War John Cage ein Avantgardist, einer, der alle bisherige Musik umwerfen wollte, um die Molotows seiner Musik rauszulassen? Oder war er bloß ein genialer Bastler, geschichtslos von Kopf bis Zeh, ahnungslos, was die "wahre Musik" ausmacht? War er bereits Gefangener im Käfig der späteren Postmoderne, als er anfing, Klänge über kontrollierte Zufallsmethoden zu fabrizieren, um diese auf der Zeitachse so radikal zu setzen und genauso still zu stellen wie isoliert laufen zu lassen, dass Musik wie aus einem Toll- und Totenhaus erklang? Steht sein Name mit für das berühmt-berüchtigte "Anything goes"? Stieß der Experimentelle das Tor weit auf oder bloß die Türen der Torheit?
Konservative Geister, auf den klassischen Status quo getrimmt, sehen alptraumartig den Zerstörer, wenn sie nur den Namen Cage hören. Nicht viel anders die Gegenseite, die hyperkritischen Modernen. Sie sprechen von Cage als einem "radikalen Gar-Nichts" und fragen nicht näher nach. Am schlimmsten sind die, die es mit Cage besonders gut meinen, sie haben diesen Mann inzwischen aufgefressen. Cage ist in dem Kontext restlos zur Kultfigur geworden, und je höher der Sockel wird, auf den man ihn stellt, desto mehr rückt die Problematik des Cage-Werkes in die Ferne.
Unterdes strömt Cages Welt wie eine Religion durch den Wasserkopf von Festivals, Radioprogrammen, Konzert- und Theaterpodien. Ohne Unterlass wird der Amerikaner, der 1990 auf dem Berliner Kollwitzplatz zu Besuch war und das Gezwitscher deutscher Spatzen und das Husten ostdeutscher Trabant-Motoren als authentische Musik erleben durfte, durch Räume und Studios gehetzt wie eine heilige Kuh, die noch gemolken wird, obwohl das Euter leer ist. Dabei war John ganz ungöttlich. Wirklich, er war nach den Berichten mancher Zeitzeugen ein ganz schlichter, sympathischer Bürger, der die Natur ebenso sehr liebte wie die moderne Musik, die moderne Malerei, den modernen Tanz, die moderne Architektur. Wie seine Freunde Feldman, Rauschenberg, Rothko, Duchamp schaute er lediglich die vorfindbare Kunst anders an und zog daraus Konsequenzen. Er erlaubte sich zum Beispiel, zu sagen, dass Beethovensinfonien im Prinzip nicht anders klängen als Kuhglockengebimmel, was verständlicherweise einen Skandal auslöste.
Konservative Geister, auf den klassischen Status quo getrimmt, sehen alptraumartig den Zerstörer, wenn sie nur den Namen Cage hören. Nicht viel anders die Gegenseite, die hyperkritischen Modernen
Zwar hatte Cage bei keinem geringeren als Schönberg zwei Jahre lang Komposition studiert, aber in den Bann des Meisters kam er nicht. Seine kühnste Tat ist der Versuch, den Klang von der Harmonie zu emanzipieren und damit zugleich die Zeitdimension aus tradierter Einbindung zu befreien. Und je mehr das gelang, je mehr kam ein ganzes Gebäude zum Einsturz - allerdings sein Gebäude. Die mächtigen Säulen der sonstigen Gebäude, der Systeme aus Oper, Konzert, Medien, blieben davon unberührt. Seine Jünger aber hängen dem Glauben an, dass Cage, indem er versuchte, der Harmonie zu entwischen, das gesamte europäische Harmoniegebäude komplett zur Explosion gebracht hätte. Und das ist falsch. Die Vergottung des Meisters hat die Cage-Gilde blind gemacht. Unfähig, zu sehen, wo die Kunst des Amerikaners geschichtlich steht, macht sie in der Regel dort Reichtum aus, wo keiner ist.
John Cage kam 1912 als Sohn eines elektrotechnischen Erfinders in die amerikanische Welt, und er wurde selbst Erfinder. Vorahnungen der elektronischen Musik formuliert das 1937 verfasste Cage-Manifest The Future of Music: Credo. Der Autor verlangt darin, wie vor ihm schon die Deutschen Kurt Weill und Guido Bagier, dass Musikern oder Klangorganisatoren, wie er sie nennt, Laboratorien zugänglich sein sollten, offen für die Schaffung von Klängen "jeglicher Frequenz, Amplitude und Dauer". "Der Komponist", schreibt der junge Cage, "wird nicht allein dem gesamten Klangfeld, sondern desgleichen dem gesamten Zeitfeld gegenüberstehen."
