Palästinensische Avantgarde aus aller Welt

Palästina in Kreuzberg Derzeit läuft das erste Festival palästinensischer Kunst in Deutschland, genauer in Berlin - mit seinen ca. 40 000 aus Palästina stammenden Einwohner*innen

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Wohin werden wir gehen nach der letzten Grenze, wohin werden die Vögel fliegen nach dem letzten Himmel, so Mahmoud Darwish 2003, wenige Jahre vor seinem Tod.

Am 9. September eröffnete das Ballhaus Naunynstraße, Berlin Kreuzberg, mit einem Festival, wie es in Berlin und Deutschland noch nicht zu erleben war: Unter dem Titel After The Last Sky werden erstmals zeitgenössische palästinensische Künstler*innen aus den Bereichen Schauspiel, Tanz, Film, bildende Kunst, Musik, Performance, Literatur und Spoken Word in ihrer facettenreichen Praxis zu sehen und zu hören sein. Berliner*innen und somit auch die große Berliner palästinensische Commuty (ca. 40 000 Menschen) werden die Gelegenheit haben, ein breites Spektrum palästinensischer Narrative und Ausdrucksformen kennenzulernen und mit Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen über palästinensische Themen zu diskutieren – die zugleich universell und hochaktuell sind.

Mahmoud Darwish, der im Titel des Festivals zitiert wird, galt als „Dichter der palästinensischen Nation“, ein Label das unter einer Bedingung zutreffen mag: wenn damit auch die Universalität gemeint ist, die jede Zeile seiner Gedichte kennzeichnet, in denen es häufig um die, besser, eine der vielfältigen palästinensischen Erfahrungen geht. Diese verweisen wie auch das Festival auf die universelle Erfahrung von Entwurzelung und in Frage gestellter oder fremdbestimmter Identität, von Neudefinition des Einzelnen und des zerrissenen Kollektivs in der Welt, die Frage von Selbstbehauptung und Widerstand angesichts einer übermächtigen Matrix der Kontrolle und Einschränkung.

Als am 9. September zum Festivalauftakt die Gruppenausstellung Questioning the Chroma Key Principle mit Konzerten - Sanaa Moussa, Gesang, und Aeham Ahmad, Klavier - eröffnet wurde, klangen im wörtlichen wie im übertragenen Sinn bereits die Themen und Fragestellungen an, die in den anschließenden vier Wochen von anderen Künstler*innen aufgenommen und weiter exploriert werden, mit ihren jeweils spezifischen Mitteln.

Die junge Lied-Interpretin und -Archivarin Sanaa Moussa aus Haifa deutet traditionelle palästinensische Lieder neu und das durchaus nicht im Sinne einer Reduktion auf sentimental Folkloristisches, im Gegenteil: Es geht ihr um die Rettung und das Mitteilen eines bedeutenden Teils des mündlichen kulturellen Erbes, das sie in palästinensischen Dörfern aufgespürt hat, ein Erbe, das unmittelbar vom endgültigen Verlust bedroht ist, denn die letzten Träger*innen werden nicht mehr lange am Leben sein. Moussa will ihre Arbeit als selbstbewusste Manifestation von „Gegenwärtigkeit und Dauerhaftigkeit“ verstanden wissen.

Ein weiteres Archiv – und zwar eines, das in Bezug auf seinen ideellen Inhalt neu geschaffen wurde, jedoch seine Materialität beibehalten hat – ist ein anderer Festivalbeitrag, der Film Recollection von Kamal Al Jafari. Er bearbeitet bekannte israelische Filme, die in Jaffa spielen. Dabei lässt er die israelischen Darsteller*innen „verschwinden“ und rückt die palästinensischen Statist*innen dadurch in den Vordergrund.


Der Pianist Aeham Ahmad aus dem belagerten, bombardierten und ausgehungerten palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus steht für die Selbstbehauptung des Einzelnen und einer Community durch Musik. Während er und die Bewohner*innen eines ganzen Stadtteils, der Welt abhandengekommen, hungerten und starben, spielte er auf seinem zwischen Trümmern aufgestellten Klavier, bis auch er fliehen musste – als einer von denen, die zum zweiten Mal zu Flüchtlingen werden. Ahmad scheint entschlossen, eine Heimat, die er vermutlich nie gesehen hat, nicht zur blassen Erinnerung einer noch blasseren Erinnerung werden zu lassen.

