Berlinale 2017

Berlinale-Fazit Der osteuropäische Film triumphiert im Wettbewerb. Interessante Beiträge zeigten auch die Nebenreihen Panorama und Forum

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ildikó Enyedi gewann mit Testről és lélekről/On Body and Soul den Goldenen Bären
Ildikó Enyedi gewann mit Testről és lélekről/On Body and Soul den Goldenen Bären

Foto: Trailer/Youtube

Das osteuropäische Kino triumphiert auf der 67. Berlinale. Das ist durchaus nichts Ungewöhnliches. Einen Goldenen Bären gab es auch schon 2013 für den Film Mutter und Sohn vom rumänischen Regisseur Călin Peter Netzer, oder 2015 einen geteilten Silbernen Regiebären für die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska (Body) und den rumänischen Regisseur Radu Jude (Aferim!). Aber in dieser Breite wie beim diesjährigen Wettbewerb der Berlinale ist die Präsenz guter Filme aus Osteuropa schon durchaus bemerkenswert. Und das liegt sicher nicht nur daran, dass bereits erprobte Berlinale-Regisseure und Regisseurinnen wie Thomas Arslan, Oren Moverman, Sally Potter, Sabu, Volker Schlöndorff oder Hong Sang-soo, der seine besseren Filme wohl lieber in Locarno zeigt, eher etwas schwächelten. Auch große Stars wie Kristin Scott Thomas, Bruno Ganz oder Richard Gere in den englischsprachigen Konversationsdramen The Party und The Dinner konnten nicht überzeugen.

*

On Body and Soul von Ildikó Enyedi und Ana, mon amour von Călin Peter Netzer im Wettbewerb

Dafür gelang es der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi mit ihrem Spielfilm Testről és lélekről / On Body and Soul das Publikum wie auch die Kritiker und Wettbewerbsjury gleichermaßen zu berühren. Es holt sich damit nach 8 Jahren wieder eine Frau und nach 42 Jahren eine Ungarin den Goldenen Bären ab. 1975 gelang das überraschend der Regisseurin Márta Mészáros mit ihren Film Die Adoption. So überraschend war das diesmal allerdings nicht. Der Film wurde von Beginn an als Mitfavorit bei den Kritikern gehandelt. Und das durchaus zurecht. Ist es doch auch ein Beleg für die Wirkung von einfühlsamen Beziehungsdramen in einer zunehmend von Schnelligkeit, Brutalität und Gefühlsarmut gezeichneten Welt. Dass hier zwei leicht gehandicapte Außenseiter - die dazu noch in einem von emotionsloser, mechanisierter Gewalt bestimmten Schlachthof arbeiten - zunächst nur in einem gemeinsamen, friedlichen Traum als Hirsch und Hirschkuh zusammenfinden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, was die Regisseurin auch mit Sinn für subtilen Humor inszeniert.

Nach der Entdeckung dieses vermeintlichen Zufalls bei einer psychologischen Untersuchung wegen eines Diebstahls von Bullenpulver im Schlachthof beginnen die spröde Qualitätsprüferin Mária (Alexandra Borbély) und der Wirtschaftsdirektor Endre (Géza Morcsányi) über ihre Gefühle nachzudenken. In den anfänglich noch etwas ungelenken Annäherungsversuchen zwischen der leicht autistischen jungen Frau, die ihre Berührungsängste bei andauernden Sitzungen mit einem Kinderpsychologen analysieren lässt, und dem älteren Mann mit gelähmten Arm, der glaubte, mit der Liebe eigentlich schon durch zu sein, spielt der Film die Themen Sehnsucht nach körperlicher Nähe und Seelenverwandtschaft auf durchaus witzige Weise durch, ohne die beiden Träumer der Peinlichkeit preiszugeben. Während Mária die Treffen mit Endre mittels Salz- und Pfefferstreuer nachspielt, versucht auch Endre seine eingeübte Zurückhaltung gegenüber anderen abzulegen. Die wenigen drastischen Szenen zeigen nur den bestehenden Kontrast zwischen Traum und Wirklichkeit.

