A L'ARME! Vol. VI

Experimentelle Musik Das cool-entspannte Avantgarde-Festival im Radialsystem V wartete mit Turntablefricklern, alten und jungen Freejazzern sowie psychedelischen Mondanbetern auf

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Laue Sommernächte ziehen die Menschen nicht nur im momentan kochend heißen Berlin ans Wasser. WASSERMUSIK hier, A L’ARME! dort: Nun schon zum 6. Mal lud das kleine Avantgarde-Musik und Improjazz-Festival ins Radialsystem V am Spreeufer nahe der Eastside-Gallery, wo diesmal auch das Eröffnungskonzert (2017 noch im legendären Berghain-Club hinter dem Ostbahnhof gegenüber) stattfand. Mit viel Noise und Feedback hatten sich letztes Jahr die Lärmpioniere Casper Brötzmann und Thurston Moore im Berghain ein E-Gitarren-Battle geliefert. Um Rauschen und Rückkopplung, akustische und semantische Verzerrungen und Überblendungen sollte es laut Ankündigung im Programmheft auch diesmal gehen. Laut und schräg ist es in jedem Fall wieder geworden. Nun mit der mittlerweile schon 71jährigen New Yorker Elektro-Avantgarde-Ikone Laurie Anderson und der nicht minder beeindruckenden Elektro-Vokalakrobatin Maja S. K. Ratkje aus Norwegen.

Jeweils zwei Sets waren angekündigt, bei denen Maja S. K. Ratkje ein improvisiertes Solo-Programm absolvierte und Laurie Anderson mit Bill Laswell's Method of Defiance auftrat. Laswell, selbst Avantgarde-Pionier der ersten Stunde, hat bereits mit Jazz- und Avantgardegrößen wie Peter Brötzmann, Herbie Hancock oder John Zorn gespielt. Für sein Projekt Method of Defiance, was so viel wie Methode des Trotzes heißt, hat sich der E-Bassist mit dem Drummer Guy Licata, dem Kornettisten Graham Haynes sowie Dr. Israel und DJ Logic an den Turntables zusammengetan.

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Herausgekommen ist eine Mischung und Überlagerung aus improvisierten, live gesampelten Freejazz- und Dub-Rhythmen mit vereinzelten Rapeinlagen von Dr. Israel, zu denen sich Laurie Anderson mit ihrer E-Geige ganz uneitel zurückhaltend einbrachte. Wer hier Hits wie "O Superman" oder "Language Is A Virus" erwartete, war eh falsch. Das musikalische Spektrum der Musikerin und Performancekünstlerin ist vielgestaltig und nicht in den 1980er Jahren stehengeblieben. Der Hang zur avantgardistischen E-Musik und zum improvisierten Jazz ist aber deutlich erkennbar. Ein paar Spoken-Words-Einlagen, zum Teil wie gewohnt elektronisch verfremdet, gab es in dem als Weltpremiere angekündigten Zusammenspiel mit Bill Laswell's Method of Defiance auch. In Erinnerung bleibt sicher die kleine Story der mit einem „Avantgarde-Art-Scream“ aus einem After-Elektion-Albtraum aufgewachten Yoko Ono, die andere New Yorker Avantgarde-Diva. Da darf dann auch mal das Publikum zum 10sekündigen ultimativen „Murder-Death-Scream-from-Hell“ ansetzen.

Return to Sender gesampelt waberte das noch lange in den Ohren nach. Sampeln ist auch die große Leidenschaft der norwegischen Vokalsolistin, Live-Elektronikerin und Komponistin Maja S. K. Ratkje, die zur eigentlichen Überraschung des A L’ARME!-Eröffnungsabends wurde. An den Turntables sampelte, mixte und loopte sie die Geräusche von Schellen, Glöckchen, Spieluhren und eines Bogens Zellophanpapier und überlagerte die improvisierte Laut-Komposition mit ihrer eigenen Stimme. Da bricht elektronisch verstärkt schon mal ein kleines Noise-Gewitter aus. So konnte man sich in der Hitze des Gefechts die dringend notwendige Erfrischung wenigsten akustisch vorstellen.

