Kaltenbrunner liebte Bach

EIN DEUTSCHES LEBEN? Zum ersten Todestag von Klaus Gysi am 6. März

Klaus Gysi, geboren am 3. März 1912 in Berlin, war als Kommunist von 1940 bis 1945 im antifaschistischen Widerstand, er war Mitbegründer des Kulturbundes der DDR und des Aufbau-Verlags und in den Jahren 1966-1973 Minister für Kultur der DDR. Seines ersten Todestages wird am kommenden Sonntag in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gedacht. Wir veröffentlichen aus diesem Anlass erstmals Teile einer am 30. Dezember 1988 auf Radio DDR II gesendeten Diskussion zum Thema »Warum Kunst nach Auschwitz?« Klaus Gysi und Heiner Müller waren darin die tragenden Figuren. Zu der (für DDR-Verhältnisse) »sehr offenen Debatte«, wie die Jüdische Wochenzeitung im Januar 1989 schrieb, hatte Stefan Amzoll, damals Leiter der E-Musik von Radio DDR II und Moderator der Sendung, eingeladen. Er hat die wichtigsten Auszüge daraus dokumentiert.

KLAUS GYSI: Wir haben ja bei uns zur Pogromnacht 1938 immer Gedenkfeiern gehabt, von Anfang an. Das hat die Jüdische Gemeinde gemacht, und der Staat hat sie unterstützt dabei. Das war klar: Zum Antifaschismus gehört die Solidarität mit allen Opfern. Aber das Besondere ist doch jetzt, dass da eine alte Generation rein biologisch schrumpft, die das alles miterlebt hat, die das alles einschätzen konnte und der vieles selbstverständlich war.

HEINER MÜLLER: Meine Kindheit ist geprägt vom Faschismus und dadurch meine ganze Biographie. Ich kann's mir nur nicht so einfach machen. Ich glaube, man muss da ein bisschen aufpassen. Es gibt ja - oder es gab auch - einen nichtfaschistischen Antisemitismus. Man kann das nicht einfach gleichsetzen, auf keinen Fall. Was den Adorno betrifft, der Satz, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben kann, ist einerseits zu optimistisch. Weil, es gibt natürlich auch nach Auschwitz noch ausreichend mehr Kitsch als Kunst. Kitsch auch insofern, als er geschrieben wird, als ob es Auschwitz nicht gegeben hätte. Es gibt nach Auschwitz auch mehr Verdrängung als Analyse. Das wäre der Optimismus von Adorno. Und der Satz ist zu pessimistisch, da Kunst ja immer auch auf eine mögliche bessere Welt aus ist, oder gewesen ist, als auf die Abbildung der wirklichen.

Es gibt eine sehr makabre Geschichte, die auf einen Aspekt des Problems verweist: Es gab einen UNESCO-Versuch, in Zentralafrika Eingeborenen Filme zu zeigen, die noch nie ein Foto gesehen haben, geschweige einen Film. Man hat zwei Arten von Filmen herausgesucht, einmal Kurzfilme mit Charly Chaplin, zum anderen Dokumentarfilme über Auschwitz und Buchenwald. Die Eingeborenen lachten überhaupt nicht über Chaplin, das erreichte sie nicht, sie haben offenbar einen anderen Humor, jedenfalls hatte das keine Wirkung. Und sie lachten ungeheuer über die Dokumentarfilme. Das löste ein großes Erschrecken aus bei den humanistisch gebildeten UNESCO-Leuten. Und auf Befragen sagten sie dann, sie hätten nie gewusst, dass Weiße so gut sein können. Das ist eine schreckliche Geschichte. Aber sie verweist eben darauf, dass Auschwitz auch ein Phänomen des Kolonialismus ist. Es ist auch die schrecklichste Geschichte in der Geschichte des Kolonialismus, von den Voraussetzungen her.

KLAUS GYSI: Antisemitismus ist eine über Jahrtausende immer wieder neu geübte Herrschaftsmethode, die natürlich anknüpfte an bestimmte Vorurteile. Das Wort »anders« spielt da eine große Rolle. Da es sie noch gibt, muss man sich mit ihr auch tiefergehend auseinandersetzen. Eigentlich hat das am besten Thomas Mann getan, im Doktor Faustus. Wie kann ein Intellektueller auf den Stand der Barbarei gelangen? Das fängt an mit der deutschen Innerlichkeit, mit dem Mystizismus und geht weiter mit lauter Geistesströmungen, die das vorbereiteten. Und die Aktualität zeigt sich jetzt in dem, was die Neomystiker versuchen. Natürlich ist es uns Kommunisten ein bisschen leichter gefallen als vielen anderen, diese Zusammenhänge zu verstehen. Und wenn wir Nicht-Marxisten wären, dann hätte uns das schon die Tatsache gelehrt, dass ja Bolschewisten, Juden und Kommunisten immer zusammen attackiert wurden.

