Der hässliche Schatten der Demokratie

Sozialpsychologie Eine Analyse von Realitätsverlust und "gefühlter Wahrheit" in einer krisenhaften Gegenwart und ihren sozialen Folgen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Menschen in der Dauerkrise

„Keine Emotion beraubt den Geist so vollständig von seinen Möglichkeiten zu handeln und zu denken wie die Angst.“ Edmund Burke, Irischer Philosoph

Wir leben in einer Grenzsituation sich aufsummierender Krisen. Vor 14 Jahren, 2008, waren wir mit einer Weltfinanzkrise konfrontiert einer Spekulationskrise von Banken, die in ihrer Verantwortungslosigkeit fast das globale Handelssystem und damit weltweit Gesellschaften in den Abgrund blicken ließen. 2015, also 7 Jahre später, erreichten uns Hilfesuchende, eine große Fluchtbewegung, ausgelöst durch kriegerische, innenpolitische Auseinandersetzungen in Syrien und dem Irak, der Türkei und den Kurden, Demokratiebewegungen und dem religiös motivierten „Islamischen Staats“ (IS), unter Einflussnahmen der USA, Russlands und den Europäern. Parallel gab es terroristische Anschlagserien radikalisierter Islamisten weltweit, in den USA, Afrika, Europa, so auch in Deutschland.

Innerhalb Europas lösten neoliberale Wirtschaftsmodelle, der Staatsbankrott Griechenlands, der Brexit Englands, die Verabschiedung Ungarns und Polens von demokratischen Standards eine Dauerkrise der EU aus.

Neben diesen Krisen wurde uns durch wissenschaftliche Erkenntnisse wieder in Erinnerung gebracht, dass wir auch noch in einer durch uns Menschen selbst verursachten Klimakrise inclusive Artensterben, Flutkatastrophen, Hagel etc. leben. Dann kam 5 Jahre später, 2020, die Coronapandemie und 2022, 2 Jahre später, der persönliche Krieg Wladimir Putins, der Krieg eines Diktators, der seine Bevölkerung ausraubt und seine Soldaten missbraucht zu einem Krieg, den sie nicht wollen.

Gesellschaftliche Krisen sind auch Orientierungskrisen

Diese Häufung von lokalen und weltumspannenden Krisen belasten jeden Einzelnen in der Gesellschaft auf ganz individuelle Weise. Krisen lösen in ihrer Abstrakt- oder Konkretheit im Individuum Orientierungskrisen aus, das Bedürfnis zu verstehen, die Ereignisse in ihre Landkarte der Orientierung einzufügen.

Unser Körper reagiert auf die Konfrontation der Gefahren, die mit Krisen einhergehen, mit Impulsen, einem bunten Strauß verschiedener Gefühle, wie Wut, Furcht und Traurigkeit, oder anderer Gefühle, aus denen ein Gefühlskomplex, wie Angst erwachsen kann. Da in der Angst, im Gegensatz zur Furcht, die Gefahr diffus und nicht klar bestimmbar ist, ist sie verwirrender als die Furcht vor etwas Konkretem.

Angst, die bei Passivität zu einem Ohnmachtskomplex anwachsen kann, der möglicherweise zu Erstarrung, Verzweiflung, Hilflosigkeit bis zur Depression führen kann, oder bei aktiver Verarbeitung zu Hilfsbereitschaft, Kreativität, die Sammlung und Versendung von Hilfsgütern ebenso, wie die unreflektierte Kanalisierung von Angst und daraus entstehender Wut in die Suche nach „Schuldigen“.

Impulse sind die inneren Triebkräfte unserer Gedanken ebenso, wie für unser Handeln, egoistische und altruistische Gedanken und Aktivitäten aller Art.

