28. Filmfestival Cottbus - Fazit

Osteuropäisches Kino Filme über Familie, Generationen, Vergangenheitsbewältigung und soziale Härte auf dem 28. Film Festival Cottbus

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Die Beiträge auf dem 28. FILM FESTIVAL COTTBUS beschäftigten sich viel mit den Themen Familie, Generationen und nationaler Geschichtsaufarbeitung. Auch der soziale Aspekt kam dabei nicht kurz, was sich in aller Härte auch im international gut aufgestellten Spielfilm-Wettbewerb zeigte.

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Gleich zu Beginn lieferte der serbische Wettbewerbsbeitrag Die Ladung von Regisseur Ognjen Glavonić eine gute Darstellung der bedingt durch die politischen Umwälzungen nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und den Balkan-Kriegen herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Während des Kosovo-Kriegs und Nato-Bombardements 1999 muss der LKW-Fahrer Vlada (Leon Lučev), der dringend Geld für die Familie braucht, eine geheimnisvolle Fracht für die serbische Armee aus dem besetzten Kosovo nach Belgrad fahren. Auf der Reise, die ihn wegen einer Brückensperrrung zu einem Umweg zwingt, nimmt er den 19jährigen Paja (Pavle Čemerikic) mit, der nach Deutschland will, da er in Serbien keine Zukunft mehr sieht. Die Fahrt führt die beiden durch die triste serbische Provinz. In melancholischen Bildern einer Hochzeit mit viel Alkohol, sehnsuchtsvollen Liedern und immer wieder auftauchenden Reliquien aus kommunistischen Zeiten wie einem Weltkriegsdenkmal und Bildern alter politischer Führer wie Tito und Milošević sowie alten Postkartenidyllen erzählt der Regisseur eine Geschichte von Agonie und großer Sprachlosigkeit.

Auch Vlada lebt in Erinnerungen an den Vater, der seinen Bruder im Zweiten Weltkrieg verlor und dem Sohn ein Feuerzeug als Erinnerung an eine der Schlachten vermacht hat. Nur was will Vlada seinem Sohn mitgeben? Der Film behandelt die Unfähigkeit der Generationen miteinander zu sprechen. Es geht um die Überwindung des Schweigens über die Lügen der Vergangenheit, die die Gegenwart bestimmen. In dem jungen Paja findet Vlada kurzzeitig einen wenn auch wortkargen Zuhörer. In langen ruhigen Einstellungen führt der Film bis zum Ende, dass auch das im Hintergrund schwelende, furchtbare Geheimnis der Ladung lüftet. Das war der Wettbewerbs-Jury zumindest eine lobende Erwähnung wert. Verdient auch der FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritiker-Jury.

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Um das Verschweigen der Kriegsvergangenheit geht es auch im rumänischen Film I Do Not Care If We Go Down in History as Barbarians von Regisseur Radu Jude, der schon im Wettbewerb des Filmfestivals Karlovy Vary Preise abräumte, es in Cottbus aber nur in die Nebensektion „Spektrum“ schaffte. Die Theaterregisseurin Mariana (Ioana Iacob) plant ein historisches Reenactment der Einnahme Odessas durch rumänische Soldaten und die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, bei der die Rumänen ein Massaker an der jüdischen Bevölkerung verübten. Deutsche Wochenschauberichte, historisches Filmmaterial und Fotos, die Mariana zur Recherche zusammengetragen hat, zeigen diverse Gräueltaten. Im Produktionsteam wird viel darüber diskutiert, wie man diese glaubhaft in einem Theaterstück verarbeiten kann. Der Direktor des koproduzierenden Historischen Museums spricht lang und breit mit der engagierten Regisseurin über den Sinn, die Ereignisse in all ihrer Schärfe zu zeigen und relativiert die Mitschuld Rumäniens durch die Aufzählung anderer Kriegsverbrechen, die der Vergessenheit anheimgefallen sind. Wo fängt ein Massaker an, wo lohnt sich überhaupt die Aufarbeitung? Schließlich droht er sogar mit dem Entzug der Unterstützung, und auch die gecasteten Laiendarsteller an der Aktion offenbaren ihre Ressentiments gegen Juden und andere ethnische Minderheiten. Radu Jude zeigt ein absurdes und verstörendes Bild der rumänischen Gesellschaft, die sich lieber als doppeltes Opfer von Faschismus und Kommunismus geriert statt ihre eigene Vergangenheit und Mitschuld aufzuarbeiten.