Fortan interessiert den Komponisten das Chaos der Gleichzeitigkeit rumorender wie stummer Medien. 1955 entsteht Speech für 5 Radios mit Zeitungsleser, 1956 die Radio Music für 1-8 Radio-Spieler. Die Telefonkommunikation verbindet der Komponist 1977 mit Vogelstimmen in Telephones and Birds. 33 1/2 heißt ein Stück für 12 Plattenspieler, das 1969 entsteht. Wie dergleichen Stücke im einzelnen auch klangen, Cage verwirklicht Dinge, die erst viel später ins Gesichtsfeld von Kunst gerieten. Die rigide Ausweitung dessen, was er unter Klang und Klangkunst verstand, ist heute Allgemeingut. Niemand ficht das mehr an.
Gleichwohl gibt es diverse Problempunkte. Cage zieht zwar den Menschen in Betracht, der die Töne hervorbringt - ohne diesen keine Musik, auch keine Computermusik -, und auf diesen hin komponiert er auch, aber die sonstige Bandbreite menschlicher Äußerungen kommt im Prinzip nicht vor. Inhalte der Musik sind ausgeschlossen. Die Produktion von Ausdruck geschieht allenfalls versehentlich (ästhetischer Kollateralschaden). Was einzig gilt, ist das Ereignis des Klangs.
Mit anderen Worten: Cage entwischt nicht nur der Harmonie, er sucht auch allem zu entwischen, was mit menschlicher Individualität zu tun hat. Die Folgen solcher Ich-Ausgliederung waren erheblich. Menschliche Konfliktlagen beschreibt das Cage-Werk erkennbar in keinem Punkt. Das unfreie, verängstigte, leidende Individuum kommt darin nicht vor. Ein verbildlichtes Opponieren oder Widerstreben gegen herrschende Mächte und Zustände sucht man vergeblich.
Andererseits: Auch wenn Cage Absichtslosigkeit vorgab, so ganz absichtslos war das nicht, womit er hantierte. Die Zufallsoperationen, die er entwickelt hat, sind solche, die Klänge kontrolliert in Freiheit setzen. Kontrolle ist Absicht.
Hinzu kommt: Zufallskomposition impliziert keineswegs, dass die beteiligten Spieler beliebig agieren können. Cages Concert for piano and orchestra (1957) etwa gibt einige Dutzend austauschbare Spielskizzen vor und überlässt ansonsten die Initiative den Spielern. Das war seinerzeit ein befreiendes Ereignis, und es bedurfte eines eminenten Könnens und wachen Bewusstseins, die grafisch notierte Vorgabe in vitale Musik zu verwandeln. Das Piano-Concert war übrigens das erste Cage-Werk, das (von der Gruppe Neue Musik "Hanns Eisler") in der DDR Anfang der achtziger Jahre öffentlich aufgeführt wurde.
Hohe Konzentration und Erfindungsgabe erfordert nicht minder die Wiedergabe von John Cages fast einstündigen Sixteen Dances for Soloist und Company of Three (1950/51) für Kammerensemble. Cage, glühender Verehrer von Erik Satie, schuf hier, ganz im Gegensatz zur Satieschen Parodistik, Tänze, die ganz unfröhlich daherkommen, wie Musik unter kaltem Mondlicht, fahlstimmig, dissonanzenreich, im "Ausdruck" tief betreten. Solch traurige, feinsinnige, mit überraschenden Gesten und Kadenzen operierende Musik ist eher selten bei Cage. Völlig spurenlos geht es nicht ab. Wer wie Cage das Reservoire menschlicher Möglichkeiten hoch einschätzt, kann der den Menschen aus der Kunst ganz rauslassen? Cage, wie sehr er seine Musik auch abzudichten suchte gegen das Expressive, drückt in Klängen gleichwohl Menschliches aus, allerdings abstrakt und - anders, als der europäische Musikverstand es sich vorstellen könnte. Außerdem spielt Cage absichtsvoll mit Modellen, die in jedem Spielenden wie Hörenden stecken und zu einer humanen Qualität führen, und seien sie noch so simpel. Vielleicht in dem Sinne und nur in diesem ist Cage ein Aufklärer.
Um die Gestehungskosten zu verstehen, die der Klangkünstler objektiv zu entrichten hatte, sind die Strukturen einer der neuen Musik vielfach feindlichen Umwelt in den USA mitzubedenken. Die steigende Gewalt einer expandierenden Musikindustrie, die nichts und niemand schont, die, wenn angesagt, auch an der Beseitigung der Cage-Welt arbeitet, dürfte nicht unerhebliche Folgen für das Profil seiner Kompositionswelt gehabt haben. Nicht zu reden von den Schrecken, als Cage jung war und während der Jahre der Weltwirtschaftskrise sich in den verschiedensten Tätigkeiten verdingen musste und sogar eine Zeit lang obdachlos war. Solche Erfahrung hat ihn nicht davon abgehalten, die Absichtslosigkeit seiner Kunst immerfort aufs ästhetische Schild zu heben.