Die Verdrängung unlustbereitender Gefühle

Die Abwehr bedrohlicher Gefühle, die in Krisen gesellschaftlich gehäuft auftreten, beeinflusst, verschiebt und verzerrt nicht nur unsere Wahrnehmung von Realität, sie überwältigt unseren Verstand. Dass Teile von Gesellschaften in partielle Realitätsfremdheit abgleiten können ist historisch belegt, man denke an Pogrome an Juden und anderen oder die Hexenverfolgungen in Pest- oder Cholerazeiten, also in gesellschaftlichen Krisenzeiten, in denen Menschen die „Schuld“ an solchen Seuchen Juden oder „Hexen“ projektiv zuschoben. Ob „Brunnenvergiftung“ oder der Glaube, die Seuchen stellten eine „Strafe Gottes“ dar, weil die „Ungläubigen“ unter Christen lebten, Rechtfertigungen (psychoanalytisch: Rationalisierungen) für Gewalt und Pogrome in Krisenzeiten gab es schon immer genügend. Und: die aggressive Abfuhr von Ängsten erleichterte die Täter, jedenfalls für einen Moment.

„…die Angstsysteme stehen in einer sehr engen Verbindung mit den Aggressions- und Hasssystemen. Das heißt, wenn ich Menschen Angst mache, dann habe ich ein hohes Risiko, dass daraus auch Hass wird, Hasstaten werden…“

...sagt der Neurowissenschaftler und Psychiater Joachim Bauer. (https://www.deutschlandfunkkultur.de/wie-angst-in-aggression-umschlaegt-unser-angstsystem-hat-100.html)

Der Erregungszustand von Teilen der demokratischen Gesellschaften, den wir heute in größerem Stil erleben, ist für viele überraschend und unverständlich. Das liegt daran, dass unsere „emotionale Intelligenz“ doch nicht so gebildet ist, wie wir vielleicht meinen.

Unbestreitbar ist eine Pandemie mit einem lebensgefährlichen Virus eine gesellschaftliche und individuelle Extremsituation. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass nicht jedes Problem, mit dem wir konfrontiert sind, von uns auf angemessene Art und Weise angegangen werden kann, weil wir von Gefühlen aller Art überschwemmt werden, die Teile von uns nur dadurch bewältigen, indem sie das Problem verleugnen („Es gibt keine Pandemie!“), das Problem kleinreden, rationalisieren („Corona ist nur eine harmlose Grippe!“) oder projizieren („Die Asiaten sind schuld…“ „Die Konzerne wollen nur Geld machen…“ „Die Eliten folgen einem geheimen Plan…“) und bei der Verortung der „Schuld“ schwingen Juden und Muslime in den Verschwörungserzählungen schon mit. Unangenehme Ängste werden verschoben (nicht ich bin gefährdet, sondern ihr) („…nicht die Ungeimpften haben die schweren Verläufe, sondern die Geimpften.“) („Das Immunsystem der Geimpften wurde geschädigt.“ „Geimpfte werden impotent.“).

Krisen sind eine wahre Fundgrube für alle möglichen Abwehrmechanismen, die Anna Freud zusammengestellt hat und auch ein Beleg dafür, wie viel Wahres und brauchbares Wissen auch heute noch in der Psychoanalyse steckt.

Die Funktion von Verdrängung

Die Funktion dieser kuriosen, realitätsfernen Behauptungen ist Ausdruck abgewehrter, unbedingt vom Bewusstsein fernzuhaltender Gefühle und bilden Stilblüten des von Emotionen überwältigten Verstandes. Der Sinn solcher Behauptungen liegt nicht darin, bspw. eine Pandemie möglichst genau zu verstehen um uns so wirklichkeitsgerecht wie möglich zu schützen, sondern um beängstigende Gefühle nieder zu halten. Der Realitätssinn wird zugunsten einer „gefühlten Wahrheit“, einer Pseudorationalität aufgegeben um uns vor unangenehmen Gedanken zu schützen.

Das Nach-denken ist der menschliche Weg, Emotionen auf schlechte Nachrichten, wie Krisen, als neue Erfahrungen zu verarbeiten, zu interpretieren, einzuordnen und in unseren Rahmen der Orientierung einzufügen, um die veränderte Realität zu verstehen. Wer in einer Krisensituation in einer Abwehrhaltung stecken bleibt, versäumt im Gefühlschaos das Nachdenken und verirrt sich im Nebel der Realitätsferne, in Pseudowahrheiten, Aktivismus und aggressiver Verteidigung eines fragilen Selbstschutzes.