Die Auseinandersetzung damit - oder, sagen wir, die Popularisierung des jüdischen Beitrags zur deutschen Geschichte ist dabei natürlich völlig entfernt von dem etwas Exotischen, das viele nun plötzlich an den ostjüdischen Sitten, Gewohnheiten, Gebräuchen reizt. Die deutschen Juden zeichneten sich durch den höchsten Grad der Assimilierung aus. Wer kann sich Albert Einstein, Paul Ehrlich, Max Liebermann im Kaftan vorstellen? Das war natürlich deutsch. Und wie deutsch sie waren, zeigt sich ja darin, dass sie's nicht glauben konnten und blieben, weil sie's einfach nicht für möglich hielten.

HEINER MÜLLER: Es gibt doch überhaupt keine Garantie, dass sich so etwas wie Antisemitismus und Faschismus nicht wiederholt. Das ist doch ganz klar. Und man muss auch aufpassen: bei uns ist Antifaschismus sehr lange auch als Alibi gehandelt worden für Dinge, die man nicht erklären oder analysieren zu müssen glaubte, weil man sagen konnte, wir müssen das aus antifaschistischen Gründen machen. Das war auch oft - da muss man wieder aufpassen - ein Etikett, um Diskussionen zu verhindern oder auch Analyse einzuschränken.

KLAUS GYSI: Ja. Aber gleichzeitig war es natürlich so, dass der Begriff Antifaschismus für jene Generation und Anschlussgeneration, die den Faschismus erlebt hatten, völlig klar war. Mit anderen Worten: die Frage der Erläuterung war da weithin überflüssig. Sie stellt sich eigentlich jetzt erst in der Form, wo es sich um Generationen handelt, die sich unter Faschismus nichts mehr vorstellen können. Und dann erhebt sich natürlich die Frage, was ist der Antifaschismus? Aber der Antifaschismus, so wie wir ihn sehen, ist doch nun wirklich keine Ausrede, ja eigentlich ganz im Gegenteil. Wenn wir sagen, gut, wir haben Antisemitismus in der DDR, aber dessen sozialökonomische Wurzeln sind beseitigt, dann ist das einfach richtig, würde ich sagen.

HEINER MÜLLER: Ich würd's noch ein bisschen differenzieren vielleicht. Was nicht vorbei ist, sind faschistische oder faschistoide Verhaltensweisen. Mit den Verhältnissen ist das ja nicht automatisch abgeschafft.

KLAUS GYSI: Nein, das kann man nicht sagen. Die Frage ist nur, woran man dabei denkt. Also gut, wir haben diese Erscheinungen bei einigen Jugendgruppen...

HEINER MÜLLER: ...die gibt's auch in Büros.

KLAUS GYSI: Na ja, sicher. Es wird immer ein menschlicher Rest bleiben, der zu einer bestimmten Gefährdung führt. Das ist nicht zu leugnen. Aber ich wollte folgendes sagen: Der alte Helmut Aris (ab 1962 Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, S. A.) pflegte zu sagen, den Antisemitismus gibt es nicht, der ist bei uns strafbar und die Regierung bekämpft ihn, wie gesagt, und die Bevölkerung wünscht ihn nicht, aber natürlich gibt es noch Antisemiten. Das ist doch ganz klar. Wohin sollen die verschwunden sein? Dass es immer Reste in der Gesellschaft gibt, die virulent werden können, das ist das eine. Aber genau deshalb fanden ja gewisse Feierlichkeiten zur Pogromnacht statt. Denn: Wie soll man sich damit auseinandersetzen, wenn nicht bei solch einer Gelegenheit. Also, ich würde sagen, das sollte man doch in dem Zusammenhang sehen. Ich meine, da sowieso Juden und Kommunisten in einem Satz genannt wurden von den Nazis, und nicht nur hier, sondern dass das überhaupt so war, deshalb liegt uns das außerordentlich am Herzen. Der alte Arnold Zweig hat mal gesagt: Die Emanzipation der Juden ist dann erreicht, wenn die Menschen der Gesellschaft völlig emanzipiert sind. Das heißt, er hat da ein Zeichen gesetzt.

HEINER MÜLLER: Eine der schrecklichsten Geschichten, die mir einfällt, ist die Frankfurter Geschichte mit dem Fassbinder-Stück Der Müll, die Stadt und der Tod. Juden, die Auschwitz überlebt haben, waren dann im Frankfurter Untergrund, also wieder ghettoisiert eigentlich, sie hatten keine andere Möglichkeit nach dem Krieg. Und dann sind sie reich geworden durch Spekulation, und sicher nicht frei von kriminellen Aspekten. Aber das ist die Fortsetzung der Ghettoisierung. Und dann wird das ein Problem. Darüber würde ich gern weiter diskutieren.