Im Punkt Aufklärung darf man freilich nicht zuviel erwarten. John Cage war in allem, was er tat und dachte, ein Liberaler und wie die meisten seinesgleichen stolzer Amerikaner, gepaart mit dem Entdeckerstolz aus dem Erbgut seines Vaters. Revolutionäre Ideen, hergeleitet aus dem Verständnis einer radikal zu verbessernden Welt, blieben ihm fremd.
Eine Wahrheit bei Cage ist, dass er den Konflikt zwischen Neuer Musik und Publikum fröhlich geschürt hat. Für ihn und seinesgleichen gehörte Un-Sinn, Gegen-Sinn dazu
Alle entdeckerischen Ansätze laufen bei Cage auf pragmatische Ansätze hinaus, wiewohl sie, speziell im klanglichen Bereich, ab einer bestimmten Periode genährt sind durch die Formeln der Kontemplation des Zen-Buddhismus. Wenn Cage ein Weltbild zuzuschreiben ist, dann das transzendentale, nonkonformistische eines Henry David Thoreau. Cage hat Thoreau 1967 entdeckt, und seither ist er Thoreauist gewesen, der die Ganzheit der Natur, namentlich die klangliche, achtet und in seine künstlerischen Überlegungen einbezieht.
Nicht minder belangvoll ist: Für Cage war der Dialog wichtiger als die Kommunikation. Ein aufklärerischer Dialog, wie er ihn versteht, läuft nicht darauf hinaus, den anderen auszustechen, Kriege zu entfesseln, Beethoven samt der "Neunten" umzubringen. Cage denkt, dass die Klänge ebenso wie die Menschen gleich geschaffen sind, fähig, friedlich miteinander zu koexistieren, gleichwohl jeder Klang, jeder Mensch anders ist.
Fraglos hat der Komponist auch viel Unsinn - welch hässliches Wort für die Cage-Ideologen - fabriziert. Speziellen Unsinn, der Paradoxien vorführt und die Leute narrt. Eine Wahrheit bei Cage ist, dass er den Konflikt zwischen Neuer Musik und Publikum fröhlich geschürt hat. Für ihn und seinesgleichen gehörte Un-Sinn, Gegen-Sinn dazu. Die Aufführung des dreisätzigen Stücks aus Stille 4´ 33´´, das Cage erstmals 1952, als der Koreakrieg laut tobte, durch den nicht-spielenden Pianisten David Tudor in Amerika tonlos zu Gehör brachte, muss offenbar unter Abwesenheit von Kindern stattgefunden haben. Denn eines hätte bestimmt gerufen, aber der Kaiser ist ja nackt. (Und Cage hätte darüber gewiss gelacht.)
Stille ist für Cage, anders als bei den meisten seiner Kollegen, konstitutives Strukturierungsmittel, weshalb Stille, besser: klingendes Nichts in Stücken nicht selten an die Stelle von Struktur tritt und den Klangprozess unendlich dehnt. Tatsächlich wirken viele Cage-Stücke strukturell dürftig, eine Leere macht sich darin breit, genährt durch einen hypertrophen Zeitbegriff, den Cage aus Vorgaben des erwähnten Zen-Buddhismus hergeleitet und in die Komposition eingeführt hat. Komisch: Je mehr Nichts der Komponist in die Waagschale warf, desto zufälliger und verstiegener wurde darüber in ungenießbaren Aufsätzen philosophiert.
Nur gut zu wissen, dass John ein Mensch wie einer von um die Ecke war. Er rauchte gern, spielte mit Vorliebe Schach, sammelte Pilze und kochte meisterlich. Nicht zu vergessen, der Mann konnte - nach den Bildern zu urteilen - so herzlich wie hintergründig lachen.
Die Fundamente jener kampf- und konkurrenzdurchtobten Verhältnisse, in denen er lebte, hat Cage zwar nicht entfernt durchschaut, er konnte das sowenig, sowenig er auch die totalitäre Kapital- und Marktlogik undurchschaute. Aber politisch schläfrig war er darum nicht. Die Zumutungen halbfaschistischer Zustände führten ihn bisweilen zu bitter-bösen Einsichten. In sein Tagebuch schreibt Cage 1969: "Ich fragte Xenakis, was eigentlich faul sei an den USA. Er schwieg einen Moment, dann sagte er: Zu viel Macht. - Steckt diejenigen, die Besitz und Macht gefährden, mit denen zusammen, die den Anstand in bezug auf Sex und Rauschgift verletzen. Steckt die Schwachköpfe in Irrenhäuser. Fahrt mit den Alten ab in Seniorenwohnsiedlungen und Pflegeheime. Unsere Kinder? Sperrt sie ein, nehmt Babysitter als Wärter. Die Schule? Gut genug für fünfzehn bis zwanzig Jahre. Dann zum Militär. Trotz aller unserer Freiheiten leben wir wie Gefangene."
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