Die Beschleunigung des Lebens

Wir haben es nicht nur mit einer Pandemie zu tun, sondern schon seit langem mit wirtschaftlichen und sozialen Umstrukturierungen, die immer mehr Menschen in unsichere Arbeitsverhältnisse und prekäre Lebenslagen treiben, die psychische Überlastungen mit sich bringen. Arbeits-, Sozial- und Verbraucherrechte wurden abgebaut, Arbeit wurde verdichtet oder ausgelagert und dadurch schlechter bezahlt, Menschen in nicht lohnende Selbständigkeiten gedrängt, seelische Krankheiten viel zu spät behandelt. Depressionen und Burn-out sind mittlerweile Volkskrankheiten, Wohnungen sind knapp und teuer, Löhne steigen seit Jahren nicht mehr in den unteren Gehaltsklassen, die Liste wird länger und länger.

„Die Naturverfallenheit der Menschen heute ist vom gesellschaftlichen Fortschritt nicht abzulösen. Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die wirtschaftlichen Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert.“ Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung

(Naturverfallenheit= Abhängigkeit des Menschen von Natur, Rückfall von menschlichen Kulturen in den Naturzustand)

Der frühe Mensch hatte Angst vor der Unberechenbarkeit der Natur. Daraus entstand der Wunsch, die Natur zu kontrollieren, unterwerfen. "Macht euch die Erde untertan", diese biblische Forderung spiegelt diesen Wunsch wider. Die Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno „…formulierten die These, dass sich bereits zu Beginn der Menschheitsgeschichte mit der Selbstbehauptung des Subjekts gegenüber einer bedrohlichen Natur eine instrumentelle Vernunft durchgesetzt habe, die sich als Herrschaft über die äußere und innere Natur und schließlich in der institutionalisierten Herrschaft von Menschen über Menschen verfestigte.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Dialektik_der_Aufkl%C3%A4rung)

Weltweit werden die Menschen zum Spielball von Investoren einzig darum, ihrem Reichtum eine weitere Null hinzuzufügen. Konzerne „optimieren“ ihre Steuern, werden ge- und verkauft, umstrukturiert, abgestoßen, wenn der Gewinn stimmt. Menschen sind nur noch Spielball und störendes Beiwerk dieser Spekulationen und Gewinnmaximierungen.

Der Mensch braucht jedoch Übersichtlichkeit und Rechtssicherheit, nicht nur Konzerne. Die längst im Gang befindliche Beschleunigung (Hartmut Rosa) gesellschaftlicher Veränderungen, deren Turbo die Digitalisierung ist, nicht ihre Ursache, ist Resultat einer unglaublichen Anhäufung von Kapital in wenigen Händen, das den Staaten, den Gesellschaften, den Menschen fehlt, um in sicheren, stabilen Verhältnissen ein einigermaßen planbares und finanziell gesichertes Leben zu führen.

Was aber, wenn das Gefühl von Sicherheit verloren geht?

Kontrollverluste sind Orientierungskrisen:

„Da die Spezies Mensch kaum von Instinkten motiviert ist, […] brauchte sie einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Hingabe, um überleben zu können...“ (Erich Fromm in: „Haben oder Sein“), „...eine Landkarte seiner [des Menschen] natürlichen und sozialen Welt, ohne die er in Verwirrung geraten würde…“ (Fromm: Anatomie der Menschlichen Destruktivität).

Diese Welt befindet sich in einem permanenten Umbau, der Mensch muss sich immer wieder aufs Neue orientieren in einer Pandemie, den Herausforderungen des Klimawandels, eines Krieges…. Wie umgehen mit ständigem Anpassungsdruck an sich verändernde Verhältnisse?

Wir alle fühlen uns in diesen Krisen mehr oder weniger ohnmächtig und ausgeliefert und verlieren zeitweise unsere Orientierung.

Die Menschen in der ehemaligen DDR mussten sich von Jetzt auf Nachher an die neuen Verhältnisse der BRD anpassen, zudem wurden viele Betriebe der DDR einfach abgewickelt. Die Menschen verloren ihre gewohnte Orientierung im Sinne von Bürokratie, Gesetzen und viele verloren auch ihre Arbeit.

Auch im Westen veränderten sich viele Dinge hin zu einer Dynamisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt, Zeitarbeit, Verkleinerung der Kernbelegschaft von großen Firmen, die Schaffung eines Mindestlohnsektors etc. Dadurch wurden viele Menschen geistig und emotional überlastet.

Das führte zu massiven Vertrauensverlusten der Politik, die diese Verwerfungen mitverantwortet und in Folge zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber der Demokratie, Medien und Wissenschaft. Und direkt in materielle und geistige Existenzkrisen, Verwirrung, Panik, Hass, Geld- und Beziehungsstress und Angst vor Kontrollverlust, sprich, in eine Überschwemmung von Gefühlen und der Suche nach neuer Orientierung in einer chaotisch erlebten und bedrückenden sozialen Umgebung.

Die Rolle der Populisten

„Der Mensch wäre vermutlich weniger leicht beeinflussbar, hätte er nicht ein so vitales Bedürfnis nach einem in sich geschlossenen Orientierungsrahmen. Je mehr eine Ideologie vorgibt, alle Fragen widerspruchslos beantworten zu können, um so attraktiver ist sie; hier dürfte der Grund dafür zu suchen sein, weshalb irrationale oder sogar offensichtlich verrückte Gedankensysteme eine solche Anziehungskraft ausüben.“ (Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität)

Wir benötigen nach Erich Fromm nicht nur einen Orientierungsrahmen, sondern auch ein vorbildhaftes Objekt, eine Führungsfigur, die uns ein Ziel weist und damit unserem Handeln Richtung und Sinn gibt. Adolf Hitler lässt grüßen.

Das erklärt, warum Rechtspopulisten und -radikale vom Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann die „Aasgeier der Pandemie“ genannt wurden. Rechtspopulisten und -extreme beuten die Unsicherheiten der Menschen aus, indem sie Ängste und Verwirrung der Menschen durch Lügen und Verzerrungen verstärken und das Gefühlschaos verewigen, um ihnen dann rechte Verschwörungsgeschichten unterzujubeln um ihnen eine antidemokratische Richtung zu geben, sie nennen das zynisch „Kampf für Freiheit“, „Kampf gegen die Corona Diktatur“ oder den „Großen Austausch“.

Das Ressentiment als Ventil für Wut und Hass

Rechtspopulisten sind die Meister des Ressentiments, der Suche nach Schuldigen im Vokabular der Verachtung, den „Schlafschafen“ und „alimentierten Messerstechern“, der „Lügenpresse“ und des „Establishments“, der „Umvolkung“ und des „Korrektheitsterrors“, den „Linksfaschisten“, der Rachsucht am „Bösen“ schlechthin. Wut und Hass ersetzen Nach-denken.

„Friedrich Nietzsches oft kritisierter Vorwurf an die Demokratie lautet: Dass sie sich von jenem Ressentiment nährt, das sie selbst züchtet. Doch die Nachrichten von jenseits des Teiches scheinen Nietzsche Recht zu geben. Eine neue Staatsform ist auf dem Wege, sich zu etablieren, die zwar demokratisch legitimiert ist, sich aber nicht auf die Aushandlung von Interessen, sondern auf die Bewirtschaftung des Ressentiments stützt.“ (Daniel Strassberg, Psychologe und Philosoph) https://geschichtedergegenwart.ch/make-america-great-again-zur-politischen-psychologie-des-ressentiments/

Kritik an der Demokratie ist wichtig und Nietzsche hatte in diesem Punk recht. Doch der Neuen Rechten geht es nicht um die Verbesserung von Demokratie, sondern um ihre Abschaffung oder ihre Ersetzung durch Pseudodemokratie.