Eingebetteter MedieninhaltAuch im rumänischen Wettbewerbsbeitrag Ana, mon amour spielen Träume in einer schwierige Liebesbeziehung eine wichtige Rolle. Damit legte sich die BERLINALE zum Ende nochmal auf die Couch. Es beginnt mit Nietzsches Jenseits von Gut und Böse und endete dementsprechend mit der Psychoanalyse nach Freud. Regisseur Călin Peter Netzer übt mit seinem neuen Film Kritik an den überkommenen Moralvorstellungen einer kranken Gesellschaft, die sich tief bis in die Psyche seiner Protagonisten eingegraben hat. Die junge Studentin Ana (Diana Cavalliotis) leidet seit ihrem 17. Lebensjahr an einer Angststörung und bekommt gleich beim ersten Treffen mit ihrem Kommilitonen Toma (Mircea Postelnicus) eine Panikattacke. Aber Toma steht ihr ab jetzt fürsorglich bei. Aus den beiden wird schnell ein Paar, dessen Beziehung der Film nun die nächsten sechs Jahre verfolgt und dabei immer wieder in den Zeitebenen hin und her springt.

Es ergibt sich dadurch ein vielschichtiges Psychogramm zweier Menschen, die aneinander hängen, sich dadurch aber immer mehr zu erdrücken drohen. Die Probleme Anas scheinen aus der schwierigen Kindheit mit dem Stiefvater Igor zu kommen. Missbrauchsahnungen schweben unausgesprochen in der Luft. In Tomas intellektuellem Elternhaus ist es nicht viel besser. Die Besuche des Paars enden in beiden Familien jeweils im Eklat mit Vorwürfen und Beschimpfungen. Dass in der Beziehung von Tomas Eltern auch etwas verdrängt wird, erfahren wir erst in den Einblendungen, in denen er Jahre später seine verkorkste Ehe mit Ana analysieren lässt.

Bis dahin macht das Liebespaar gute und schlechte Zeiten durch, die zunächst durch Anas Attacken, ihre Psychopharmaka-Abhängigkeit und eine ungewollte Schwangerschaft gekennzeichnet sind. Hier erweist sich Toma als guter Samariter, der allerdings auch zunehmend in Anas Leben eingreift. „Moral ist nur die Konsequenz von Angst.“ hatte Ana beim ersten Treffen der beiden gesagt. Dass sie diese These selbst tief verinnerlicht haben, beweisen ihre ständigen Versuche neben der Psychoanalyse auch in der orthodoxen Religion der Eltern nach Erlösung und Buße für begangene Sünden suchen.

Bis zum bitteren Ende durchlaufen die mittlerweile Verheirateten allerdings weiter ihren fast schicksalhaft vorbestimmten Leidensweg, der sicher bis in alle Ewigkeit andauern würde, begänne Ana sich nach ihrer Therapie nicht aus dem mittlerweile paranoiden Kontrollzwang Tomas zu lösen. Für den Schnitt dieses verschachtelten Liebesdramas bekam die Cutterin Dana Bunescu den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung.

*

The Other Side of Hope von Aki Kaurismäki im Wettbewerb

Nach seinem Goldenen Bären bei der Berlinale 2013 empfahl sich Călin Peter Netzer mit Ana, mon amour aber auch für den Silbernen Regiebären, den die Wettbewerbs-Jury allerdings dem finnischen Altmeister Aki Kaurismäki nach dessen angesagtem Rückzug vom Filmgeschäft für seine Flüchtlings-Tragikomödie The Other Side of Hope sozusagen als Ehrengabe überreichte. Auch diese Entscheidung kann man akzeptieren, setzt Kaurismäki mit seinem Film doch auch ein wichtiges Signal für mehr Solidarität und Menschlichkeit.

