Im Jahre 1979 kam der Autor Hans Bunge gedrückt zu mir in die Redaktion von Radio DDR II, wo ich als Musikredakteur arbeitete, und erzählte, Ernst Busch sei schwer krank, er würde nicht mehr lange leben, man sollte möglichst schon jetzt eine In-Memoriam-Sendung machen. Er habe da ein Live-Material mit Busch als Sänger, am Klavier begleitet von Grigori Schneerson und Hanns Eisler, einen Solo-Abend, der zum Schönsten gehöre, was Busch im Nachkrieg gezeigt habe. Der Eindruck war überwältigend. Busch feiert seinen 60. Geburtstag singend in der Akademie der Künste vor einem erlauchten Hörerkreis, der sich dort immer versammelte, wenn sogenannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ihren Auftritt hatten. Kurzum: Die Sendung wurde vereinbart und produziert. Titel "Der Barrikadentauber - Sätze, Ernst Busch betreffend". Bunge montierte die Dokumente mit vielerlei Äußerungen über den Künstler und von ihm, es sprachen Jutta Wachowiak, Dieter Franke und Kurt Böwe. Die Sendung lag zwar rasch fertig vor, aber Busch lebte glücklicherweise noch, so dass die Ursendung schon am 8. November 1979, zum Jubiläum der gescheiterten deutschen Revolution, erfolgte.
Es war der erste öffentliche Auftritt Buschs nach langen Jahren des Schweigens als Sänger, keineswegs als Schauspieler. Eine Merkwürdigkeit, so merkwürdig wie das "Gerücht", dass im Nachkrieg alle Welt mit Busch und er mit der Welt in Streit gelegen habe, Radio und Platte ihn gemieden, ja sogar verboten gehabt haben sollen. Auch mit der Partei habe er schlimmen Ärger gehabt, weswegen Busch sich jedes weitere Singen in der Öffentlichkeit selbst verboten haben soll. Im Faktischen ist das wohl alles hinreichend belegbar und nachprüfbar, es trifft aber augenscheinlich nicht den Kern des Problems.
Hanns Eisler schrieb 1958, zwei Jahre zuvor, an den Freund: "Vielleicht vergessen wir jetzt mal die schlechte Laune und den Ärger und arbeiten wieder zusammen, was dringend notwendig wäre, denn die Zeiten sind kompliziert und man braucht uns. Jedenfalls: Herzliche Wünsche und Grüße zu meinem 60. Geburtstag." Selbst Eisler lag also mit ihm, aus vielerlei zumeist nichtigen Gründen, im Clinch. Wichtig ist die Formulierung: "die Zeiten sind kompliziert, man braucht uns". Hat man die beiden vorher nicht gebraucht? Weswegen glaubten sie, man würde sie jetzt brauchen, und vor allem wofür? Heinar Kipphardt in einem Brief an Busch vom 8. Dezember 1959, wenige Tage vor dem denkwürdigen Auftritt im Akademie-Saal: "... versprich mir, dass Du die verfluchten Bänder bald machst. Deine Lieder werden gebraucht und Du darfst nicht zulassen, dass sie wegen irgendwelcher Scheißkerle, die morgen kein Mensch mehr kennt, nicht produziert werden." Wieder das Reden vom Gebrauchtwerden. Hat die Deutsche Akademie der Künste 1960 Busch ihre Pforten geöffnet, weil sie ihn brauchte? Konrad Wolf hat das Ereignis, und es war ein Ereignis, weil mit ihm etwas neu anfing, zwanzig Jahre später, ohne darauf direkt einzugehen, so beschrieben: "Die Akademie hatte das Glück, einem Mann wie Busch Werk-Stätte zu sein. Bei unseren Veranstaltern war er der verlässlichste Mitarbeiter. Busch haßte folgenloses Reden und leere Repräsentation."
Zum Programm vom 12. Januar 1960 im Saal der Akademie der Künste nur so viel: Busch hatte ein halbes Jahr vorher unter Walter Goehrs und Eislers Leitung einen Großteil der Tucholsky-Lieder, darunter eine Anzahl neu komponierter Stücke, Ende Juni/Anfang Juli 1959 im Rundfunk produziert, und zwar in der von Eisler angebotenen, nicht immer unproblematischen Orchestrierung. Das Material war selbstredend in frischer Erinnerung; der Sänger hatte die Stücke, als er wenig später erstmals wieder öffentlich auftrat, absolut drauf. In der Akademie sang Busch an die zehn Tucholsky-Lieder, darunter einige frühere aus den dreißiger Jahren, die in die Sammlung mit aufgenommen worden sind. An diesem Tag legte er all seine stimmlichen Ressourcen auf die Waage. Der Wiedereinstieg sollte nachhaltig sein. Nicht fehlen durfte die berühmt-berüchtigte "Bürgerliche Wohltätigkeit". Hier wiederholte Busch wohl am auffallendsten den ungebärdigen Tonfall aus der Weimarer Spätzeit, ja verstärkte diesen noch. 1960 mochte das auf empfindsame Gemüter eher befremdlich gewirkt haben. Gleichwohl sind solche kapitalismuskritischen "Brandlieder" heute wieder aktuell, obschon das am Schluss herausgeschriene "Kämpfe" wie aus fremden Sphären klingt.