Viele Demokratien befinden sich in einem Stadium, in dem sie sich als Wirtschaftsdemokratien verstehen. Die Aufklärung ist innerhalb der Demokratien nur zur Hälfte erfüllt, wichtige Punkte, wie „Kontrolle der Macht“, „Rechtsgleichheit“, „Gerechtigkeit“, Beseitigung von Armut und Teilhabe der Bürger an Entscheidungen sind nur fragmentarisch und unbefriedigend gelöst. Das Projekt Aufklärung muss weitergetrieben, aber nicht abgeschafft werden, wie es die nationalen Egoisten wollen.

Wenn Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, wie in der ehemaligen DDR, sind sie die Opfer einer mehr oder weniger schlechten Politik, jedenfalls sind sie nicht die Opfer von Kriegsflüchtlingen, die die Rechtspopulisten der AFD und extremere Gruppierungen auf dem Silbertablett servierten.

Die Rechtspopulisten machen sich Groll und Wut der Vielen zu Nutze, sie sind die Dirigenten der Aggressivität und inszenieren sich als Problemlöser. Doch ändert sich irgendetwas an den politischen Zuständen, wenn die Flüchtlinge weg sind, wo wir Arbeitskräfte brauchen? Und: sind nicht eher die schlechten Löhne das Problem? Dann bietet die AFD Rache an all denen an, die die AFD als Feinde definiert. Oder offenbart hier die AFD nicht einfach ihre diktatorischen Tendenzen, jeden Widerspruch mundtot zu machen? Sie bietet die „Heile Welt“ einer „Deutschen Kultur“ an, sie fordert eine Entmischung der Kulturen, aber was soll das sein?

„Die Rhetorik des Ressentiments beschreibt die Geschichte als Verschmutzung eines ursprünglich reinen Zustandes, als Vermischung und als Dekadenz.“ (Daniel Strassberg)

Gibt es nicht überall auch unter Deutschen verschiedenste Kulturen und wozu reisen wir eigentlich, wenn wir nur unsere eigene Kultur sehen und hören wollen? Die Flüchtlinge sind selbst Opfer nicht nur von kriegerischen Despoten, wie Assad, der ohne Putins Hilfe wahrscheinlich gestürzt worden wäre, sondern nun auch noch von Teilen der Deutschen, die den Lügen der AFD folgen und Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzten.

Schon Jean Améry hat das Ressentiment als Forderung, Geschichte ungeschehen zu machen, diagnostiziert.“ (Daniel Strassberg)

Donald Trump verspricht genau das, die Rückkehr in den „seligen“ Zustand eines heilen Amerikas: „Make America great again.“ Aber wie soll das genau geschehen? Durch Steuererleichterungen für Reiche, wie Trump es gemacht hat? Seine Leute folgen ihm trotzdem und warten auf den „Tag X“, den Tag der Rache, wenn ihr Heiland Trump Rassismus zur Heilslehre erklärt und zur Jagd auf die „Eliten“ und die „Bösen“ bläst, die Schwarzen, die Migranten, die Linken (Antifa). Die Rache, die Kanalisierung von Wut auf Ungerechtigkeit fließt in die Jagd auf Migranten. Wird sich dadurch etwas verbessern? Eher nicht.

Die vulgäre Art Trumps symbolisiert den Regelbruch, den Bruch von Gesetzen, den seine Gefolgschaft fasziniert. Trump, Held und Clown in einer Person, ist die politische Figur des Systemsprengers, einer, der sich nichts sagen lässt und alles besser weiß. Das fasziniert seine Fans, die sich an Regeln halten müssen, er aber redet offen rassistisch, greift Frauen in den Schritt, der Superman der Systemsprenger, er hält sich nicht an „political correctness“, das kommt gut an, denn das Leben ist schon schwierig genug. Wieso sollte man jetzt auch noch seine Sprache verändern, wo es sowieso schon zu viele Veränderungen gibt, wo man so alteingesessene, traditionelle Wörter, wie „Neger“ und „Judenfürze“, „Schlampe“ und „Mohrenkopf“ oder „Zigeunerschnitzel“ schon immer sagte?

