Film Das Raindance Festival aus London läuft erstmalig in Berlin. Die ersten beiden Filme widmen sich der Balance zwischen Privatsphäre und der Notwendigkeit, sich zu zeigen
Das Raindance Filmfestival ist zum ersten Mal in Berlin
Foto: Raindance Film Festival
Das berühmte Raindance Filmfestival aus London streckt seine Arme aus und will jetzt Berlin besetzen. In dieser Woche findet es zum ersten Mal in der Hauptstadt statt. Die Independent-Filme, die gezeigt werden, brechen keine Konventionen. Aber die Themen sind relevant – und schon der Anfang des Festivals zeigt, was die Privatsphäre uns bedeutet, wie wir damit spielen – und welche Rätsel sie stellt.
Wir sind neugierig aufeinander, weil wir als Menschen von den Geschichten und Bildern anderer Menschen abhängen. Wir wissen nicht, wer wir sind und wo unser Ich aufhört, wenn wir uns nicht vergleichen – und wenn wir nicht Nein sagen können. Es ist ein ständiges Wechselspiel von Nähe und Abgrenzung. Fotografie kann dieses Wechselspiel einfa
bgrenzung. Fotografie kann dieses Wechselspiel einfangen und zugleich symbolisieren. Genau das tut auch der Eröffnungsfilm Everybody Street (von Regisseurin Cheryl Dunn). Die Dokumentation erzählt die Geschichte einiger Straßenfotografen in New York City anhand kleiner Porträts und vieler Bilder, bewegter und unbewegter. Sie folgt den Lebensreportern durch die Straßen der Stadt, zum Beispiel Bruce Gilden. Allein ihn beim Fotografieren zu beobachten illustriert die brüchige Balance zwischen dem Schutz der Privatsphäre und dem Wunsch, sich zu zeigen und mit anderen in Kontakt zu treten.Sneak in viewWenn Gilden auf Passanten zuspringt und ein Foto schießt, erschreckt er bisweilen, manchmal erntet er Wut, oft genug ein geschmeicheltes Lächeln, oder auch nur einen überraschten Blick. Er dringt ein in die scheinbar isolierte Welt des einzelnen Passanten, aber in seiner Bewegung ist ein kurzes Innehalten zu erkennen. Ein Moment, der wirkt wie eine Frage: Darf ich? Nicht dass Gilden die Antwort abwarten würde. Aber das Zögern markiert die Grenzüberschreitung. In Everybody Street nennt Gilden selbst das den „sneak“, den er bekommt, wenn er die Menschen isoliert – durch den Druck auf den Knopf. Dass der Film aber nicht eine Dokumentaristen-Sicht zelebriert, sondern verschiedene Perspektiven in einen bebilderten Dialog bringt, ist seine Stärke.Denn Everybody Street erzählt nicht nur die Geschichten der Fotografen, sondern an diesen entlang auch die Geschichte New Yorks, die der Fotografie und Technologie (wo die verschiedenen Glaubensformen durchdekliniert werden, von analogen zu digitalen Kameras) – und eine Geschichte über die Darstellung von Identität.Einen Kontrast zu Gildens Methode zeigen die Porträts seines Street-Photography-Kollegen Jamel Shabazz, dessen Bilder gestellt wirken. Aber: „Ich habe gelernt zu fragen“, sagt der Fotograf im Interview. Denn seine sein Bedürfnis Entdeckungen hinter der Oberfläche zu zeigen, bringt die Menschen in Bredouille: zum Beispiel die Prostituierte, die einen kirchlichen Amtsträger bedient. Dazu zählt auch er selbst. Die Gefahr, die sich aus unserer Lust auf das Bild anderer und ihr Leben ergibt, macht die Spannung des Films aus.Dies ist auch den Brüchen in den Porträts geschuldet, welche die Fotografen zwangsläufig berührt. Die Welten, in die etwa der Fotograf Boogie eindringt, existieren aufgrund ihrer eigenen – illegalen – Privatsphäre: die Welt der Drogendealer und Waffen. Boogie geht hinein, seine Hände zittern vor Angst, weil sein dokumentierender Apparat den Zorn der Gewalttäter provoziert. Genau dieser Apparat, so beschreibt es Boogie, schützt ihn aber – er ermöglicht ihm die Distanz, durch die er Sicherheit vorspielen kann. Das verschafft ihm Respekt. Ein Schuss aus der Kamera ist hier Einbruch und Schutz der eigenen Sphäre zugleich. Boogie ist bisher heil aus der Sache rausgekommen. Anders als Brad.Ein Schuss, ein BildDie Schüsse in Brads Welt sind tödlich. Er ist der Protagonist des zweiten Films des Festivals, dem Drama Coldwater (Vincent Grashaw ist Autor, Regisseur und Produzent, Mark Penney ist Mitautor). Brad, ein Teenager in den USA dealt mit Drogen, verliert bei einem Schusswechsel seine Freundin. Ein für ihn kathartischer Verlust. Und dennoch schicken ihn seine Mutter und deren Lebenspartner gegen seinen Willen in ein brutal geführtes Reformierungscamp (von denen es auch wirklich in den USA einige gibt). Dort nimmt man den jugendlichen Männern jegliche Privatsphäre und Würde, militärischer Drill und Niederträchtigkeit herrschen – gar Folter.Die Bilder sind schwer zu ertragen, weil der Schmerz von Nadeln unter den Fingernägeln oder absterbenden Füßen kaum fernzuhalten ist vom eigenen Körper. Der Film ist mutig, weil er thematisiert, wofür Dutzende Todesfälle in den USA seit den Achtziger Jahren bisher nicht genug Aufmerksamkeit erregen konnten: den so gut wie rechtsfreien Raum der Erziehungscamps in den Staaten. Seine Struktur ist die eines gut verschachtelten Krimis mit glaubwürdigen Schauspielern. Das Animalische in der Gewalt ist nie zu aufgesetzt, nur die Gewalt ist zu schlimm, um sie ganz fassen zu können. Bilder vom KriegFür den Zuschauer geht es ums Hinschauen. In dem Camp geht es ums Überleben. Und letztlich sterben die Menschen – die Jungen drehen durch, nachdem sie zu lange in einem System von Gewalt und Hierarchie gegeneinander ausgespielt und gequält wurden. Nein sagen geht nicht oder endet in schlimmer Strafe. Den Zugriff auf das Ich haben die Jungen nicht mehr selbst, sie sollen angepasst werden, abgrenzen geht nicht. Die Jungen schlagen also zurück und bringen ihre Aufseher um. Und zwar exakt während Brad auf dem Weg ist, alle zu befreien. Er bringt nachts Beweise für die Behörden zum einzigen Briefkasten weit und breit. Als er zurückkommt und das Gemetzel sieht, erschießt er schließlich den überlebenden Camp-Chef Colonel Frank Reichert. Der, wie eine Fotografie kurz vor Filmende nochmals in Erinnerung ruft, im US-Kriegseinsatz war.Die Bilder im Krieg können wahnsinnig machen, das sagt in Everybody Street übrigens auch Boogie, einem Serben, der sich mit der Kamera nicht nur vor der Gewalt der Drogendealer schützt, sondern auch vor den Eindrücken des Balkankonflikts. Die Kamera „saved my sanity“, erklärt Boogie. Darin liegt auch die Chance eines Festivals, das Independent-Filme zeigt. Dass nämlich Themen wie den Schutz der Privatsphäre und das Spiel damit auf die Leinwand bringt.
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