Eine unheimlich rationale politische Kampagne

Brisanz des Rechts Von emotionalen Vorräumen des Bewussten, der Lust an der gemeinsamen Empörung, dem ganz besonderen deutsch-israelisch(palästinensischen) Verhältnis und der BDS-Kampagne

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„Chicolini may look like an idiot and talk like an idiot, but don’t let that fool, you – he really is an idiot.” Groucho Marx in Duck Soup (1933), zitiert nach Dominik Finkelde, Phantaschismus – Von der totalitären Versuchung unserer Demokratie.

Israel hatte seinerzeit, wie jeder neu gegründete Staat, der die Aufnahme in die UN anstrebt, gewisse Bedingungen zu erfüllen. Unter anderem war es aufgefordert, das Recht auf Rückkehr der Palästinenser*innen, die mit seiner Gründung zu Flüchtlingen geworden waren, anzuerkennen. Dieses Recht ist in der UN-Resolution 194 festgehalten (die seit 1949 alljährlich durch die UN-Generalversammlung erneut bestätigt wird). Der soeben gegründete Staat Israel wurde Mitglied der Vereinten Nationen.

Nun gibt es zahlreiche Staaten dieser Erde, die internationale Abkommen unterzeichnen und sich dann um deren Einhaltung nicht scheren. Andere – auch Israel in manchen Fällen – unterschreiben oder ratifizieren gar nicht erst, wenn sie nicht gedenken, sich an ein Abkommen zu halten. Über die schreienden Widersprüche zwischen hehren Ansprüchen und ernüchternder Realität kann man sich aufregen oder auch verzweifeln. Man mag nach Gründen suchen, warum die Welt so schlecht ist oder sich damit abfinden, solange es einen nicht persönlich betrifft. Man würde es allerdings, zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften nicht hinnehmen, wenn solche Widersprüche tabuisiert würden.

Auf eine schwer verständliche Art verhält es sich ganz anders, wenn das nach Jahrzehnten nicht umgesetzte Rückkehrrecht der Palästinenser*innen auch nur erwähnt wird, immerhin ein international anerkanntes Recht. (Wie dieses umzusetzen wäre, ist eine andere Frage, die von den Betroffenen – Palästinenser*innen und Israelis – auf Augenhöhe auszuhandeln wäre, selbstverständlich ohne das Recht selber zu verhandeln.) Ein Recht als solches ist nicht einfach vom Tisch zu wischen – außer man gibt offen zu, Internationales Recht, Menschenrechte, den Grundsatz der Gleichheit und den ganzen anderen Plunder der Aufklärung, der französischen Revolution, „des westlichen Abendlandes“ etc. nur dann gelten zu lassen, wenn es einem in den Kram passt. Das hat meines Wissens noch keine israelische, bundesdeutsche oder sonst eine Regierung getan.

Stattdessen wird gegen den Hinweis auf das Rückkehrrecht der Palästinenser*innen, an dem die internationale Gemeinschaft bzw. die Vereinten Nationen nach wie vor nominell festhalten, grundsätzlich ins Feld geführt, es bedeute die Vernichtung Israels. Dies geschieht insbesondere in Deutschland reflexhaft – und mit schöner Offenheit. Unumwunden wiederholt man hierzulande: Der demokratische Rechtsstaat Israel, zu dem wir besonders enge Beziehungen pflegen, Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft und beileibe kein outcast oder rogue state, sieht sich durch ein Recht substantiell bedroht. Wir sind stolz darauf, ihm in der Abwehr dieser Bedrohung durch ein Recht unverbrüchlich zur Seite zu stehen. Man fühlt sich an den Spruch des Groucho Marx erinnert und möchte ihn etwa so abwandeln: Israel sieht ganz so aus wie ein Staat, der grundlegende Rechte missachtet, und es verhält sich auch entsprechend. Doch das soll uns nicht beirren – es ist tatsächlich ein solcher Staat. Und wir unterstützen es darin voll und ganz.

Was bedeutet es nun, dass man sich von radikal links bis in den Mainstream ausgerechnet in Deutschland mit diesem paradoxen Konstrukt - ein Rechtsstaat sieht sich durch ein Recht bedroht – auf obszöne Weise identifiziert, jede Erwähnung oder Diskussion tabuisiert? Mehr noch: sich bedingungslos mit moralisch erhabenem Gestus auf die Seite des solcherart „bedrohten“ Staates stellt? Ist „obszön“ zur Beschreibung des Phänomens einer kollektiven Ausblendung, mit der sich quasi die gesamte Nation wohlfühlt, das richtige Wort? Geht es hier um einen Lustgewinn, einen Genuss, den Genuss eines Wir, der durch die Identifizierung mit einer solchen Übertretung des eigenen normativen Selbstverständnisses erzielt wird? Der Ausdruck „obszön“ könnte insofern treffend sein, als sich Deutschland – Eliten wie Bevölkerung und insbesondere radikale Linke – darin auf eine unheimliche Art einig ist, dass „wir“ als Deutsche Israel als den Staat, der einer Ethnie uneingeschränkte Rechte zumisst, bedingungslos und mit Stolz und Freude unterstützen. Anders ausgedrückt: Nicht mehr als Ethnokratie zu existieren, sondern als demokratischer Rechtsstaat aller seiner Bürger*innen und in Anerkennung seiner internationalen Verpflichtungen würde unserer Ansicht oder politischen Phantasmagorie nach bedeuten, Israel existiere nicht mehr! Rechte anzuerkennen wäre der Untergang Israels, so wie wir es lieben, gegen den wir uns mit aller Macht von Tabu, Ausblendung und Verdrängung wenden. Gerade wir Deutschen seien angesichts unserer Vergangenheit diesem Israel verpflichtet, heißt es immer wieder und mit einem selbstgefälligen Gefühl der Genugtuung, als taumle man dabei nicht über einen Abgrund von Aporien.