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Ein Stück aus Absurdistan ist auch der mazedonische Wettbewerbsbeitrag Das Jahr des Affen von Regisseur Vladimir Blaževski. Ein aus dem Zoo entlaufener Affe und sein sich liebevoll um ihn kümmernder, zuvor entlassenen Wärter Tsobe (Igor Angelov) werden zum medialen Großereignis. Der tierische Ausreißer avanciert zum Freiheitssymbol und von allen Bevölkerungsgruppen beanspruchter Nationalheld in einem durch ethnische Zerwürfnisse und politischen Populismus geprägten Land. Was hier als schwarze Komödie daherkommt, ist im russischen Beitrag Ayka, dem Gewinner des Spielfilmwettbewerbs, bitterer Ernst. Regisseur Sergey Dvortsevoy, vom Dokumentarfilm kommend, zeigt 5 Tage im Leben einer jungen kirgisischen Arbeitsmigrantin im tief verschneiten Moskau. Ayka hat gerade entbunden, flieht aber aus dem Krankenhaus, da sie dringend Geld für die Tilgung von Schulden braucht. Die Kamera folgt in gnadenlosen Nahaufnahmen ihrer Odyssee durch die russische Metropole, bei der die blutende und unter Schmerzen leidenden Frau Hühner rupft, um ihren Lohn betrogen wird, vielen hartherzigen Menschen und nur wenigen Samaritern begegnet, aber auch selbst mit allen Mitteln um einen Job kämpft. Ihr Traum vom eigenen Business wird mit der harten Realität der Großstadt Moskau konterkariert, in der jeder ohne viel Rücksicht auf andere seinen eigenen Geschäften und Karriereplänen nachgeht. Samal Yeslyamova erhielt für ihre Rolle der Ayka bereits in Cannes den Preis für die beste Schauspielerin.

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Die Cottbuser Spielfilmjury entschied sich mit Martina Apostolova für die Darstellerin einer anderen starken Frauenfigur. Irina im gleichnamigen bulgarischen Wettbewerbsbeitrag von Regisseurin Nadejda Koseva verdingt sich, nachdem sie gefeuert wurde und ihr Mann bei einem Unfall in einer illegalen Kohlenmine beide Beine verloren hat, als Leihmutter für ein gutsituiertes Paar aus Sofia. Trotz aller Verzweiflung, die aus der Entscheidung Irinas, die selbst schon ein Kind hat, spricht, versucht die junge Frau ziemlich taff die Fäden in der Hand zu behalten und kämpft um ein selbstbestimmtes Leben und den Zusammenhalt ihrer eigenen Familie. Wesentlich tragischer verläuft da das Schicksal der jungen Mutter Aiganym (Zhanargul Zhanyamanova), die mit ihrem unehelichen Kind aus der Stadt in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Von der Mutter als Hure beschimpft und verjagt, wird sie vom Bruder und Oberhaupt der Familie verprügelt und auf die Müllkippe vor dem Dorf gekarrt. Doch die Aiganym, nur unterstützt von der jüngeren Schwester und einer Lehrerin, selbst Fremde in dem von frauenverachtenden Traditionen und korrupten Machtstrukturen regierten Dorf, stellt sich immer wieder vor den Zaun des elterlichen Hauses und bittet stoisch um Vergebung. Bis das Unfassbare geschieht und ihr Bruder sie bei einem erneuten Gewaltausbruch tötet. In Abgelehnt beschreibt die kasachische Regisseurin Zhanna Issabayevas ein unmenschliches System aus alltäglicher Gewalt und patriarchalen Strukturen, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint.

Dagegen nimmt sich die unfreiwillige Fahrt der jungen Minsker House-DJane Evelina (Alina Nassibullina) in die weißrussische Provinz der 1990er Jahre zunächst fast wie eine Reise in die Sommerfrische aus. Für ein Visum in die USA braucht Evelina eine Jobbescheinigung, die sie sich auf einer Urkunde vom Trödelmarkt selbst ausstellt. Nur die Botschaft will einen Kontroll-Anruf machen, was die junge Frau schließlich ins Dorf der auf der Urkunde stehenden Kristallfabrik führt. In Crystal Swan, dem weißrussischen Wettbewerbsbeitrag von Regisseurin Darya Zhuk, trifft jugendliche Aufbruchsstimmung auf Armut, Alkoholismus und postsowjetische Depression, die auch nicht vor Gewalt halt macht, was Evelinas hochfliegende Träume am Ende doch ziemlich rüde erdet.

