Anna Karenina oder Arme Leute

Premierenkritik Am Berliner Maxim Gorki Theater verschränkt Skandalregisseur Oliver Frljić Tolstois Liebes- und Gesellschaftsroman mit Dostojeswkis Romanerstling

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Leo Tolstoi portraitierte in seinem 1873 bis 1878 geschrieben Roman Anna Karenina die Welt des russischen Adels anhand mehrerer reicher Familien. Dabei werden Ehe, Moral sowie gesellschaftliche und politische Verhältnisse jener Zeit in acht langen Kapiteln beschrieben. Das allein scheint Theater- und Skandalregisseur Oliver Frljić nicht genug. Für seine neueste Inszenierung am Maxim Gorki Theater stellt er Tolstois großem Liebes- und Gesellschaftsroman den Romanerstling von Fjodor Dostojeswki Arme Leute aus dem Jahr 1846 an die Seite. Ebenfalls eine unerfüllte Liebesgeschichte, die (wie schon der Titel verheißt) in den St. Petersburger Armenvierteln spielt. Ein Jahr lang schreiben sich die verarmte Näherin Warwara Dobrosjolowa und der Kanzleischreiber Makar Dewuschkin zahleiche Briefe, in denen sie sich ihre Liebe gestehen, aber auch ihre ärmlichen Verhältnisse beklagen. Letztendlich wird nichts aus dieser Liebe, da Warwara den Gutsbesitzer Bykow heiratet, damit dieser zukünftig Armut und Entbehrungen von ihr fernhält, wie sie Makar schreibt.

Hier geht es also nicht nur um moralische sondern auch ökonomische Barrieren, die der Liebe im Weg stehen bzw. wie es der Regisseur in einem Interview für das Programmheft frei nach Brecht benennt: „Erst kommt das Fressen, dann die Liebe.“ Also nur dann, wenn man sie sich leisten kann. Das Problem hat z.T. auch Anna Karenina nach der Trennung von ihrem Mann, von dem sie wirtschaftlich abhängig ist. Beide Romane behandeln also ähnliche Themen in unterschiedlichen Klassen. Das scheint zumindest eine recht interessante Ausgangslage für eine fruchtbare Bühnenkollision. Dieses Aufeinanderprallen der beiden Romanstoffe und ihrer Figuren besorgt zunächst das Bühnenbild von Igor Pauška, der mehrere Schienenstränge kreuz und quer über die Bühne verlegen ließ. Züge spielen zu Beginn und am Ende von Anna Karenina eine große Rolle. Bei ihrer Ankunft auf dem Bahnhof in Moskau begegnet die Titelheldin ihrem späteren Geliebten, dem Grafen Wronski. Nachdem ihre Ehe mit Alexej Karenin endgültig gescheitert ist, sie ihren Sohn Sergej nicht mehr sehen darf und auch die Liebe zu Wronski sich nicht zu erfüllen scheint, wirft sich Anna Karenina verzweifelt vor einen Zug.

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Auf Draisinen ähnlichen Podesten fährt nun das jeweilige Romanpersonal immer wieder aus dem Hintergrund nach vorn und bietet dort einzelne, dem Regisseur wichtig erscheinende Szenen dar. Das geschieht vor der Pause des dreistündigen Abends noch getrennt voneinander. In ärmlicher Kleidung erzählen Anastasia Gubereva als Warwara, Emre Aksızoğlu als Makar und Mehmet Yılmaz in weiteren Rollen aus ihrem täglichen Leben in Armut, während der Moskauer Adel gülden gewandet über Untreue, Moral, Eifersüchteleien, Eheprobleme und Politik schwadroniert. Im Einzelnen sind das Falilou Seck als eitler, untreuer Fürst Oblonski, Abak Safei-Rad als seine Frau Dolly, Hanh Mai Thi Tran als junge Kitty, in die der Landadelige Lewin, gespielt von Jonas Dassler, verliebt ist, Till Wonka als Karenin und Lea Draeger als Anna Karenina sowie Taner Şahintürk als Graf Wronski. Über allem schwebt der Pianist Daniel Regenberg mit seinem vom Schnürboden abgehängten Flügel.

So baut Frljić ziemlich gemächlich sich hinziehen lassend eine gewisse Spannung auf, wobei er den Bogen doch etwas sehr weit überspannt. Der im Roman als liberal geltende Lewin vollführt erst einen Schlittschuhslapstick auf untergeschnallten Eisblöcken und bringt dann noch öfter das Leitergleichnis der russischen Gesellschaft, bei dem die Reichen oben stehen und die armen Bauern unten die Leiter halten. Reformen würden das ganze Gleichgewicht nur destabilisieren. Brot statt Bildung ist seine Devise. Und so verteilen er und Kitty dann lauter Brotleibe auf der Bühne, auf die die „Armen Leute“ sich dann stürzen. Makar berichtet dagegen von der Familie eines armen Arbeiters oder von einem bettelnden Kind. Auf der wohlhabenden Ebene geht es selbstverständlich um das Dreiecksverhältnis Anna-Karenin-Wronski. Es wird viel von Geld gesprochen. Während Anna nach Liebe hungert, zwingt Karenin seinen Sohn Sergej (Carlo Meyer), weil er sein Frühstück nicht wollte, ein ganzes Brot zu essen. Später rezitiert der Brechts Ballade Ein Pferd klagt an, wozu den Armen Stricke umgelegt werden und sie als Rennpferde zur Belustigung der anderen dienen müssen.

Wenn man Frljić Inszenierungen kennt, ist das aber vergleichsweise noch recht zahm. Der Regisseur lässt einen diesmal lange warten, bis er zu drastischeren Mittel greift, um die Situation zu eskalieren bzw. sogar gänzlich umzudrehen. Dazu werden schließlich alle Reichen an den Händen gefesselt, und Warwara übernimmt das Kommando. Die Zarenbilder im Hintergrund wechseln gegen ein Leninportrait. Die Verschärfung der Widersprüche führen schließlich zum Umsturz. Was erst wie eine Art Kultur-Revolution daherkommt, bei der zur Schaffung einer proletarischen Kultur Tolstois Romangesellschaft nochmal auf den Prüfstand kommt und dazu Passagen aus ihren Dialogen zu wiederholen hat, gipfelt schließlich in einen Sturz der Männergesellschaft.

Mit Heiner Müllers Mauser im Anschlag fordert Warwara die Tolstoi-Frauen auf, ihre Männer zu erschießen. Klassen- oder Frauensolidarität, oder doch lieber der Tod stehen hier zur Auswahl. Man muss nicht lange rätseln, wie es bei Frljić ausgeht. Simon Stone hat in seiner Griechischen Trilogie am BE Ähnliches verzapft. Doch wo mit Müller Revolution gemacht wird, lauert auch der Verrat. Frank Castorf weiß das schon lange. Und so gehört das Ende Dostojewskis Roman vor einem Putin-Bild. Sehr subtil ist das nicht. Aber aller Anfang ist schwer und scheinbar auch ziemlich langwierig.

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Zuerst erschienen am 17.09.2019 auf Kultur-Extra.

ANNA KARENINA ODER ARME LEUTE (Maxim Gorki Theater, 15.09.2019)
Regie: Oliver Frljić
Bühne: Igor Pauška
Kostüme: Sandra Dekanić
Dramaturgie: Ludwig Haugk, Johannes Kirsten
Livemusik: Daniel Regenberg
Mit: Emre Aksızoğlu, Jonas Dassler, Lea Draeger, Anastasia Gubereva, Hanh Mai Thi Tran, Abak Safei-Rad, Taner Şahintürk, Falilou Seck, Till Wonka, Mehmet Yılmaz und Carlo Meyer (als Sergej) sowie Timon Joris Holzmann
Premiere war am 15. September 2019.
Weitere Termine: 20., 27., 29.09. / 09., 17.10.2019

Weitere Infos siehe auch: https://gorki.de/

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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