Im Nachkrieg schien tatsächlich für ihn wie für die Schar derer, die aus dem Exil zurück in den Osten gekommen waren, das größte Problem gewesen zu sein, dass sie zwar bekannt waren im neuen Ordnungsgefüge, aber fremd im eigenen Volk. Die Abstumpfungen in den Hirnen der Deutschen waren so ungeheuerlich wie die Zerstörungen im Land. Zu den tausend Muttermalen der alten Gesellschaft waren tausend neue getreten. Was Busch, Eisler, Brecht und die übrigen ihrer Couleur kunstsprachlich aufwiesen, verdrängte die ausgebrannte "Volksseele", ja stieß sie angewidert zurück. Der neue Adressat musste sich erst bilden, er wollte erobert sein.
Der bürgerliche Kulturbetrieb, wieviel auch zerstört worden war, blieb auch auf ostdeutschem Boden und später in der DDR im Wesentlichen intakt. Versuche durchgreifender Umgestaltungen schlugen entweder fehl oder erschöpften sich in neuen ideologischen Farbanstrichen.
Mit der Zertrümmerung der Arbeiterbewegung zertrümmerte die Nazibarbarei auch die Basis für ein organisches Wirken der Eisler/Busch-Gesänge. Das war der vielleicht empfindlichste Einschnitt, mit dem die Betroffenen nun umgehen mussten. Die Brücken zur Weimarer Zeit waren entweder gesprengt oder weitgehend unbegehbar.
Versuchte Neuansätze wie die Kreierung einer Volksoper durch Eisler scheiterten wesentlich an den Strukturen, die der Betrieb setzte, viel weniger am Widerstand und den Einmischungen von Seiten der Partei-Ideologen und Funktionäre. In anderer Art wurden die Anstrengungen, den Neuen Deutschen Volksliedern eine Massenverbreitung zu sichern, obsolet.
Veranlassungen für einen so grobianischen wie empfindsamen Mann wie Busch, die Fühler einzuziehen und zu schweigen.
1947 schrieb er in einem Brief an Herrn X: "Unser Kampf um Deutschland geht seinen Gang. Keine leichte Sache. Du kennst doch die sturen Böcke. Sie nehmen dem Hitler nur eines krumm, daß er ihren Krieg verloren hat. Alles andere war großartig. Völker ausrotten, Judenverfolgung, alles in Ordnung. Und mit denen mach Du mal Demokratie. Wir kämpfen hier um ein zweites Stalingrad. Wo wir siebzig Kerle brauchen, haben wir nur sieben halbe Portionen."
Buschs Trachten blieb, auf anderer Ebene, von Militanz durchdrungen, nicht nur stimmlich, auch in der Sprache. Die Briefe des Aufrührers lesen sich stellenweise wie Skizzen zu Gefechten, mit Militaria wie Schießen, Sterben, Kämpfen, Ausweg. "Dahlem - geschossen wird nicht mehr - aber die Lieder der Spanienkämpfer kämpfen immer noch. (...) Eigentlich ist es seltsam mit der Kunst, sie stirbt nicht und zeigt immer wieder Auswege", heißt es 1961. Wenn sich Busch zu etwas zählt, dann zu den Soldaten und den Hof- und Straßensängern, den Underdogs. Einmal tituliert er Eisler in Adelsmanier mit "Lieber Hof- und Kammercompositeur" und empfiehlt ihm: "Jetzt schlage ich mich schon 3 Wochen mit der ÂBilligung der Welt herum - wie wärs, wenn du nun Deinerseits mal 3 Stunden für die Freiheit und Democracy aufwendetest?" Pointierte Formulierungen, deren Witz zugleich auf Paradoxa der Lage hinweist. Nicht minder auf die Scheinkämpfe zwischen maßgeblichen Künstlern und gewissen Büros, deren angebliche Allmacht zur dauerhaften Zielscheibe einer ohnmächtig attackierenden Künstlerschaft wurde und umgekehrt. Am heftigsten tobten solche Windmühlengefechte in den frühen fünfziger Jahren. Es bezogen indes Reduzierte, Einpeitscher und Verhinderer Position auf beiden Seiten. Und diese Stellungskriege erstreckten sich nicht anders als die heutigen oft über Jahre. Alfred Kantorowicz notiert am 1. Januar 1952: "Wo immer wir am Silvesterabend waren, zuerst bei Weinerts, dann mit Buschs und Hanns Eislers bei Engels, später noch mit Schnitzlers, Gerhard Eislers, Zuckermanns bei Sterns - überall waren die Amokläufe der Knüppelschwinger aus den Parteisekretariaten Gesprächsstoff."
