BRODSKY/BARYSHNIKOV

Theater, Performance Alvis Hermanis und Mikhail Baryshnikov feiern im La Fenice eine erhabene Totenmesse für den russischen Exildichter, Nobelpreisträger und Venedigliebhaber Joseph Brodsky

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Venedig im Winter ist die Zeit, in der Joseph Brodsky (1940-1996) die Lagunenstadt am liebsten besuchte. In Fondamenta degli Incurabili (dt.: Ufer der Verlorenen) hat Brodsky sie beschrieben, wie sie sich ihm da im dichten Nebel offenbarte. Für Liebhaber der Serenissima und moribunder Dichtung, zu der man die Gedichte Brodskys (die neben Römischen Elegien und einem Dezember im Florenz auch ein paar Venezianische Strophen zu bieten haben) zählen kann, ist das ein unbedingtes Muss. Dem 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgerte Dichter, Essayisten und Nobelpreisträger kann man nach wie vor in Venedig begegnen. An der Fondamente Zattere Allo Spirito Santo am Giudecca-Kanal erinnert eine Gedenktafel an ihn. Begraben ist Brodsky auf der kleinen Friedhofsinsel San Michele.

Nun heißt „incurabili“ - wie der alte Lateiner vielleicht weiß - zu deutsch „unheilbar“. Unheilbar verliebt dürfte also auch Joseph Brodsky in Venedig gewesen sein, das ihn seit seiner ersten Ankunft im Winter 1972 nicht mehr losgelassen hat. Nicht losgelassen haben dürften die Gedichte Brodskys auch seinen Landsmann und ehemaligem Balletttänzer Mikhail Baryshnikov, der dem Dichter 1974 zum ersten Mal begegnete. Der lettische Theaterregisseur Alvis Hermanis hatte ihn daher im Jahr 2015 gebeten, an einer Hommage für Joseph Brodsky mitzuarbeiten. Seitdem tourt das Projekt unter dem Titel BRODSKY/BARYSHNIKOV durch Amerika und Europa und ist nun endlich auch im heißen Juli 2018 auf einer Italientournee in der Stadt Venedig angekommen, wo es im legendären Opernhaus La Fenice aufgeführt wurde.

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Sommerlich heiß ist es in der Lagunenstadt, von Nebel kann keine Rede sein, auch nicht von einem Geruch nach gefrierendem Seetang, der Brodsky hier bei seiner Ankunft so beglückte. Das einzige, was in Venedig momentan kalt ist, ist das Eis im obligatorischen Aperol Spritz, den die Touristen hektoliterweise trinken und der daher an jeder Ecke angeboten wird. Venedig hat sich trotz Hitze fein gemacht, das russischsprachige Publikum überwiegt. Zahlungskräftige Heimatverbundenheit füllt selbst für eine auf nur 90 Minuten angesetzte Veranstaltung das altehrwürdige Opernhaus, das sonst eigentlich eher für Komponisten wie Verdi, Mozart oder Rossini bekannt ist.

Nun also Brodsky und Baryshnikov. Der eine ein Virtuose der Worte, der andere ein virtuoser Bewegungskünstler. Dass er auch rezitieren kann, beweist der einstige Hochleistungstänzer par excellence. Zunächst herrscht aber Stille im kleinen, verglasten Wintergarten, der sich fast verliert auf der großen Opernbühne. Nicht einmal das sonst in Italien so verbreitete Singen der Zikaden, selbst wenn es hier gut passen würde, ist zu hören. Baryshnikow erscheint mit Koffer und packt Wecker, Buch und Wodkaflasche aus. Liest still und macht sich schließlich frei für Brodskys Lyrik.

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Und da ist viel von Schatten, Traurigkeit, Verlust, von Tod und Grab zu hören. Baryshnikow spricht zunächst leise, immer wieder inne haltend und schließlich erschreckend vor einer Stimme, die von einem Tonband auf der Bühne kommt. Brodsky selbst als Wiedergabe aus dem Totenreich. Das gibt dem Abend etwas von einer Art poetischen Séance. Baryshnikow als Medium für Brodskys Poesie. Leicht verträumt beginnt er schließlich auch den Körper einzusetzen. Leise, kaum wahrnehmbar erklingt im Hintergrund eine russische Melodie. Dazu zucken in Abständen wie Blitze elektrische Entladungen aus dem maroden Stromkasten an der Wintergartenfassade. Ein Schauspiel, das dem Text Bedeutung beimessen soll und doch nur schlichte Bebilderung ist.

Viel mehr ist Regisseur Hermanis dazu nicht eingefallen. Baryshnikow als flatterndes und rezitierendes Insekt, das sich im Licht verbrennt. Der Lyrik Brodskys, die sich hier über 90 Minuten über die Zuhörer ergießt, kann das nicht wirklich neue Facetten hinzufügen. Baryshnikow putzt Scheiben oder schmiert sie mit weißer Farbe wieder zu. Selbst ein Clown im zertrümmerten Zirkus malt er sich schließlich auch weiß an. Stuhlpirouetten und angedeutete Ballettposen haben kaum einen Bezug zur düsteren Poesie Brodskys. Nature morte im Licht von Videoprojektionen und Das Portrait der Tragödie als fades „Abra Kadabra“ einer Soloshow. „Was ist ein Mensch?“ Was kann uns Brodskys Lyrik heute noch sagen? Dafür interessiert sich diese Messe für einen toten Dichter kaum.

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Zuerst erschienen am 20.07.2018 auf Kultura-Extra.

BRODSKY/BARYSHNIKOV (Teatro La Fenice, 15.07.2018)
Regie: Alvis Hermanis
Performer: Mikhail Baryshnikov
Ausstattung: Kristīne Jurjāne
Licht: Gleb Filshtinsky und Lauris Johansons
Ton: Oļegs Novikovs
Video: Ineta Sipunova
Uraufführung im Jaunais Rīgas teātris: 15. Oktober 2015
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

Infos: http://www.teatrolafenice.it/

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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