Aber auch die Männer hatten es im Cottbuser Spielfilm-Wettbewerb nicht immer leicht. Im estnischen Beitrag Take it or leave it von Regisseurin Liina Trishkina-Vanhatalo wird der in Finnland auf Montage arbeitende Erik von der Botschaft seiner Ex-Freundin, ein Kind entbunden zu haben, überrascht. Da sie das Kind nicht haben will, entschließt sich der Dreißigjährige nach langen Überlegungen doch die gemeinsame Tochter allein aufzuziehen. Der Film begleitet den alleinerziehenden Vater wider Willen drei Jahre lang bei dem Versuch in die neue Rolle zwischen Windeln und Wassergymnastik hineinzuwachsen und nebenbei noch mit Gelegenheitsjobs die kleine Familie über Wasser zu halten. Das ist nicht ohne tragikomischen Witz erzählt, verliert sich am Ende aber in einem Nerven aufreibenden gerichtlichen Sorgerechtsstreit, als die Mutter, die auch nicht vor einem Vaterschaftstest zurückschreckt, die Tochter in ihre neue Beziehung nach Schweden holen will. Die Spielfilm-Jury erkannte Reimo Sagor für seine Rolle als Erik den Preis für den besten Darsteller zu.

Mit einem Babyschrei beginnt auch der zweite russische Beitrag des Wettbewerbs vom mehrfachen Cottbus-Preisträger Ivan I. Tverdovskiy (Lenas Klasse, Zoologie). Von der Mutter nach der Geburt in die Babyklappe entsorgt, ist der schmerzunempfindliche Denis im Waisenhaus aufgewachsen. Die Mutter findet erst ihr Interesse an dem mittlerweile Sechszehnjährigen wieder, als dieser sich als großes Talent beim Springen vor fahrende Autos entpuppt. Bei ihrem perfiden Geschäftsmodel mit korrupten Polizisten, Ärzten, Anwälten und Richtern nehmen sie reiche Autofahrer aus, um sich im Russland des ungebremsten Turbo-Kapitalismus ein schönes Leben leisten zu können. Die anfängliche Liebe lässt allerdings schnell nach, als dem jungen Springer erste Skrupel kommen. Jumpman ist Tverdovskiys bisher düsterster Spielfilm, der ihm diesmal den Spezialpreis für die Beste Regie einbrachte.

Ein Regiepreis hätte dem ukrainischen Regisseur Roman Bondarchuk ebenfalls gut zu Gesicht gestanden. Das ukrainische Kino hatte allerdings keinen Beitrag im Spielfilm-Wettbewerb, dafür aber mit „Close up UA“ eine ganze eigene Fokus-Sektion, in der vor allem Bondarchuks erster Spielfilm Vulkan herausragte. Der ebenfalls schon auf einigen Festivals erfolgreich gelaufene Streifen des früheren Dokumentarfilmers erzählt die Story des nach einem Autoschaden im Niemandsland der Südukraine an der Grenze zur von Russland annektierten Krim gestrandeten Kiewer OSZE-Beobachters Lukas (Serhiy Stepansky). Vom ehemaligen Direktor einer sowjetischen Fischfarm (Viktor Zhdanov), der nach altem Wehrmachtsschrott sucht, und seiner Tochter (Khrystyna Deilyk) aufgenommen, fügt der sich zunächst noch vergeblich wehrende Großstädter schließlich in die recht anarchische Dorfgemeinschaft am Rande endloser Melonenfelder ein und gibt nach archaisch anmutenden Disziplinierungsversuchen wie dem Werfen in eine Grube alle Fluchtversuche auf. Die große Politik mit Kriegsberichten und großspurigen Putin-Reden läuft nur wie nebenbei im TV, was kaum jemanden wirklich interessiert. Eine surreale Welt mit eigenen Gesetzen von im täglichen Überlebenskampf mit Landschaft und Erde verwachsenen Menschen, aus der es kein Entrinnen gibt.

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Zuerst erschienen am 12.11.2018 auf Kultura-Extra.

28. FILM FESTIVAL COTTBUS
Festival des osteuropäischen Films
06.11. - 11.11.2018

Infos: http://www.filmfestivalcottbus.de/de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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