Das Ressentiment zielt auf die Befreiung unterdrückter Gefühle, wie Wut und Hass die in solchen Worten einen Ausdruck, eine Entladung finden. Der Führer ist der Moderator menschlicher Emotionen, vor allem der Aggression. Er gibt den Gefühlen Objekte und Ziel.

Das Gendern ist beispielsweise zum Hassobjekt der Rechten geworden, weil sie sich mal wieder zum „Vertreter des kleinen Mannes“ aufschwingen können. Ist es in einer chaotischen Welt auch noch nötig, seine Sprache zu ändern? Das Gendern ist nur Katalysator einer Wut auf die chaotische Welt. Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Die Funktion von Verschwörungserzählungen

Verschwörungserzählungen haben die Funktion, die Ohnmachtsgefühle des Individuums in einer Orientierungskrise zu bewältigen. Existenzängste, die Angst zu verarmen und zu den „Hartzern“, den „Sozialschmarotzern“ zu gehören, sind Ergebnis schlechter Politik. Armut wird auch von Politikern gern als selbstverschuldet, als mangelnde Bildung, Mangel an Leistungswillen, als Unfähigkeit und individuelle Schuld gedeutet, das verschleiert politische Verantwortung.

„Ihr sprecht von den Lastern des „niederen Volkes“ und meint, wenn nur einmal mehr „Bildung“, dann wird auch mehr Wohlstand [sein]“…“Sagt uns doch zuerst, was ihr unter „Bildung“ versteht. Die wahre Bildung, die ächte Humanität, wird in diesem Kampfe von Privaterwerbern stets den Kürzern ziehen; denn sie verschmäht die Mittel, welche angewendet werden müssten….[-]. Die falsche Bildung aber, welche den Menschen zum gebildeten – Raubthier macht, kann immer nur den einen auf Kosten des anderen bereichern.“ (S. 37, Deutsches Bürgerbuch für 1845 Hrsg. Von Hermann Püttmann)

Moses Hess, Deutscher Philosoph (1812-1875)

Niemand möchte zu den Diskriminierten, den „Losern“ gehören, aber müssen wir dann zu dem „Raubthier“ werden, das mit allen anderen um die besser bezahlten Jobs kämpft, von dem Moses Hess schon im 19. Jahrhundert sprach? Rechtspopulisten streben nach Macht, nicht um sie demokratischer zu machen, sondern um sie zu besitzen und zu radikalisieren. Ein besseres Leben auf Kosten anderer, Rache auf Kosten von Unglück anderer, das ist ihr Angebot. Das Andere als Abfuhr unserer Unzufriedenheit.

Verschwörungstheorien ersetzen Orientierungslosigkeit durch die „Erkenntnis eines großen Plans“, Hilflosigkeit durch Handlungsfähigkeit, Undurchsichtigkeit durch Feindbild, Ohnmacht durch Allmacht (Selbstermächtigung).

Das Individuum, im Besitz eines geheimen Wissens, fühlt sich klüger als die „Schlafschafe“, die Objekte seiner Verachtung sind. Damit möbelt der Mensch sein in der Hilf- und Orientierungslosigkeit verlorenes Selbstbewusstsein auf, sein Gefühl der Ohnmacht verkehrt sich in ein Gefühl von Allmacht durch „höheres Wissen“. Dieser Mensch strebt politisch nicht nach Gleichheit für alle, kein egalitäres System. Seine politische Orientierung entspricht seiner emotionalen Lage, seiner Ohnmachts-/Allmachts-Ambivalenz. Das Individuum fühlt sich als Teil einer „neuen Elite“, es ist nicht grundsätzlich gegen Macht, es will Teil der Macht sein. Dieser emotionalen Lage entspricht der Rechtspopulismus weltweit.

