Überwachung für alle

Big Brother Mit Ronald Schills Auftritt bei der Promiauflage des Sat1-Menschenkäfigs wird die Totalüberwachung aus der Fernsehunkultur in die derzeitige politische Debatte befördert.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

http://vg07.met.vgwort.de/na/7690698f92ec4b4dac1fa831d6f6bc43

Schon die Ankündigung im Juni, Ronald Schill würde beim nächsten Prominentenspezial des Sat1-Gafferformats „Big Brother“ mitwirken, konnte in keinerlei Hinsicht Gutes befürchten lassen. Als zusätzlich seine Autobiographie „Der Provokateur vorgestellt wurde, konnte man sich bereits im Vorfeld mehr als nur fremdschämen.

  • Fremdschämen für den Parvenu Schill, der das Prinzip Big Brother für die eigene Markttauglichkeit anwendet und über seine angeblichen Sexeskapaden in Gerichtsgebäuden schwadroniert, die man über die Flure hätte hören können, über Sexsucht im Allgemeinen und Kokainkonsum mit gesuchten Mördern im Besonderen;
  • Fremdschämen für die Hamburgische Bevölkerung (ja, der Finger muss immer wieder in diese „Wunde“ gelegt werden), die sich vor gut dreizehn Jahren nicht zu schade war, den Rechtspopulisten Schill mitsamt seiner von zwielichtig bis unwissend zu charakterisierenden Mannschaft mit über 19% ins Hamburger Rathaus und Schill in die Landesregierung gehievt zu haben;
  • Fremdschämen wegen der Ausländerschelte im Deutschen Bundestag im Jahr 2002, die Schill als Vertreter der Stadt Hamburg im Rahmen der Debatte über Soforthilfen für die Opfer des Elbehochwassers abgesondert hat.

Schamlos direkt

Und auch an diesem Freitagabend gab es wieder genügend Grund zur Fremdscham. Schill als Politrentner in Rio de Janeiro, der die zwei Wochen sexueller Enthaltsamkeit im Container als Kontrast zu seinem Harem-artigen Leben in einer Favela nahe der Copacabana darstellt.

Nun. Bei der ganzen Fremdscham geht eigentlich der echte Kern des Schillschen Containerns verloren (neben 100.000€ Preisgeld und narzistischer Befriedigung):

Mehr als Programmatik denn als Rechtfertigung erläutert Schill, mit seiner Teilnahme an diesem „Experiment“ auch zu beweisen, dass es mit der sogenannten Totalüberwachung doch gar kein Problem gebe, wie ihm im Zusammenhang mit seiner Arbeit als Hamburger Innensenator vorgeworfen wurde. In England sei dies nun mal Normalität. Wenn also selbst ein derartiger Badguy und Law-and-Order-Apologet wie Ronald Schill, der sowohl vom Studiopublikum als auch vom völlig kritik- und journalismusbefreiten Moderator Jochen Schropp mit Applaus und Männerkumpanei begrüßt wird, sich dieser „Extremsituation“ stellt und somit (!) zeigt, dass das alles gar nicht so wild sei; ja, was dann?

Das Problem mit Ronald Schill war eben nicht nur, dass er antrat, auf jedem öffentlichen Platz Kameras aufzuhängen; das teils brutale aber immer wahnhafte Vorgehen mit der sogenannten „Härte des Rechtsstaats“ gegen jeden, der in der Folge des 11. September 2001 sich anschickte, Opposition gegen das Rathaus zu leisten, gehört untrennbar zur Totalüberwachung.

Die derzeitige Auffassung, die völlig unverhältnismäßige Datensammelei der Sicherheitsinstitutionen hierzulande oder anderswo sei zu trennen von deren praktischen Nutzen und Anwendung, ist weit verbreitet und verkehrt die Dimension und Größe dieser Maßnahmen zu einem lächerlichen Wahn einiger Beamter, die scheinbar zu viel Zeit hätten.

Politik mit Schill machen

Mit Ronald Schill, der sich unzensiert, Live und in Farbe, von jetzt an allabendlich zur Prime Time im deutschen Fernsehen darstellen darf – ein Privileg, dass ihm selbst in seiner knapp eineinhalb jährigen Regierungszeit bei weitem nicht vergönnt war – macht die ProSiebenSat1 Media knallharte Innenpolitik. Aber mehr noch. Ich glaube, Ronald Schill ist der erste, der sich seit Monaten in diesem Senderkonsortium inhaltlich zu Überwachung positioniert hat.

Dass Sat1 mit der Einführung des Formats Big Brother zu einer kulturpolitischen Dreckschleuder geworden ist: alter Hut.

Dass Sat1 nun mit Schill im Container zur camouflierten Presseabteilung von Innenministern, Sicherheitsbehörden und -politikern geworden ist: Hut ab.

Und: Glotze aus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden