Seinem Wesen entspricht, alle Musik, die er aufführt, durch die Brille heutiger Erfahrungen anzuschauen. Ein Punkt, der ihn von den meisten seinesgleichen unterscheidet. Partituren von Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler, deren Todreiten ein Wettrennnen um den Grammy geworden ist, hat Michael Gielen über viele Jahre durch stupende Dirigate aus ihren ästhetischen Verpuppungen befreit. Je mehr Wiener Klassizität der Haydn, Mozart, Beethoven ausverkauft wird, je mehr deren Ideale der Freiheit und Menschlichkeit heute in den Kübeln einer ruinösen, hässlichen Realität verdampfen, desto mehr Wahrheit bedarf auch das Metier des Dirigierens.
Gielen versucht immer wieder, solchen Wahrheitsanspruch im Maßstab der Wirklichkeit einzulösen. Als er irgendwann im Konzerthaus Berlin die Sechste von Mahler dirigierte, klang die Musik neu und wie gereinigt von diffusem Schönklang, merkantilem Erfolgswahn und eingefahrener Metaphorik.
Nicht anders geht Gielen, der auch als Komponist bekannt geworden ist, an Werke der Moderne heran. Man müsse nicht nur Mozart, Beethoven, Bruckner, Mahler neu lesen, man müsse auch die Musik des 20. Jahrhunderts neu durchsehen, ohne die Substanz der Werke zu beschädigen. Nicht selten hat Gielen "Musique engageé" aufgeführt. Beethovens Neunte zu konfrontieren mit Schönbergs Überlebenden aus Warschau, geht auf ihn zurück. 1978 ging er sogar soweit, nach Beethovens B-Dur-Adagio molto e cantabile an die Stelle des Chorfinales Alle Menschen werden Brüder Schönbergs appellativen Ghetto-Bericht zu setzen. Nach der Pause kam dann Beethovens Neunte komplett.
Bernd Alois Zimmermanns hochpolitisches Requiem für einen jungen Dichter (1969) befand sich regelmäßig im Programm, als Gielen Chef des SWF-Sinfonieorchesters war. Die nordamerikanische Tradition ist ihm demgegenüber fremd geblieben. Nur zögernd und sehr beiläufig hat Gielen Werke etwa der US-Amerikaner John Cage oder Morton Feldman ins Programm genommen. Komponisten wie Philip Glass sind für ihn gar kein Punkt. "Ein Phänomen wie Philip Glass empfinde ich als Zukleistern all der Schründe und Spalten, die einen wesentlichen Teil der Kunst ausgemacht haben; diese Art von Musik ist eine Lüge. Glass macht sich und den Leuten etwas vor: als ob dadurch, dass man in eine Art Trance versetzt wird, indem eine ganze Oper lang die Arpeggien irgendeiner Tonart rauf und runter gehen, irgendetwas gesagt wäre über das Leben der Menschen von heute, ihre Widersprüche und Schwierigkeiten. Gerade damit müsste Kunst doch etwas zu tun haben."
Michael Gielens Persönlichkeit trotzt den Fassaden und Oberflächenwirkungen. Sie widersteht jeglicher Versöhnung, inbegriffen der gesellschaftlichen, die für ihn in unerreichbare Ferne gerückt ist. Gielen: "Ich stehe in der Tradition Arnold Schönbergs, Rudolf Kolischs und Theodor W. Adornos." Avantgarde, diese große Initiative konstruktiver Komposition und Aufführung, sei für ihn Prüfstein, nicht die Verdrängung und Beseitigung dieser, wie es heute geschieht. Dass heutigentags bei weitem Produktionen und Aufführungen überwiegen, welche in den seichten Gewässern der Postmoderne vor Anker gehen, stimmt den gebürtigen Argentinier mehr als nachdenklich.
Gielens musikalische Arbeit unterliegt mehr als bei anderen Dirigenten persönlichen musikhistorischen Berührungen und Kriterien geschichtlicher Erkenntnis. Bereits mit 11 Jahren versuchte er, Schönbergs Klavierstücke op. 19 zu entziffern. Die Schönberg-Schule sog er gleichsam mit der Muttermilch auf. Sein Onkel war kein geringerer als der Pianist Eduard Steuermann - ein Schönberg-Schüler. Seine Mutter, Schauspielerin, hatte in Dresden Schönbergs Pierrot lunaire gesprochen. Die Neue Wiener Schule war Bestandteil des Lebens der Gielen-Familie, die vor den Nazis über Wien nach Buenos Aires emigriert war. Kaum verwunderlich, dass Gielens dirigentisches Projekt durchdrungen ist vom Schönbergschen Ethos der Musik.
Erst mit fünfundzwanzig Jahren kam er zum Dirigieren. Staatliche Förderung wurde ihm dabei nicht zuteil; er hatte nur Privatunterricht. Das Handwerk des Dirigierens, erzählt er, habe er nicht gelernt, er habe es sich abgeguckt! Mit neunzehn Jahren arbeitete er als Repetitor am Teatro Colón in Buenos Aires. Dort erlebte er die besten Vorbilder: Fritz Busch, Erich Kleiber, Toscanini. Lehrreich war für Gielen auch, als nach Kriegsende viele große deutsche Dirigenten kamen: Furtwängler, Böhm und Karajan. Erich Kleiber bewunderte er von allen am meisten.
