4.48 PSYCHOSE

Premierenkritik Am Deutschen Theater übersetzt Ulrich Rasche Sarah Kanes autobiografischen Krankheitsbericht in seine brachiale Überwältigungsästhetik

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„Um 4 Uhr 48, wenn die Klarheit vorbeischaut für eine Stunde und zwölf Minuten bin ich ganz bei Vernunft. Kaum ist das vorbei, werd ich wieder verloren sein, eine zerstückelte Puppe, ein absurder Trottel.“ So beschreibt die britische Dramatikerin Sarah Kane ihre Selbstwahrnehmung in einer depressiven Phase, wenn die Psychopharmaka ihre Wirkung verlieren und sie schreiben kann. 4.48 Psychose heißt das letzte Stück, 1999 kurz vor ihrem Selbstmord entstanden. Ein praktisch ziel- und formlos meandernder Text, bestehend aus Selbstgesprächen, Selbstvorwürfen und Selbstmordgedanken. Ein hoffnungsloser Hilferuf ans Leben zwischen der Beschreibung von Angstzuständen, wahnhaften Wutausbrüchen, Psychiatriegesprächen und Krankheitsbildern.

Noch nie hat ein Theaterregisseur den eingangs erwähnten Satz so wörtlich genommen. Ulrich Rasche, bekannt für seine technisch beeindruckenden Bühnenbilder aus gigantischen Laufbändern (Die Räuber ) oder sich drehenden Scheiben (Woyzeck, Das große Heft), auf denen seine DarstellerInnen wie mechanisch angetrieben marschieren und rhythmisch zu Live-Musik Text deklamieren, hat dieses Prinzip auch auf Kanes Stück angewendet. Etwas sparsamer zwar auf nur vier nebeneinander liegenden Laufbändern, der Grad des mechanisch getriebenen Maschinenwesens bestimmt aber auch seine erste Inszenierung für das Deutsche Theater Berlin.

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Aus dem nebligen Halbdunkel tauchen die SchauspielerInnen auf den Bändern zwischen zwei senkrechten Leuchtröhren auf. Zunächst vereinzelt oder zu zweit. Dazu dräut der exzellente Sound des live auf der Bühne spielenden Musik-Quartetts, erzeugt mit Keyboard, Vibrafon, Trommelschlagwerk und Bass noch relativ dezent. Band und Regie bauen Rhythmus und Spannung sehr langsam auf. Rhythmisch akzentuiert klagend und auseinander gedehnt kommen die Sätze, wechselnd von Katja Bürkle, Kathleen Morgeneyer und Linda Pöppel gesprochen. Auch Dialogpassagen der Frauen mit Elias Arens und Thorsten Hierse sind zu vernehmen. Das zieht an Nerven und Geduld des Publikums. Der Wille zur Form gerät da zum großen Missverständnis.

Nun wäre Rasche nicht Rasche, wenn da keine Steigerung möglich wäre. Allerdings ruft der Regisseur seine gewohnt vehement im Takt der anschwellenden Musik sich bewegenden Männerchöre erst nach gut der Hälfte des fast dreistündigen Abends ab. Die getriebene und geschundene Seele der nicht näher genannten Person, gefangen in ihrer Psychose, wandelt sich zur getriebenen Kreatur, zur besagten zerstückelten Puppe, die nun zur Gruppe vervielfacht im Rhythmus des brachialen Sounds marschiert und Text absondert. Die Passagen der Aufzählung von Diagnosen und Medikamenteneinsatz eignen sich dafür besonders gut. Das lässt sich hier fast nach Belieben auf rotierender Bühne in der Intensität hoch- und runterfahren. Die in hautfarbene, eng anliegende Bodysuits gekleideten Frauen stehen dabei meist im Mittelpunkt, darum die in schwarzen Suits steckenden Männer. Auf einen herunterfahrenden Gazevorhang werden ab und zu Videos von Händen und anderen Körperteilen oder mit einer Livekamera gefilmte Negativbilder der marschierenden Männer projiziert.

Das ist natürlich eindrucksvoll. Eine überwältigende Ästhetik stemmt sich gegen den sehr persönlichen, eher intimen Text. „Wem ich nie begegnete, das bin ich, sie mit dem Gesicht eingenäht in den Saum meines Bewusstseins.“ So eingenäht ins statische Inszenierungskorsett, bricht sich dieses unterdrückte Bewusstsein kaum Bahn. Menschmaschine gegen die verzweifelte Poesie einer gestörten Seele, die sich in den teils zerhäxelten Wortfetzen von Yannik Stöbener zu befreien sucht. Am Ende stehen die drei Frauen dicht aneinander gedrängt auf dem Laufband und verschwinden langsam dahin, wo sie zu Beginn aufgetaucht sind. „Dies ist die Krankheit zur Größe“, schreibt Sarah Kane. Ulrich Rasches Inszenierung verzwergt sie dabei bis hin zum großen, formvollendeten Betroffenheitskitsch.

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Zuerst erschienen am 18.01.2020 auf Kultura-Extra.

4.48 PSYCHOSE (Deutsches Theater Berlin, 17.01.2020)
Regie / Bühne: Ulrich Rasche
Komposition und Musikalische Leitung: Nico van Wersch
Chorleitung: Toni Jessen
Co-Bühne: Franz Dittrich
Kostüme: Clemens Leander
Video: Florian Seufert
Licht: Cornelia Gloth
Dramaturgie: David Heiligers
Mit: Elias Arens, Katja Bürkle, Thorsten Hierse, Toni Jessen, Jürgen Lehmann, Kathleen Morgeneyer, Justus Pfankuch, Linda Pöppel und Yannik Stöbener sowie den Live-MusikerInnen Carsten Brocker (Keyboard), Katelyn King (Schlagwerk), Špela Mastnak (Schlagwerk) und Thomsen Merkel (Bass)
Premiere war am 17. Januar 2020.
Weitere Termine: 25., 26.01. / 12., 13., 28., 29.02.2020

Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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