Der finnische Sonderling unter den europäischen Regisseuren ist seiner Ästhetik aus 50er Jahre Interieur, lakonisch sparsamen Dialogen, alkoholgeschwängerter Melancholie und Rockabilly-Sound seit Jahren fast schon stoisch treu geblieben. Mit The Other Side of Hope spinnt er konsequent seine Geschichten von den einsamen aber unverwüstlichen Unterdogs aus Wolken ziehen vorüber, Lichter der Vorstadt, Der Mann ohne Eigenschaften oder Le Havre weiter. Die zwei zunächst parallel verlaufenden Handlungen um den älteren Hemdenverkäufer Wikström (Sakari Kuosmanen), der mit dem Gewinn aus einer Pokerparty seinen Traum vom eigenen Restaurant verwirklichen will und den syrischen Flüchtling Khaled (Sherwan Haji), der als blinder Passagier auf einem Kohlefrachter in Helsinki ankommt und in die Mühlen einer emotionslosen Einwanderungsbürokratie gerät, führt Kaurismäki auf gewohnt kuriose Weise zusammen.

Auch in diesem Film wimmelt es von skurrilen Typen, die rauchen, trinken und melancholische Lieder singen. Dabei versucht jeder nur irgendwie über die Runden zu kommen. Da fügt sich Khaled mit seinem Traum vom Glück und der Hoffnung, seine auf der Flucht verlorene Schwester irgendwann wieder zu finden, nahtlos ein. Es entspinnt sich ein utopisches Gesellschaftsmärchen von der Macht des Zusammenhalts kleiner Leute, die trotz eigener Probleme und gut gepflegter Eigenheiten ihren sympathischen Sinn für Gerechtigkeit auch jenseits von Legalität und staatlicher Autorität noch nicht ganz verloren haben. Dass das kaum der Realität entsprechen dürfte, aber immer auch denkbar bleibt, entspricht der einfachen und trotzdem wirkmächtigen Philosophie von Kaurismäkis Filmen.

*

Insyriated von Philippe Van Leeuw und Inflame von Ceylan Özgün Özçelik im Panorama sowie My Happy Family von Nana & Simon im Forum

Die Berlinale bleibt das Festival der kleineren Produktionen auch in den Nebensektionen Forum und Panorama. Dort wurde zumindest der politische Anspruch des Internationalen Berliner Filmfestivals eingelöst. Und so kann es auch nur verwundern, dass der Gewinner des Panorama-Publikumspreises Insyriated von Philippe Van Leeuw, oder der äußerst ambitionierte türkische Spielfilm Kaygı / Inflame von Ceylan Özgün Özçelik nicht im Wettbewerb liefen. Während sich die Berlinale-Verantwortlichen auf der Abschlussfeier demonstrativ mit dem in der Türkei inhaftierten Journalisten und Welt-Korrespondenten Deniz Yücel solidarisierten, schob man den einzigen türkischen Filmbeitrag, der noch dazu von Zensur und Einschränkung der Pressefreiheit handelt, in die Nebenreihe Panorama Special ab.

Der im Libanon gedrehte Spielfilm Insyriated zeigt eine syrische Familie, bestehend aus Mutter, Kindern, Großvater, philippinischer Haushälterin und einem Paar mit Baby, die in einer Wohnung im umkämpften Damaskus festsitzen, in ständiger Bedrohung durch Bomben, Scharfschützen und marodierende Einbrecherbanden, die nach Wertsachen in den verlassenen Wohnungen suchen. Der belgische Regisseur Philippe Van Leeuw lässt die Zuschauer dieses klaustrophobischen Kammerspiels ziemlich unmittelbar am Alltag im Ausnahmezustand teilhaben. Die Entscheidung zu gehen oder zu bleiben, kann zu einer unmittelbaren Entscheidung über Leben und Tod werden. Der fast gefühllos erscheinende Pragmatismus der Mutter (dargestellt von der aus den Berlinale-Filmen Paradise Now und Lemon Tree bekannten israelisch-arabischen Schauspielerin Hiam Abbass) dient dabei allein dem Überleben der Familie während der Abwesenheit des Vaters.

Ähnlich düster und beklemmend ist auch der türkische Spielfilm Kaygı, der zunächst einer jungen Cutterin bei ihrem Arbeitsalltag in einem Fernsehsender in Ankara folgt. Hasret (Algı Eke) muss erleben, wie Inhalte von Nachrichten und Interviews auf Anweisung der Senderverantwortlichen manipuliert werden. Auch die Benutzung sozialer Netzwerke auf den Firmencomputern wird untersagt und die politisch interessierte und ihre Meinung engagiert vertretende Hasret verliert schließlich ihren Job. In der großen Wohnung, in der sie nach dem Tod der Eltern allein lebt, beginnt sie nun, deren 20 Jahre zurückliegenden Unfall auf dem Weg zu einem Musikfestival in Anatolien neu zu untersuchen. Auch hier scheint die Wahrheit verfälscht worden zu sein. In einer zunehmenden Paranoia vermischen sich immer mehr fremde Stimmen mit hochkommenden Erinnerungssplittern im Kopf der jungen Frau.

*

Auch im Forum der jungen internationalen Films gab es einen Beitrag aus dem erweiterten osteuropäischen Raum, der im Wettbewerb durchaus hätte bestehen können. Nana Ekvtimishvili und Simon Groß waren bereits 2013 mit ihrem ersten gemeinsamen Spielfilm Grzeli nateli dgeebi / In Bloom zu Gast im Forum. Damals portraitierte das georgisch-deutsche Regiepaar zwei 14jährige Mädchen im postsowjetischen Georgien zwischen patriarchaler Tradition und Moderne. In der deutsch-georgisch-französischen Koproduktion Chemi bednieri ojakhi / My Happy Family beschäftigen sich Nana & Simon nun mit der Müttergeneration.

Die 52jährige Lehrerin Manana (Ia Shugliashvili) lebt mit ihrem Mann, Sohn und Tochter, die ebenfalls verheiratet ist, und ihren Eltern zusammen in einer Wohnung in Tiflis. Ein Dreigenerationenhaushalt, wie er in Georgien nicht unüblich ist. Es wird früh geheiratet. Das Glück der Frauen ist es, Kinder zu kriegen und sich allseits für die Familie aufzuopfern. An ihrem Geburtstag, der wie immer groß gefeierte werden muss, eröffnet die erschöpfte Manana der versammelten Großfamilie, dass sie eine kleine Wohnung gemietet hat und ausziehen wird. Daraufhin beruft der erweiterte Verwandtenkreis den großen Familienrat ein. Mutter, Bruder, Ehemann, Tanten und Onkel reden der Abtrünnigen unablässig ins Gewissen und in deren neues Leben hinein. Es steht das Ansehen der Familie auf dem Spiel. Davon bekommt die Großmutter Schnappatmung und Mananas Bruder sorgt sich um die Ehre seiner Schwester.

Natürlich haben auch die Kinder ihre ersten Liebesprobleme, was die Mutter immer wieder in den Kreis der Familie zurücktreibt. Ansonsten genießt Manana die Ruhe, trifft alte Schulfreunde und beginnt sich wieder um ihre eigenen Interessen zu kümmern, wie etwa dem Gitarrenspiel. Die Kamera wechselt beständig zwischen Großszenen, in denen geredet, getrunken und auch viel gesungen wird, und den ruhigen Bildern in Mananas neuem Refugium. Nana & Simon bringen der Frau auf Suche nach sich selbst viel Verständnis entgegen und lassen ihr jede Zeit zum Nachdenken. Ob sich die angeknackste Beziehung zu ihrem Ehmann Soso (Merab Ninidze) wieder kitten lässt der Film offen. My Happy Family zeigt neben einem eindrücklichen Gesellschaftsbild auch weiteres interessantes Frauenportrait, das ebenso gut auch den Wettbewerb hätte bereichern können.

Testről és lélekről / On Body and Soul
von Ildikó Enyedi
Ungarn 2017
Wettbewerb

Ana, mon amour
von Călin Peter Netzer
Rumänien / Deutschland / Frankreich 2016
Wettbewerb

The Other Side of Hope
von Aki Kaurismäki
Finnland / Deutschland 2017
Wettbewerb
Kinostart: 30. März 2017

Insyriated
von Philippe Van Leeuw
Belgien / Frankreich / Libanon 2017
Panorama

Kaygı / Inflame
von Ceylan Özgün Özçelik
Türkei 2017
Panorama Special

Chemi bednieri ojakhi / My Happy Family
von Nana & Simon
Deutschland / Georgien / Frankreich 2017
Forum

Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinale.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden