Ist doch nicht so schlamm

Theater In der neuen Inszenierung "Fahrräder könnten eine Rolle spielen" am Berliner Ballhaus Naunynstraße geht es dreckig zu

Auf dem Plakat zum Stück rennt der knochige „Held“, Gewehr auf dem Rücken, halbnackt über Bündel von Presseerzeugnissen, Pistole im Anschlag. Auf der wirklichen Bühne ist der ganze Boden indes aus Schlamm. Eine Schreddermaschine, die in der Ecke steht. Und: ein Tisch, vier Stühle, vier Mikros drauf, dahinter der Untersuchungsausschuss. Darüber die Projektionsfläche (Video: Sönke Hansen) mit Stadtkonturen, fahrenden S-Bahnen.

Lukas Langhoff hat am Berliner Ballhaus Naunynstraße das Stück Fahrräder könnten eine Rolle spielen von Marianna Salzmann und Deniz Utlu inszeniert. Es handelt vom Desaster, das die Ermittlung der NSU-Morde ist, am Beispiel des Untersuchungsausschusses. Eine schlagende Meinungsäußerung, jedem Zeitungsbericht über die verrottete Mitte der Gesellschaft, die Machenschaften der Verschleierung von rassistischen Morden überlegen. Mit hochmotivierten Schauspielern.

Menschlichkeit kennen sie nicht

Die Klammer der Dialoge ist Fremdenhass. Wie er die Herzen hinter gebügelten Anzügen zerfrisst (oder schon zerfressen hat) und in den Brüsten junger Mädchen haust. Sex und Hakenkreuzlertum, der Schwule und Hitlersymbolik reichen einander die Hand. Kotzspießertum paart sich mit Deutschfanatismus.

Der fünfte Spieler agiert exterritorial. Der geht auch mal. Hin, her. Jedenfalls mehr als die anderen, sofern sie ihre Stühle verlassen. Wohin? Andreas Pohl heißt er (Simon Brusis) und braucht Geld. Er serviert Suppe im Ausschuss und mischt sich dazwischen. Aber das Vierer-Tribunal nimmt ihn in die Zange. Armer Hund. Verdingt sich ganz unten, verkauft Eis in Stadien. Dem impft das Autorenpaar die unglaublichsten Talente ein. Pohl kann sich alles merken und spricht im Zweifel auch darüber, was er sich gemerkt hat, und fällt geradewegs darauf rein. Denn Fakten, die will niemand hören in der rüden Runde.

Alsbald gerät Pohl in die gefährlichsten Lagen und wird anfällig für die menschenfeindlichsten Dinge. Genial dieser Kunstgriff, geeignet, Situationen zuzuspitzen und die wahren Ansichten und Absichten der zerstrittenen Viererbande, das, was hinter dem Keifen und Brüllen steckt, kenntlich zu machen. Pohl ist Träumer und Anpasser in einem, die Inszenierung spricht das klar aus. Alle Darsteller schlüpfen in verschiedene Rollen, mal sind sie Ankläger, mal Beklagte. Einig sind sie in ihrer Wut auf die Übel, die den Deutschen zustoßen. Menschlichkeit – die kennt diese Bagage nicht. Jene dicke Alte (Sema Poyraz), die an Pohls Jacke will, ist die Schlimmste.

Alles komplett besudelt

Die Figur des Andreas Pohl birgt in sich eine ganze Charakterologie. Pohl flucht immer mal wieder, rappt, spricht auch mal ein Gedicht. Und der Imker, als der er sich outet, erzählt andächtig, die Decke des Ballhauses anhimmelnd, die Weise von dem Bienenvölkchen mit der Königin, die sich um Millionen Eier sorgt und der die Population darum zu Füßen liegt.

Ein jeder watet am Ende im braunen Schlamm der Bühne. Über alle Schweinerei, alles Verbrechertum, eingeschlossen die chaplinesken Feigheitsausbrüche des Mannes, der meint, im Namen der Aufklärung rassistischer Morde, die einschlägigen Ämter aufmischen zu müssen (Sebastian Brandes), darf hohngelacht werden. Linkisch verlassen die Schauspieler die Spielfläche, irgendeine Plattheit von sich gebend.

Nun in den Alltag entlassen: Entsetzlich blöd seien wir, wir zeigen nur diesen Dreck, wirft Janin Stenzel sich selbst und der Crew zuguterletzt vor, würden aber nie auf eine Demo gehen.

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