Busch sang bei dem damaligen Akademie-Treffen auch das bekannte Lied "Der heimliche Aufmarsch", mit etwas modifiziertem Text, freilich ohne Orchesterbegleitung und Arbeiter- und Bauernchor. "Und steigt aus der Asche des letzten Krieges die sozialistische Weltrepublik", lautet der Schluss des letzten Refrains. Es muss heute bedenklich stimmen, wieviel Zustimmung dieser illusorische Glaube damals unter den anwesenden Siegern der Geschichte gefunden hat. - Als Busch an jenem denkwürdigen Tag das "Seifenlied" sang, lud er die Anwesenden listig ein, den Refrain mitzusingen. "Wir schlagen Schaum". Der Schluss dieses alten sozialdemokratischen Wahlkampfliedes erhält dadurch eine überraschende Wendung. Solange die Revolution schlief, waren für Busch alle Schaumschläger, er mit eingeschlossen.
Heinar Kipphardt über Busch 1970: "Als Busch die Spanienlieder endlich gesammelt neu herausgeben konnte, widmete er sie zwei befreundeten Mitkämpfern aus dem spanischen Bürgerkrieg: Maria Osten und Michail Kolzow, die in Stalins Säuberungsmaschinerien umgekommen waren. Er wollte diesen Punkt nicht verschleiern. Er gehört zur Wahrheit über diese Periode. Weil Busch extrem bedürftig ist, sich mit dem Inhalt seiner Lieder zu identifizieren, brauchte er diese Ergänzung. Das erklärt, warum er im Unterschied zu anderen revolutionären Künstlern vom Stalinismus nicht korrumpiert wurde." Der Punkt ist zu ergänzen. Am 10. Dezember 1937 gibt Ernst Busch im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses, wo im August die Angeklagten des Ersten Schauprozesses vor Gericht gestanden hatten, einen Konzertabend mit Liedern von Eisler und Brecht. Busch singt mit dem Chor der Karl-Liebknecht-Schule, die Begrüßungsrede hält Sergej Tretjakow. Grigori Schneerson begleitet ihn am Klavier. - Busch steckte selbst mit einem halben Bein im Sumpf der Schauprozesse. Häufig genug enthalten Briefe aus dieser Zeit die angstvolle Frage, ob er denn in Moskau noch in Gnade sei. Wie Brecht hat er immer wieder nach dem Verbleib Tretjakows, Kolzows, Maria Ostens und anderer gefragt und schlimmste Befürchtungen gehegt.
Margret Boveri hat in ihrem Buch Der Verrat im XX. Jahrhundert mit Blick auf Denkweisen des Kommunismus angemerkt: "Für das anders geartete Denken mußte eine neue Sprache gefunden werden. So viel sich, von unserem Denkschema aus, beurteilen läßt, ist diese Aufgabe bisher mißlungen. Große Ansätze waren zuerst vorhanden: die revolutionären Lieder, die Ernst Busch sang, die Lieder von Hanns Eisler und Paul Dessau, die Werke von Toller, Seghers, Brecht haben es innerhalb des deutschen Sprachraums bewiesen." - Es wäre dumm, nur weil das Projekt gescheitert ist, auch den dazugehörigen Neuansatz der Sprache als gescheitert zu betrachten. Andererseits: Ein Revolutionspathos in den Himmel zu heben, dem der Hintergrund abhanden gekommen ist, würde solchem einzigartigen Neuansatz ebenso wenig gerecht werden. Ich will das an einem Beispiel erläutern.
Heiner Müllers Stück Die Bauern, vor fast 25 Jahren inszeniert an der Berliner Volksbühne, zeigt einen Landarbeiter, den die Kräfte verlassen bei dem Versuch, die Freitreppe zur lichten Zukunft zu erklimmen. Bis hoch da droben soll es gehen, aber die ganze Last der ländlichen Ausbeutung, der unseligen Hinterlassenschaften des Friederizianismus, des Wilhelminismus, der Hindenburg und Hitler verhindert das. Es ist schwer, an dem emanzipatorischen Werk zu arbeiten, das Dasein von dem rostigen Abhub der Vergangenheit zu befreien. Für den Landarbeiter ist die Lage tragisch, "aber gerade in der Tragödie ist der Mensch am erhabensten". (M. Gorki) - Wer den geschichtlichen Konnex solcher Lebensbedingungen zu erfassen sucht, der übersieht nicht, was Menschen, aufrichtige und weniger aufrichtige, auf ihren gebogenen Rücken tatsächlich mit sich herumgeschleppt haben, der verdrängt nicht, wieviel alten Unrat sie davon abzuwerfen wussten und wieviel sie davon wieder aufgebürdet bekommen. Dergleichen zu untersuchen, setzt voraus, die Utopie nicht in den Wind zu schießen, sondern wie Busch ihr nahe zu sein, rivalisierend mit der Welt, um deren Änderbarkeit es schlecht bestellt ist, und sich stets selbst prüfend im Dauerfight gegen den Geist der Zeit.
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