Zu diesen Überlegungen hat mich unter anderem das oben zitierte Buch von Dominik Finkelde von der Hochschule für Philosophie München angeregt. Der Erkenntnistheoretiker Finkelde beleuchtet darin die phantasmagorischen Grundlagen politischen Bewusstseins oder politischen Engagements – auch in den etablierten Demokratien unserer Gegenwart, wenn es darum geht, mit schwerwiegenden Aporien auf der gesellschaftlichen Ebene von Gemeinwesen umzugehen bzw. nicht umzugehen – sie auszublenden oder zu verdrängen. Die Dynamik solcher Prozesse erläutert Finkelde in seiner „philosophiepolitischen Untersuchung“ unter anderem am Beispiel der Anthrax- und Massenvernichtungs-Phantasmen unter der US-amerikanischen Regierung (2001 – 2003), die nach den Anschlägen vom 11. September wesentlich „zur Kollektivkonstruktion eines Wir“ beitrugen, das nicht nur „mit Überzeugung in den Zweiten Irak-Krieg zog“, sondern, weit darüber hinaus, auch dabei half, eine bisher geltende normative Rechtskultur teilweise über Bord zu werfen. Das „Nicht-mehr so genau-Nehmen normativer Ansprüche“, die eben noch allgemein anerkannt waren, wird, so Finkelde weiter, mit einem unbewusst auftretenden obszönen Genuss verbunden. Dabei bezieht sich der Autor u.a. auf Marx, Freud und vor allem Lacan und Zizek, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Umstand befassen, „dass Genuss ein politischer Faktor kollektiver Willensbildung ist“. Seine Überlegungen helfen dabei, Mechanismen der Ausblendung besser zu verstehen und auf diese Weise den emotionalen Vorraum rationaler Gründe, wenn nicht zu betreten, so doch um ihn zu wissen.

Sich gelegentlich zu fragen, was sie eigentlich treibt, möchte man auch denen nahelegen, die sich mit nicht nachlassendem Lustgewinn über ein als monströs imaginiertes Israel ereifern. Der allgemeinen deutschen Israel-Devotion, steht ein Häufchen Dauer-Echauffierter gegenüber, die Gemeinde derer, die sich „mit Palästina solidarisch“ erklären – was immer das heißen mag. Jedenfalls geht diese „Solidarität“ einher mit einer Diabolisierung eines Staates – Israel – die auf jede/n Außenstehenden nur irre wirken kann. Es ist eine moderne Demokratie wie Deutschland oder Italien, es ist das 21. Jahrhundert, Kapitalismus und die dazugehörigen Macht- und Konkurrenzmechanismen – was erwartet ihr, möchte man den Eifernden entgegenhalten. Doch die genügen sich selbst in ihrer vor Empörung bebenden Bubble.

Das anheimelnde Gefühl der gemeinsamen Empörung würde nur gestört durch ernsthaft gestellte und sorgsam geprüfte Fragen wie: Warum Palästina bzw. Israel und nicht Bangladesh, Marokko oder Haiti als Gegenstand deutschen Eifers? Warum agiert Israel – ein Staat wie jeder andere – so, wie es agiert? Was haben wir – als Deutsche, als Europäer*innen, Bürger*innen verbündeter Staaten, damit zu tun? Worum geht es uns eigentlich genau, wenn wir uns auf Israel/Palästina beziehen? In welchem Zusammenhang steht ein solches politisches Engagement zu hier und zum Rest der Welt?

Das sind die Fragen, die sich die Aktivist*innen der weltweiten BDS-Kampagne (Boycott Divestment and Sanctions) stellen. Vielleicht vor allem, weil sie für die deutschen Gefühlsmenschen (mit ihren diversen Obsessionen) zu sachlich ist, hat es eine Kampagne wie BDS in Deutschland schwerer als anderswo. Vielleicht weil die vor mehr al einem Jahzehnt von palästinensischen grassroots angeregte weltweite Kampagne so wenig mit Ideologie oder der Verteufelung eines Staates, statt dessen alles mit Internationalem Recht und dem Aufzeigen von Zusammenhängen – etwa zwischen einer (US-amerikanischen) Firma wie HP und der israelischen Besatzung – zu tun hat, zündet sie in Deutschland weniger als anderswo.

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