Boykott ist sinnlos

Fußball-WM Demonstrativer WM-Boykott löst keines der sozialen Probleme. Weder in Brasilien, noch bei den folgenden Turnieren.

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Ich muss gestehen, auch ich hatte meine argen Bedenken, eine Sportveranstaltung zu verfolgen, die unter derart unmenschlichen Vorzeichen steht.

So ist es ja nicht erst seit einigen Wochen der Fall, wie dereinst nun der Eindruck vermittelt werden soll, dass in Brasilien die Menschen zu Tausenden auf die Straßen gehen, um zu demonstrieren. Tatsächlich besteht die Welle von Ablehnung breit durch fast alle Bevölkerungsteile intensiv seit zwei Jahren.

Es wäre ebenso falsch, pauschal zu behaupten, die Bevölkerung wäre grundsätzlich gegen eine Fußball-Weltmeisterschaft in ihrem Land.

Vielmehr geht es darum, dass ein Land wie Brasilien, welches als Schwellenstaat kurz vor dem Eintritt in den Club der mächtigen Nationen steht, auf Kosten von Bildung, Wohnungsbau, sozialer Sicherung und Nahverkehr ein Megaevent auf Gedeih und Verderb durchboxen will.

Der brasilianischen Führung geht es also in erster Linie darum, den Großen zu beweisen, dass „man es kann“. Der selbe Diskurs bestimmte die diesjährige Ausrichtung der Olympischen Winterspiele im russischen Sotchi. Bei der südafrikanischen Weltmeisterschaft vor vier Jahren ging bei einer anderen sozioökonomischen Ausgangslage ebenfalls um diese Muskelspiele.

Man bricht sich jedoch keinen Zacken aus der Krone, wenn man die Äußerung mit trällert, dass Brasilien (ebenso wie Deutschland und Italien beispielsweise) ein fußballbegeistertes Land ist. Hierzulande geht man mit dem selben Grad an Gelassenheit, wie er spiegelbildlich die Ablehnung zum Fußball anzeigt, an die US-amerikanische Sportkultur heran. Kaum jemand, der aus guten Gründen die hiesige Fußballhysterie durchweg verabscheut, kann am amerikanischen Football-, Baseball- und sonstigem Ligen- und Kommerzsystem etwas finden.

Dabei sind dort die unmittelbaren Folgen der Verquickung von Sport, Wirtschaft und Gesellschaft ebenso handgreiflich, wenn auch nicht gewalttätiger Natur. Mit dem Umzug eines Eigentümer geführten Major-League Teams in eine andere Stadt gehen regelmäßig Arbeitsplatzverlust, Einschränkungen bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben und harte Einschnitte bei den öffentlichen Einnahmen einher.

So weit ist es im professionellen Fußball noch nicht.

Auch wenn diese Sportart seit etwa zwei Jahrzehnten einen regelrechten Vermarktungsschub erhalten hat, den vor allem der Weltverband Fifa und die europäische Uefa zu verantworten haben.

Wer meint, eine WM-Paarung in der eigenen städtischen Arena würde mobile Händler und Gastronomen am Eventumsatz partizipieren lassen, ist wegen der strikten und ausschließlichen Sponsoringverträge mit den Großen selbstverständlich schief gewickelt.

Daher ist auch eine Ablehnung bzw. Kritik der Fifa nicht nur richtig, sondern stets angebracht.

Im Folgenden möchte ich drei Gründe anbringen, weshalb man trotz allem die Fußballweltmeisterschaft verfolgen darf und vielleicht auch sollte:

1. Die Fifa ist nicht der Fußball

Ebenso wenig, wie die Kirche der Glaube ist, auch wenn die Fifa-Kirche auf Kosten der Gläubigen riesige und zweifelhafte Kathedralen bauen lässt, wie der HBO-Satiriker John Oliver treffend pointierte.

2. Die Eigendarstellung bleibt vor allem eins: Die eigene.

Der Fußball-Weltverband feiert sich nicht nur als Ausrichter, sondern begeht sein 110. Gründungsjubiläum mit einem dekadent teuren 20 Millionen Euro Film, „United Passion“, welcher die Verbandsgeschichte als Sportgeschichte mit ihren alten Herren als Heldenepos feiern möchte.

Dieser Streifen schaffte es im Mai ins Programm der Filmfestspiele von Cannes. Dies ist weniger als Prädikat für den Film denn als ein Denkanstoß das Filmfest betreffend zu bewerten.

Fußballfilme gibt es zuhauf. Als Exemplare für sozial reflektierende Filme können der englische Beitrag „Hooligans“ (2005) über gleichnamige englische Subkultur, das iranische Werk „Offside“ (2006) zur Frage der Frauenrechte und sogar der deutsche Film „Gegengerade – Niemand siegt auf St. Pauli“ über Gentrifizierung, Lebensentwürfe und Fankultur genannt werden. Letzterer feiert seine Fernsehpremiere in der Nacht von Donnerstag auf Freitag (ARD, 0.35 Uhr).

3. Auch „Fußballhelden“ müffeln beim Schwitzen

Was im Großen als „Nationalismus“ oder Vereinsfanatismus „bis zum Tod“ bezeichnet wird, hat seine individuelle Kehrseite in extremem Personenkult. Dieser umfasst nicht nur Liebe und Vergötterung, sondern hat sein Pendant in Ablehnung oder gar Hass. Gerade aus dumm-deutscher Fanseite sind die favorisierten Exemplare der Portugiese Cristiano Ronaldo oder, doppelt strafverschärfend, die jüngste italienische Hassfigur Balotelli.

Selbstverständlich neigen Profifußballer zu Profilneurosen. Sie tun das genauso, wie jeder andere Popstar. Deutsche Spieler sind da genauso wenig frei von. Man spricht nur weniger davon.

So stimmt das Wort von „unseren Jungs“ in ganz aktueller Diktion sehr gut auf die deutschen Spieler Lukas Podolski und Mesut Özil, die sich vor dem Hintergrund der aktuellen Proteste in Brasilien vor ihrem WM-Quartier stramm mit scharf bewaffneten brasilianischen Sicherheitskräften ablichten ließen. „Jungs“ sind vielleicht nicht nur schneller und leistungsfähiger. Sie neigen auch zu überdurchschnittlicher Unreife.

Für die Zukunft zu geänderten Vergabekritierien für eine Weltmeisterschaft zu kommen, bei der soziale und auch ökologische Faktoren – siehe die Anschlussverwendung für WM-Arenen, z.B. in Manaus – mit an vorderster Stelle stehen, kann nicht nur in der Hand der brasilianischen Protestierer liegen, wie es der Eindruck gerade leider auch vermittelt.

Wenn der Fußball historisch und gegenwärtig als besonders sozial integrativer Sport gilt, sind doch hierzulande die über 25 000 dem Deutschen Fußball-Bund angeschlossenen Vereine mit ihren sieben Millionen Vereinsfußballern aufgerufen, über ihre Landesverbände der Fifa die Leviten zu lesen. Und dem DFB. Auch und gerade letzterer hat es bitter nötig.

Sich dem Spektakel zu entziehen, ist nicht nur sinnlos. Es hilft auch niemandem weiter.

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