Das Verschwinden, Auslöschen und Ausblenden ist eines der Phänomene, die palästinische Künstler*innen auf dem Festival ausloten, während sie zugleich künstlerische Strategien des Sichtbarmachens dagegen setzen. Dies gilt auch für die Ausstellung, die am 9. September eröffnet wird. Ausgehend vom kinematographischen Verfahren des Chroma-Key („Green/Blue Screen“), das Hintergründe ausschneidet, Subjekte bildlich isoliert und eine verfälschte Beziehung zwischen Ort und Protagonist*in konstruiert, rückt die Ausstellung das Augenmerk auf die paradoxe koloniale Dialektik der „anwesenden Abwesenheit“. In der zionistischen Vorstellung vom „land without people“ als Niemandsland oder Terra Nullius wurde spätestens seit 1947/48 die Existenz der palästinensischen Bevölkerung negiert und damit eine Voraussetzung für die Überschreibung und Umdefinition des Ortes, auch durch juristische Kategorien, geschaffen. So gibt es seit 1950 das „Gesetz über den Besitz von Abwesenden“, in dem erstmals von „Anwesenden Abwesenden“ die Rede ist. Die paradoxe Konstruktion ermöglicht die „legale“ Enteignung derer, die zum Zeitpunkt der Etablierung des israelischen Staates innerhalb der neuen Grenzen vertrieben worden waren – einer von ihnen übrigens Mahmoud Darwish.

In der Befragung des Chroma-Key-Prinzips als selektive, visuelle „cut-and-paste“-Technologie, schafft die Ausstellung ein kritisches Bewusstsein für die Mechanismen des Ausschließens und Unsichtbarmachens und weist auf den Konstruktionscharakter von Wahrheit und Geschichte hin. Die Kuratorin Nadia J. Kabalan erläutert: „Im Fokus der Ausstellung stehen dabei insbesondere Archive, archäologische Forschung, die nicht selten die Vergangenheit neu schreibt, aber auch die Möglichkeiten, durch subversive künstlerische Aneignung in die Zukunft einzugreifen und Sichtbarkeiten zu schaffen. Auch das Potential von Leerstellen und Projektionsflächen reizt das Chroma-Key-Prinzip aus: So werden Räume außerhalb der eingefahrenen Sicht- und Denkweisen eröffnet und bisher unbeachtete Narrative und Imaginationen tun sich auf.“ Die Beiträge der Ausstellung hinterfragen Wahrnehmungsmuster und historische Deutungshoheiten; re-inszenieren wiederentdeckte photographische (Bild-)Archive; erkunden Dynamiken und Wirkungsweisen von Mythen, fordern die Linearität von Geschichte durch mediale und materielle Verschiebungen heraus, projizieren komplexe Kartographien von Exil und Rückkehr, intervenieren gegen das Verschwinden.

Den Kuratorinnen – die Regisseurin Pary El-Qalquili, die Kunsthistorikerin Nadia J. Kabalan und die Anthropologin und Politikwissenschaftlerin Anna-

Esther Younes, alle drei Berliner*innen mit palästinensischen Wurzeln – ist es gelungen, für dieses Festival im Ballhaus Künstler*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen zu gewinnen, „die sich mit der Un/Möglichkeit, Palästinenser*in zu sein, auseinandersetzen“, wie sie sagen. Ein Aspekt dieser Unmöglichkeit und ertrotzten Möglichkeit ist der Umstand, dass nur einige der Eingeladenen aus der besetzten Westbank und keine/r aus dem belagerten Gaza-Streifen anreisen – nicht weil es dort kein künstlerisches Leben gäbe, sondern weil es keine Bewegungsfreiheit gibt – so trivial ist das! Umso bemerkenswerter, dass das Theater Ballhaus Naunynstraße den Hürden zum Trotz, auch denen der hierzulande gepflegten Ignoranz bezüglich zeitgenössischer palästinensischer Kunst, Kultur und Debatten zu diesem Festival eingeladen hat. Einmal mehr öffnet das Haus seine Räume für die Selbst-Repräsentation und kreative, anspruchsvolle, zuweilen herausfordernde Veranstaltungen und Diskurse. Palästinensische Selbst-Artikulation nicht nur zuzulassen, sondern zu feiern, kann in einem Klima des wirkmächtigen Vorurteils, der hartnäckigen Ausblendung ein couragierter Akt der Grenzüberschreitung sein.

After The Last Sky hat das Potential, Berliner*innen mit und ohne palästinensische Wurzeln den Reichtum und die Universalität palästinensischer Kunst und Narrative nahezubringen. Zu hoffen ist für die hier seit Jahrzehnten lebenden Palästinenser*innen, zumeist 1948 in den Libanon geflohen und nach dem Bürgerkrieg nach Berlin verschlagen, in dieser Stadt quasi abwesende Anwesende, die Palästina oft nur noch als Metapher für Verlust und Unerreichbares kennen, dass das Festival ihnen Mut macht.

http://www.berlin-buehnen.de/en/festivals/after-the-last-sky

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