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Avantgarde-Jazz und Experimentelle Musik sind die Hauptschwerpunkte auch des A L’ARME!-Festivals Vol. VI. Obwohl die Grenzen dabei wie immer fließend sind. Nachdem es am Eröffnungsabend mit elektronischer Avantgarde von Laurie Anderson & Bill Laswell's Method of Defiance aus New York und der norwegischen Experimentalmusikerin Maja S. K. Ratkje begann, kamen an den beiden folgenden Tagen die Avantgarde- und Free-Jazz-Fans ganz auf ihre Kosten.

Echte Experimental- und Improvisationskunst, mit der sich das Festival unter der künstlerischen Leitung von Louis Rasting einen Namen gemacht hat, musste man dabei allerdings mit der Lupe suchen. Viel traditioneller Free-Jazz und einige Improvisationsprojekte von jungen MusikerInnen wie etwa von dem hochgelobten deutschen Quartett Philipp Gropper’s Philm um den Berliner Tenor-Saxophonisten Philipp Gropper, oder der internationalen Kollaboration Gordoa / Malfon / Edwards / Narvesen, die neben so bekannten Größen wie dem Chicagoer Drummer Michael Zerang und seinem internationalen Bandprojekt The Blue Ligths oder dem norwegischer Drummer Paal Nilssen-Love und seiner 16köpfigen Big-Band Large Unit Rio, die mit großer Bläsersektion aufwartete und am späten Donnerstagabend die große Halle bespielte, standen. Immerhin eine würdige Fortsetzung der Tradition von großen Orchester-Kompositionen auf dem Festival. Verlor sich die Jugend in technisch ausgereiften Instrumentalspielereien, boten die alten Recken gut abgehangenen Jazz, der allerdings bei Michael Zerangs Kompositionen, die er deutschen Free-Jazz-Heroen wie dem 2016 verstorbenen Posaunisten Johannes Bauer oder dem Saxophonisten Peter Brötzmann widmete, bisweilen in merkwürdige Marching-Band-Anklänge abrutschte.

Wirklich innovativ waren da nur das rein weibliche Trio Rolfssohn / Léandre / Harnik bestehend aus der Drummerin Matilda Rolfssohn, der Kontrabassistin Joëlle Léandre und der Pianistin Elisabeth Harnik, die ein kurzes Improvisationsset im quadrofonischen Saal spielten, das schon allein wegen der interessanten Stimmakrobatik von Joëlle Léandre bemerkenswert war. Ein Markenzeichen der vielseitigen französischen Kontrabassistin, die schon mit Avantgardegrößen wie John Cage und Fred Frith zusammengearbeitet hat. Der Gitarrenfrickler Fred Frith dürfte auch ganz oben auf der Einflussskala von Martin Siewert stehen. Der Wiener E-Gitarrist gab am Freitagabend im kleinen Saal eine Probe seines Improvisationskönnens in einem Duett mit in Berlin lebenden Drummerin Katharina Ernst bevor er in der Halle mit Unterstützung seiner Band Radian und den Elektro- und Videokünstlern Billy Roisz (die Wienerin Bettina Roisz) und dieb13 ein audio-visuelles Feuerwerk aus Elektro-Noise, Industriel und in Unschärfe flirrenden Videoprojektionen abbrannte.

Künstlerische Allrounder sind auch die Mitglieder der polnischen Elektroexperimental- und Neofolk-Band Księżyc [s. Foto unten], das polnische Wort für Mond. Die fünf MusikerInnen aus Warschau hatten sich bereits 1990 gegründet und nach einer gewissen Zeit, in der sie mit einer Mischung aus traditionellen slawischen Gesängen und psychedelischer elektronisch verstärkter Musikbegleitung auf Keyboard, Violine, Klarinette und Akkordeon durch Polen tourten, wieder aufgelöst, um in anderen Formationen weiter zu arbeiten. Der Erfolg ihres ersten Tonträgers von 1996, der in England wieder neu aufgelegt wurde, hat den einstigen polnischen Geheimtipp wieder aus der Versenkung katapultiert.

Mit neuer Musik nicht weniger mystisch und kontemplativ standen Księżyc am Donnerstagabend auf der großen Bühne der Halle im Radialsystem V. Zu ihren glockenklaren Stimmen experimentierten Agata Harz und Katarzyna Smoluk klanglich mit Objekten wie Glöckchen, Weingläsern oder durch die Luft kreisenden Schläuchen. Ein fantastisch-akustisches Hörspielwerk, das die Truppe auch noch mit performativen Elementen aus Ballspiel und vermutlich ein Universum darstellenden Leuchtkugeln anreicherte. Ein meditatives Klanguniversum, das zum Innehalten und Träumen einlud.

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Der Samstag war dann ganz dem Werk des polnischen Experimental-Komponisten und elektro-akustischen Klangkünstlers Zbigniew Karkowski (1958 - 2013) gewidmet. Das Karkowski Project The Truth At All Costs, kuratiert von der A L’ARME!-Direktorin Karina Mertin und dem britischen Musiker und Künstler Mark Fell, stand ganz im Zeichen audio-visueller Experimentierkunst. Karkowskis elektronische Musik besteht zu großen Teilen aus sogenannten Field Recordings, in der Natur und alltäglichen Umgebung aufgenommenen Geräuschen, die der Künstler elektronisch sampelte, mischte bzw. verfremdete und verzerrte. Mit seinem Musik-Performance-Trio Sensorband schuf Karkowski ein riesiges Raum-Musik-Instrument namens Soundnet, in dem er und seine Miststreiter wie Fliegen in einem Spinnennetz zappelnd Klänge erzeugten. Für sein Album Mutation verwendete Karkowski in einem japanischen Kloster aufgenommene Geräusche.

Die Latte lag also ziemlich hoch für die KünstlerInnen der aktuellen Turntablefraktion, die von der Musik Karkowskis inspiriert eigene kleine Soundbeiträge für das Festival entwickelt hatten. Die audio-visuelle Videoshow des Briten Theo Burt, der kleine Remixe von Popsongs bekannter Künstler durch den Elektroreißwolf schickte und als Störgeräusche zu Farbbildmutationen der Realität verwurstete, ging dann aber gehörig auf die Seh- und Hörnerven, ähnlich wie das vom indischen Künstlerduo Jessop&Co. erzeugte Elektrogefiepe, das sich wie rostige Türangeln anhörte. Damit kommt man allerdings auch dem Sound von Karkowski durchaus sehr nahe. Wesentlich innovativer hörte sich das Soundgebräu der Kollaboration zwischen dem Elektro-Bassisten Massimo Pupillo und dem E-Gitarristen Stefano Pila aus Italien mit dem irischen Videokünstler Lillevan an, die ihre auf- und abschwellenden Soundläufe mit psychedelisch wabernden Farbmustern kombinierten.

Noch etwas mehr Spannung brachte die britische Elektro-R’n’B-Künstlerin Klein, die mit magischem Gospelgesang, Tanzperformance und gemixten Internetvideos aufwartete. Wieder ganz bei Karkowskis Vibrations schraubten die beiden Elektromusiker Louis Klein aka Wanda Group und Rabih Beaini an ihren Turntables und verabschiedeten das trotz andauernder Hitzewelle wieder recht entspannte 6. A L’ARME!-Festival blubbernd und wabernd in die laue Sommernacht. Im verflixten 7. Jahr sollte der künstlerische Leiter Louis Rastig aber die musikalische Innovationsschraube doch wieder stärker anziehen und den elektronischen Gemischtwarenladen etwas aufräumen, ansonsten droht eine ungute Verwechslungsgefahr mit gleichartigen Großveranstaltungen wie dem Berlin Atonal und der Pop Kultur, die beide ebenfalls im August stattfinden und durch Senatsverwaltung für Kultur und Europa und das Musicboard Berlin gefördert werden.

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Zuerst erschienen am 02.08.2018 auf Kultura-Extra.

A L’ARME! Vol. VI
Festival für experimentelle Musik und Avantgarde-Jazz
1. bis 4. August 2018
RADIALSYSTEM V
Holzmarktstr. 33
10243 Berlin (S-Ostbahnhof)

Infos: http://alarmefestival.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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