Die Beschleunigung des Orientierungsverfalls

„Nur eine intakte Gesellschaft entwickelt den Trieb zur Wahrheit. Der schwindende Wahrheitstrieb und der Zerfall der Gesellschaft bedingen einander.“ Byung Chul Han in: „Infokratie“

Während die großen Systeme menschlicher Orientierung, wie Religionen, Sozialismus und Demokratien angeschlagen oder im freien Fall sind, nicht mehr als „intakte Gesellschaften“ wahrgenommen werden, zerfällt der Glaube an Wahrheit selbst, wie der Philosoph der Gegenwart, Byung Chul Han, ausführt:

„Die Krise der Wahrheit breitet sich dort aus, wo die Gesellschaft zu Gruppierungen oder Stämmen zerfällt.“ Han in: „Infokratie“

Leben wir in einer zerfallenden Demokratie? Die Hinwendung von immer mehr Menschen zu neu-rechten Gerüchten über „Eliten“, Juden, den Islam, einen „Bevölkerungsaustausch“ werden von Verschwörungserzählungen getragen, die Ängste schüren, Misstrauen und Hass erzeugen und damit den diversen, berechtigten Ängsten vor mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit und Armut, Pandemie und Klimawandel der Orientierungslosigkeit eine falsche Richtung geben, und zwar die nach stramm rechts.

„Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden.“ (Theodor W. Adorno, Minima Moralia)

Auch die Erzählung von einer „Corona-Diktatur“ oder vom „Großen Austausch“ sind solche Gerüchte. Man beruft sich auf das „Recht auf Widerstand“ gegen eine angebliche Diktatur, die überhaupt nicht existiert. Tatsächlich ist der Plan der Rechtsextremen, die Demokratie zu beseitigen. Das ist einer der Gründe, dass immer mehr Menschen innerhalb unserer Gesellschaft meinen, die Demokratie bekämpfen zu müssen, sich bewaffnen und Amok laufen, in „Widerstandsgruppen“ zusammenschließen und darüber phantasieren, einen „Tag X“ vorzubereiten, an dem die „Revolution gegen die Diktatur“ beginnen soll.

In anderen Ländern sind diese Phänomene ähnlich und teilweise schon weiter fortgeschritten. Die USA hatten schon einen rechtspopulistischen Präsidenten und die Krise scheint noch nicht abgewendet. Indien steuert auf einen Hindu-Nationalismus zu, der die islamischen Gläubigen als innere Feinde proklamiert. Polen schafft gerade die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit (Judikative) ab, eine wesentliche Säule der Demokratie, und schürt Fremdenhass, diskriminiert Frauen und Homosexuelle! Ungarn hat die Unabhängigkeit der Presse eliminiert und schürt Nationalismus und Hass gegen den Islam! England wurde durch massive Wahlmanipulationen durch das Internet in den Brexit getrieben! In Frankreich scharren seit Jahren die Rechtsextremen mit den Füßen. In Österreich war schon eine rechtspopulistische Partei Mitglied der Regierung. Und in Deutschland sitzt die rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme AFD im Bundestag und in den Landtagen. Teile der AFD stehen unter Beobachtung des Verfassungsschutzes und man erwägt, die ganze Partei unter Beobachtung zu stellen.

Das alles ist sehr beunruhigend.

Das Problem der digitalen Information

Warum verfallen immer mehr Menschen rechtspopulistischen Bewegungen oder Parteien? Der Philosoph Byung Chul Han lieferte bislang eine der beeindruckendsten Analysen unserer Gegenwart und erklärt, warum unsere Gegenwart so verwirrend ist.

Unsere traditionellen Informationsquellen veränderten sich über Buchkultur und Zeitungen (bis ins 19. Jahrhundert) zu den Massenmedien des 20.Jahrhunderts, wie Presse, Radio, Fernsehen und vom späten 20. Jahrhundert bis heute zum Internet als Informationsquelle. Der Philosoph Jürgen Habermas sah schon vor dem Schritt zum Internet in der Entwicklung der Medienlandschaft im 20. Jahrhundert einen „Verfall der demokratischen Öffentlichkeit“ durch die „Logik der Massenmedien“.

„Das Amüsement bestimmt die Vermittlung politischer Inhalte und untergräbt die Rationalität(Han: Infokratie)

Aus der Demokratie werde eine Telekratie, Politik erniedrigt das Argument zum bloßen Theater.