KLAUS GYSI: Das heißt, schon mit der Frage, mit der sozusagen selbstverständliche Dinge dann projiziert werden auf den jüdischen Hintergrund, auf die Juden, hängt der Antisemitismus zusammen. Ist doch wohl vollkommen klar. Deshalb war ja in meiner Jugend die Frage so furchtbar einfach zu beantworten. In der Kommunistischen Partei war das nie Diskussionsgegenstand. Es waren außerordentlich viele Juden dabei, aber mit einer absoluten Selbstverständlichkeit. Wir hätten doch nie einem Berliner Arbeiter erklären brauchen: der ist besser, und der ist schlechter. Das war doch alles selbstverständlich. Aber natürlich bedeutete die faschistische Periode einen tiefen Schock. Wissen Sie, die Frage, ob man Schock braucht, um etwas zu verwinden, ist so zu beantworten: Es wird nie möglich sein zu vermeiden, dass einige nicht schockiert sind, sonst wäre ja gar nichts Neues dabei. Das ist kein künstlerisches Mittel, sondern es ist schon etwas, was sich ergibt im Zuge der Entwicklung.

HEINER MÜLLER: So einfach ist das nicht mit der besseren Welt. Ich meine, dass Kunst überhaupt nur eine Funktion hat für die Gesellschaft, wenn sie nicht nur abbildet, was ist, sondern auch auf etwas anderes verweist, was sein könnte. Und das heißt aber nun gar nicht, dass sie besonders gutartig oder im Falle von Musik schön klingen muss. Damit wir uns da nicht missverstehen. Es gibt einen anderen Satz, den ich auch gern unterstreiche, von Gottfried Benn: Das Gegenteil von Kunst ist »gut gemeint«. Kaltenbrunner war ein großer Orgelspieler, und er liebte Bach und alles, was schön und groß ist auf dem Gebiet. Das hat ihn überhaupt nicht gehindert, all diese Verbrechen zu organisieren.

KLAUS GYSI: Natürlich hat ihn das nicht gehindert, und natürlich gab es im Ersten Weltkrieg den Soldaten mit Rilke im Tornister oder mit dem Faust. Das war immer so. Das heißt, Kunst ist natürlich missbrauchbar. Das ist vollkommen klar. Aber dass Musik zur Erziehung der Gefühle beitragen kann, das steht doch zweifelsfrei fest. Dass bei solchen Leuten wie Heydrich oder Kaltenbrunner das in dieser Weise missbraucht wurde? Gut, Kunst kann nicht jeden erziehen, aber sie kann natürlich zur Erziehung der Gefühle und inneren Einstellungen - ich spreche jetzt ausschließlich von der Musik, die den geringsten direkten Informationscharakter von allen Künsten hat - viel beitragen.

HEINER MÜLLER: Was Kunst auf jeden Fall kann, ist stören. Und das sollte sie auch, sie sollte den Konsens stören, der die Wunde immer wieder schließt, bevor sie vernarbt, bevor man überhaupt gehandelt hat. Und mir fällt noch etwas anderes ein, das ich ein bisschen gegen Dich sagen wollte. Das ist aber 'ne andere Diskussion. Für mich ist eine Aufgabe von Kunst vielleicht auch, die Begriffe Humanismus, Humanität nicht mehr einfach als gegeben zu nehmen. Also nach Auschwitz kann man das nicht mehr als gegeben nehmen; ich kann das nicht mehr verwenden, ohne es in den Kontext zu stellen und zu fragen, was heißt das heute. Das heißt heute was anderes als vorher. Das wäre so ein Punkt.

KLAUS GYSI: Wieso gegen mich sagen? Ich hab doch keine andere Meinung.

HEINER MÜLLER: Nein, nein. Nur weil Du die Begriffe im Moment noch etwas zu geläufig eingesetzt hast. Und damit hab ich ein Problem. Wenn man zum Beispiel auf eine der ältesten Definitionen zurückgeht, was der Mensch ist, die von Aristoteles: das politische Tier - wobei damals schon klar war, die Sklaven waren nur Tiere, denen fehlte das Adjektiv, das war schon mal die Voraussetzung -, dann hat heute das politische Tier einen anderen Charakter. Da hängt eine Industrie dran, und Auschwitz ist ja ein Industrieprodukt auch, und das ist ein Aspekt, den man nicht vergessen darf.

Ich würde darauf bestehen, dass die Kunst überflüssig ist, das muss sie auch bleiben. Brecht hat es schon mal ähnlich formuliert. Der Überfluss ist notwendig, damit das Leben attraktiv wird, der Überfluss, der Luxus macht das Leben attraktiv. Und das ist, würde ich sagen, die Hauptfunktion von Kunst, das Leben attraktiv zu machen.

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