Sein erstes Konzert enthielt ein eigenes Werk, die Musica 1954 für Streicher, Klavier, Pauken, Bariton und Posaune, die Zwei Stücke für Kammerorchester von Charles Ives, die Drei Dorfszenen von Bartok und zwei Werke von Strawinsky: Concertino für 12 Instrumente und die Rag-Time-Musik. Seine ersten Auftritte für den WDR brachten ihn als einen der hoffnungsvollsten Präsentatoren von Neuer Musik ins Gespräch. Gielen erschloss sich seinerzeit nahezu die gesamte Avantgarde-Produktion. Aufführungen von Nono, Boulez, Henze, Maderna, Stockhausen, Berio, Messiaen, Arbeit mit den Brüdern Kontarski, Yvonne Loriod, Severino Gazzeloni, Produktionen mit Spezialensembles Neuer Musik, die damals aus dem Boden schossen, gehörten zu seinem Tätigkeitsfeld.
Die verschiedenen Perioden dieses Aufbruchs hat Gielen wesentlich mitgeprägt und auch deren Krisen mitgetragen. Es gab auch Tumulte und manche Empörung, seitens der Verfügenden wie der Adressaten. Als 1965 Stockhausens Gruppen für drei Orchester unter Gielen, Maderna und Stockhausen zur Aufführung kamen, schloss sich ein Buh- und Pfeifkonzert an.
Außerordentlich fruchtbare Jahre fallen in die Zeit seiner Tätigkeit an der Frankfurter Oper von 1977 bis 1987. Dort demonstrierte Gielen mit Ruth Berghaus, Luigi Nono, Hans Zender, Heinz Holliger und anderen exemplarisches Musiktheater. Spektakuläre Wagner-Inszenierungen (Parsifal und Ring) von Ruth Berghaus und Axel Manthey komplettierten das provokante Angebot.
Seine Philosophie des Dirigierens hat Gielen einmal so benannt: "Ich versuche, das, was ich in der Partitur sehe, mit einem modernen Instrumentarium zu realisieren. Was heißt das: "Authentisch"? Eine Interpretation beruht auf dem, was im Text steht. Aber gefiltert durch ein menschliches Gehirn für Menschen von jetzt. Es muss die Problematik, die in einem Stück dargestellt ist, die Bedürfnisse der Menschen von jetzt treffen. Die Musik sollte so dargestellt werden, dass sie mit der fundamentalen Angst der Menschen etwas zu tun hat. Sie darf nicht so tun, als ob es die Problematik nicht gäbe."
Meisterhaft ist seine Programmgestaltung. Gielen ist der beste Programmierer der Welt. Sein Programm-Ideal: "Ein Stück in die Nähe eines anderen zu rücken, damit das erste sein Licht auf das zweite wirft und umgekehrt, und beide Werke wie neu erscheinen."
Nach der Devise gelangen ihm famose Konstellationen. Genannt seien Wagners germanisch-mythologische Endzeitmusik, die auf Nonos extrem fabulierte Hoffnungen und Utopien trifft. Oder wenn nach der Wende plötzlich der alte Schostakowitsch überhaupt erstmals auftaucht; sowjetische Musik, die Gielen zuvor nie dirigiert, um nicht zu sagen gemieden hat, diese nun aber vorsätzlich einführt, obendrein mit der Sinfonie Das Jahr 1917.
Kaum ein Dirigent, der heute lebt, ist so politisiert wie Michael Gielen: "Im Verlauf der Regression des Weltgeistes hat nicht nur der Sozialismus den Geist aufgegeben (zumindest der real existierende), sondern wir wohnen einem Prozess bei, in dem alle Errungenschaften der Zivilisation und der Humanität über Bord geworfen werden in einem Krieg aller gegen alle, wie bei Hobbes. Der Mensch des Menschen Wolf, das kommt heraus nach zweitausend Jahren Christentum. Es hat viel mehr versagt als der Sozialismus. Demokratische Regierungen sind Spielbälle im Sog der Märkte. Christentum oder Aufklärung, es ist dieselbe Illusion."
1996, befragt auf künstlerische Pläne im Konzerthaus Berlin, dessen erster Gastdirigent er heute ist, antwortete Gielen: "Nachdem der Osten Deutschlands vom Westen schlichtweg kassiert, um nicht zu sagen annektiert wurde, war es mein Impuls, hier im und für den Osten Akzente zu setzen. Und so trage ich jetzt meinen Koffer nach Berlin."
Am 25. April wurde im Konzerthaus Berlin Michael Gielens Klavierstück in sieben Sätzen recycling der glocken uraufgeführt (Solist: Stefan Litwin), am 22. 6. dirigiert Gielen Lulu in der Staatsoper Berlin.
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