„An die Stelle der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengug tritt das Zerstreuungsgeschäft. Die Folge davon ist ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft“ (Zitat: Postman aus Han: Infokratie)

kommentiert der US-amerikanische Medientheoretiker Neil Postman diese Entwicklung. „Der Diskurs verkommt zur Show und Werbung.“ (Han: Infokratie)

Im digitalen Zeitalter radikalisiere sich der „Verfall der Öffentlichkeit“, der ein Verfall der Medienlandschaft ist, durch den „Verlust eines Zentrums“, die Öffentlichkeit „fragmentiert“,

„…die Öffentlichkeit zerfällt zu Privaträumen. Dadurch wird unsere Aufmerksamkeit nicht auf gesamtgesellschaftlich relevante Themen gelenkt…“ (Han: Infokratie).

In kurzen Abständen jagt eine Information die nächste und dadurch verändere sich die Zeitstruktur der Information.

„Es ist nicht möglich, bei Informationen zu verweilen. So versetzen sie das kognitive System in Unruhe.“ (Han: Infokratie)

Wir haben keine Zeit mehr, die Information zu verarbeiten, nachzudenken, weil uns schon die nächste Information ablenkt usw. Im Grunde nimmt die digitale Information ein Tempo an, dem wir nicht mehr Folgen können und gleicht sich damit den Prozessen des Neoliberalismus, die uns ja ebenso in ihrem Tempo überfordern, an und die Nachdenkprozesse finden immer weniger statt. Ebenso, wie unsere chaotischen Gefühle geistig verarbeitet und eingeordnet werden müssen, nur dass uns immer mehr die Zeit verloren geht, dies zu tun.

Das erzeugt chaotische Menschen, überfüllt und überfordert von Erlebnissen, Eindrücken und Informationen und keiner Zeit zum Nachdenken.

Durch das Internet ist heutzutage prinzipiell jeder Einzelne dazu befähigt, seine Meinung in den öffentlichen Raum zu setzen, entstanden presse-imitierende Seiten im Internet, die nur noch vorgeben Journalismus zu betreiben und in Wirklichkeit stark manipulativ sind. Mit den qualitativen Standards von Journalismus haben sie allerdings nichts mehr zu tun.

Im Internet bilden sich eine Unzahl von pseudojournalistischen Unternehmen, deren einzige Tätigkeit darin besteht, Menschen politisch zu manipulieren mit dem Ziel, die Verunsicherung von Menschen weiterzutreiben. Ängste werden geschürt, bewusste Falschinformationen erzeugt, Zitate gefälscht und Verschwörungen erfunden. Wahrheit ist in der Masse von Informationen nur noch ein kleiner Aspekt unter vielen. Sie verschwindet im Rauschen der Informationen. Immer weniger Denk-Zeit und immer mehr Nachrichten. Facebook und Co treiben diese Prozesse aus reinem Geldinteresse durch Algorithmen voran, Byung Chul Han spricht von einer Infokratie, die das Ende der Epoche der Wahrheit einleiten werde.

„Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird. Han in: „Infokratie“

Sich dessen zu erwehren und Alternativen einer besseren Zukunft zu entwickeln ist die Aufgabe all derer, die Demokratie als Aufgabe verstehen, als veränderbaren Rahmen und Möglichkeit einer besseren Zukunft, eine Diktatur wäre das Ende der Wahrheit.

NEHMT euch ZEIT! "In der Ruhe liegt die Kraft"

Zeit zum Nach-denken, wenn ihr verwirrt seid

-

Die richtigen Schlüsse ziehen und dann Handeln

Das Wichtige nicht spontan, sondern durchdacht

Handelt nicht allein, sondern organisiert

-

Nicht Verstand gegen Gefühl sondern:

-

Verstand Mit-Gefühl

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

spahlke

Bin als DiplSoz kein Taxifahrer,immerhin. Kritischer Zeitgeist. Was wäre die Welt ohne Tolstoijewski :-) und James Brown?

spahlke

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden