nicht nach Hause gehen wollen.

Vor einigen Jahren hat man die arabischen Völker für ihre Aufstände beglückwünscht. Der arabische Frühling war diese schöne Überraschung; denn endlich nahmen diese Bevölkerungen das Joch der Diktatur nicht mehr hin. Das französische Volk hat angeblich das Recht, sich frei zu äußern und zu versammeln und an „freien Wahlen“ teilzunehmen (auch wenn diese von den Reichen, ihrem Geld und ihren Medien inszeniert werden). Die Französinnen und Franzosen, heißt es, revoltierten, weil es ihnen um „soziale Angelegenheiten“ gehe, so erklären uns die Expert*innen und Spezialist*innen. In diesem Zusammnhang muss daran erinnert werden, dass sich die Menschen in Syrien nicht nur erhoben haben, um ihr Wahlrecht nutzen oder einen Zeitungsartikel schreiben zu können. Es ging um die Würde. Um ihretwillen sind wir gegen die Diktatur in Syrien aufgestanden. Heute erleben wir in Frankreich, dass wir zusammen mit Menschen demonstrieren, denen es um eine gerechtere Verteilung der Reichtümer geht und die sich gegen eine ihre Macht missbrauchende Minderheit wenden. Wir können da nicht neutral bleiben. Es ist unsere Würde, um die es geht, hier wie dort.

Man spricht in diesen Tagen viel von der Radikalisierung. Was wir feststellen: Es gibt tatsächlich auf der einen Seite eine Gewalt gegen Sachen, gegen die Schaufenster von Luxusboutiquen, Banken etc. Ziemlich (un)wichtige Sachen. Auf der anderen Seite gibt es eine Gewalt gegen Menschen. Eine Gewalt, die, um jene Sachen zu schützen, selbst Leben aufs Spiel setzt. Es ist der Staat, der tötet. Überall und nicht nur in Ländern wie dem unsrigen.

Das Vokabular, das in diesem Zusammenhang benutzt wird, ist uns allzu vertraut. Eure Randalierer*innen und Störer*innen der öffentlichen Ordnung sind unsere „Übeltäter“, „Agitator*innen“, eure Linksradikalen und Rechtsextremen sind unsere „Eingeschleusten“ und „ausländischen Agent*innen“. Das syrische Regime hat ein ganzes Wörterbuch erschaffen. Doch die Disqualifizierung der Wut und des Protests, als angeblich fremd, von außen kommend, und daher extremistisch, zeigt uns nur, dass die Macht, wird sie in Frage gestellt, überall dieselbe Sprache spricht. Lassen wir es niemals zu, dass sie Verwirrung stiften.

Und schließlich zum Thema Einwanderung und Rassismus – wir haben die Rede von Macron gehört, das, was er fast unmerklich hat einfließen lassen, als er auf „die Krise hinsichtlich der Steuern und der Repräsentation“ einging. Da sprach er von der „Problematik, die mit der Veränderung unserer Gesellschaft einhergeht, der Infragestellung des laizistischen Prinzips und von Lebensweisen, die Barrieren aufrichten, Distanz schaffen“. Dieses Gerede ist schwerwiegend und gefährlich, und es unterscheidet sich nicht von dem Le Pens und anderer. Neu ist es im Übrigen auch nicht und zeitigt konkrete und systematische Wirkung: Gefangennahme, Demütigung, Abschiebung. Eins ist sicher – falls manche zögern, sich den Gilets Jaunes anzuschließen: Es ist vor allem der rassistische Staat, gegen den wir uns wenden müssen.

Was die Äußerungen gegen Migrant*innen von Seiten mancher GJ angeht, handelt es sich da um eine andere Auseinandersetzung. Hier können persönliche Begegnungen und Gespräche Gelegenheiten bieten: ein Tee bei der Blockade am Kreisverkehr, ein Gespräch auf den Barrikaden, das sind Gelegenheiten, um endlich mal fern der institutionellen Zusammenhänge und der Vorgaben von oben zu reden; denn die sind die eigentlichen Barrieren. Sie verhindern, dass wir sagen, was wir denken: Es sind weder die Immigrant*innen, noch die im französischen Exil Lebenden, die Französinnen und Franzosen ein Leben in Würde streitig machen – es ist der unverschämte Reichtum einiger weniger.

Deshalb rufen wir diejenigen, die in Frankreich im Exil leben, auf, den Mut zu haben und sich zu zeigen und sich keinesfalls gegenüber einem Kolonialstaat verpflichtet zu fühlen, der so gnädig ist, uns hier leben zu lassen. Es gibt niemanden mehr, den es nichts angeht.

Wir wollen nicht vergleichen. Es schien uns trotzdem wichtig, einige Parallelen aufzuzeigen. Das deutlich zu machen, wo wir gemeinsame Wege gehen können. Fördern wir die revolutionären Verbindungen, die über die einseitige (oft weiße, bürgerliche, humanitäre und barmherzige) Solidarität hinausweisen. Wir sind bereit, unsere Kräfte einzubringen. Lasst uns versuchen, etwas gemeinsam zu entwickeln und Mittel, Ideen und Sorgen miteinander zu teilen. Was wir im Grunde sagen wollen, ist etwas, was wir all die letzten Jahre zu gerne gehört hätten: dass unser Kampf ein gemeinsamer ist.

Will man eine grundlegende Änderung, so geht es dabei weder um ein Stückwerk, noch bleibt diese Bestrebung auf die nationale Dimension begrenzt: Man kann nicht für die Revolution in Syrien sein und sich zugleich mit Macron arrangieren. Ihn und seine Welt zu bekämpfen, ist für uns ein Schritt, um Assad und seine Hölle zu überwinden.

Es ist noch zu früh, um wieder nach Hause zu gehen, aber es ist auch nicht zu spät, um von dort aufzubrechen. Jedenfalls werden die Dinge nicht so sein wie zuvor. Die Völker wollen keine Welt ohne Hoffnung. Doch der Umsturz der Regimes wird nicht genügen. Bei dem, was danach kommt, sind erst recht Kämpfe zu bestehen… Wir werden uns erst zufrieden geben, wenn des Systems, das die Macrons und die Assads hervorbringt, gefallen ist.

Bis ganz bald..

Syrische Revolutionär*innen im Exil

Erschienen bei lundi matin 169 am 14. Dezember 2018

https://lundi.am/Les-peuples-veulent-la-chute-des-regimes

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden