BERLIN ORANIENPLATZ

Theater Am Berliner Gorki Theater inszeniert Hakan Savaş Mican den ersten Teil einer Trilogie Berliner Orte als jazzigen Abgesang in Moll

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Das Berliner Maxim Gorki Theater
Das Berliner Maxim Gorki Theater

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Das Beachten von Abstandsregeln gehört in der neu begonnenen Spielzeit zum A und O jedes Theaterbesuchs. Von den stark ausgedünnten Sitzreihen war schon die Rede. Es kann aber auch mal etwas unentspannt werden, wenn man sich auf dem Weg zur Toilette im penibel auf dem Boden angelegten Wegeleitsystem verheddert, oder bei der Suche nach der Bar falsch einfädelt. Dass sich das Gebot der Distanz aber bis auf die Bühne und die dort agierenden DarstellerInnen überträgt, führt wohl zu einem weitaus größeren Manko, an dem die Schauspielkunst zwangsweise leiden muss.

So gesehen bei der - ebenso wie an der Volksbühne tags zuvor - nachgeholten Premiere von Berlin Oranienplatz, einer von Regisseur Hakan Savaş Mican frei nach Motiven von Alfred Döblins großem Roman Berlin Alexanderplatz entworfenen Stückfassung über den letzten Tag des Kreuzberger Modedesigners und Ladenbesitzers Can (genannt Gianni wie Versace), bevor er am nächsten Morgen wegen des Verkaufs von gefälschten Markenklamotten für 5 Jahre in die JVA Tegel einfahren muss. Hier steht also einer - entgegen der Geschichte des Knastentlassenen Franz Biberkopf aus Döblins Roman - erst am Beginn einer möglichen Knastkarriere, der sich Gianni im Gedanken auch lieber durch eine Flucht in eine gleichfalls ungewisse Zukunft nach Istanbul entziehen würde.

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Das Gorki-Thema Migrationshintergrund ist hier also ebenso gesetzt wie in der im Februar auf der BERLINALE gezeigten modernen Kinofassung des Döblin-Romans von Burhan Qurbani. Vorwiegend filmisch geht auch Autor und Regisseur Hakan Savaş Mican in seiner Inszenierung des eigenen Stücktextes vor. So sehen wir Gianni zunächst nur auf der Großbildleinwand. Er spielt die Hauptrolle im Film seines Lebens, wie er sagt. Typische Kreuzberger Orte sind hier menschenleer. Gianni trifft alte Bekannte, die Eltern und ehemalige Freunde auf seiner Abschiedstour durch den Kiez. Vom distanzierten Filmbild wechselt die Inszenierung dabei zu kleinen Szenen auf der Bühne. Auch hier herrscht, gewollt oder nicht, die kühle und fast aseptische Distanz vor. Zur Einsamkeit der Hauptfigur, eines Proletariersohns mit Träumen, der sich nirgends dazugehörig fühlt, passt das jedenfalls ganz gut.

Taner Şahintürk spielt Gianni als lonesome Stadt-Cowboy, der seinen fahrbaren Untersatz nicht verscherbeln will, aber seine Rolex (echt oder nicht) für ein Flugticket nach Istanbul hergibt. Der Vater (Falilou Seck) hat ihm nicht mehr viel zu sagen, die Mutter (Sema Poyraz) träumt von früheren Besuchen am Wannsee. Der Besuch beim alten Freund und Bandkollegen Deniz (Emre Aksızoğlu) verläuft eben so trostlos für Gianni, wie die Begegnung mit seiner ehemaligen Geliebten Zeynep (Sesede Terziyan), die nun mit Deniz ein geregeltes Leben führt. Etwas letzten Charme versprüht Gianni, wenn er der aus Russland stammenden Jeva (Anastasia Gubareva) in seinem Laden zwei Gucci-Kleider schenkt und beide feststellen, dass sie mal am Schwarzen Meer gelebt und von der jeweils anderen Seite geträumt haben. Doch auch diese Szene wirkt vor allem sentimental.

Manchmal doppeln sich die Bilder der Live-Musiker auf der Bühne und in der Filmprojektion, die das Bühnenportal und die ganze Rückwand einnimmt. Sie spielen coolen aber getragenen Jazz. Geht denn das musikalisch mit Kreuzberg zusammen, fragt man sich da. Es wirkt so unpassend wie zweifelsohne dann auch wieder schön, da wirksamer Verstärker der eh schon vorherrschend melancholischen Stimmung. Doch manchmal kommen die singenden DarstellerInnen aus sich heraus und röhren wie die tragisch verstorbene Souldiva Amy Winehouse, oder machen eine Koranstunde zum Gospel-Event. Doch eigentlich ist das hier nur ein Abgesang auf ein Berlin, das es so nicht mehr gibt, sei es durch Gentrifizierung oder andere Einflüsse, die das Bild der Stadt, wie wir sie zu glauben kennen, verändert haben. Doch politisch will das Stück nicht sein. Hier spricht mehr die Sehnsucht nach früher als die Hoffnung auf eine Zukunft. Da wäre weitaus mehr möglich gewesen. Der erste Teil dieser Trilogie Berliner Orte wird mit Kleistpark und Richardplatz fortgesetzt werden.

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Zuerst erschienen am 30.08.2020 auf Kultura-Extra.

BERLIN ORANIENPLATZ (Maxim Gorki Theater, 30.08.2020)
Text und Regie: Hakan Savaş Mican
Musikalische Leitung: Jörg Gollasch
Bühne: Alissa Kolbusch
Kostüme: Sylvia Rieger
Video: Mikko Gaestel
Dramaturgie Irina Szodruch, Holger Kuhla
Mit: Emre Aksızoğlu, Anastasia Gubareva, Sema Poyraz, Taner Şahintürk, Falilou Seck und Sesede Terziyan sowie den Live-Musikern Lukas Fröhlich, Peer Neumann, Natalie Plöger und Lizzy Scharnofske
Premiere war am 28. August 2020.
Weitere Termine: 13., 29., 30.09.2020

Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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