BUCH. Berlin (5 ingredientes de la vida)

Theater Tilman Köhler inszeniert an den DT-Kammerspielen Fritz Katers Stück als szenisches Panorama des modernen Menschen

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Um fünf Ingredienzien des Lebens soll es im Stück BUCH. Berlin gehen. Dazu gehören nach der Szenenabfolge des Autors Fritz Kater Utopie, Phantasie, Liebe und Tod, Instinkt und Sorge. „wie leben wir und warum?“ - ein Panorama des modernen Menschen in fünf Bildern, das von den 60er Jahren bis in die Gegenwart reicht und sich um Geburt, Kindheit, Erwachsenendasein und Tod dreht.

An den Münchner Kammerspielen hat es der Regisseur Armin Petras (dessen schreibendes Alter-Ego Fritz Kater ist) im April letzten Jahres selbst uraufgeführt. Damals noch nur BUCH genannt, bringt es der ehemalige Hausregisseur des Dresdner Staatsschauspiels, Tilmann Köhler, nun als Berliner Fassung auf die Bühne der Kammerspiele im Deutschen Theater. Buch bedeutet hier nämlich nicht nur das literarische Werk (Kater nimmt immer wieder Bezug auf Die Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, auf Jorge Luis Borges oder Samuel Beckett) sondern auch das Krankenhaus Berlin-Buch, in dem 1984 ein 50-jähriger, alkoholkranker Wissenschaftler über sein vergangenes Leben und insbesondere die Jugendzeit sinniert. Ähnlich wie Becketts Krapp spricht er seine Erinnerungen auf Tonband, erlebt nochmal die Jugend in den Sachen des Sohnes, im Wissen selbst gescheitert zu sein. „wo war der, der ich hatte werden wollen? und wer war das? ich hatte ihn lange nicht gesehen.“

Eingebetteter Medieninhalt Von Hoffnung bis Ernüchterung, Frust bis hin zu Wut, großer Melancholie und Angst gibt es hier alle Zutaten, die echtes Leben ausmachen. Es beginnt 1966 mit einem Futurologen-Kongress in Arizona oder München (Kater gibt für seine Spielorte immer auch globale Alternativen an). Eine Gruppe von Wissenschaftlern spricht über die Zukunft und malt diese in den fortschrittlichsten Utopien aus. Schon hier lässt Autor Kater die philosophischen und technischen Höhenflüge durch mit Maschinenpistolen bewaffnete Bunny-Girls zerstören. Tilman Köhler lässt die Stimmen aus dem Off einspielen, während Jörg Pose als stummer Conférencier im Glitzerfrack mit Zylinder über die Bühnenschräge tänzelt. Die MPi-Bunnys sind gestrichen, dafür gibt‘s andere Häschen und grüne Marsmännchen.

Humor spielt auch in der zweiten Szene, die mit phantasie überschrieben ist, eine große Rolle. In einem weißen Styroporbühnenbild aus den russischen Großbuchstaben зимA (SIMA) für Winter turnen Christoph Franken, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer und Linn Reusse als Berliner Gören herum und warten auf die S-Bahn nach Buch, wo sie den Vater im Krankenhaus besuchen wollen, während die Mutter vermutlich nach dem Westen abgehauen ist. Die Welt der Erwachsenen in den Reflexionen und Worten der lieben Kleinen. Bis auf die Tatsache, dass Köhler hier die Kinderzahl des Originals verdoppelt, bleibt die Erkenntnis - bis auf die, des Beckett‘schen Wartens auf etwas, das nicht kommt - in dieser Spielszene allerdings relativ gering.

Etwas größer sind die Kinder und die Erkenntnisse dann in der dritten Szene, die wie eingangs erwähnt in den 1980er Jahren beim Alkoholiker-Vater in Buch spielt, sowie die Jugendlichen bei der ersten Liebe, in der Disco und am sommerlichen See zeigen. Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Jörg Pose und Linn Reusse spielen das als Live-Konzert. Eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Liebe und Tod, Rock und Blues mit Songs wie "House of the rising Sun" von The Animals, "She's lost Control" von Joy Division und "Hard to Concentrate" von den Red Hot Chili Peppers. Ein Zugriff, der sich über den Text ziemlich gut erschließt. Jörg Pose glänzt dann noch als emotionales Wrack und gescheiterter Wissenschaftler, der einst die Lebensformel schon in Händen hielt und nun nur noch als verwischtes Action-Painting an die Wand pinselt, während die Jugend ihm gelangweilt ins Wort fällt.

Nach der Pause wird dann wieder relativ konventionelles Theater gegeben. In jeweils zwei Paarkonstellationen lässt Köhler die restlichen beiden Szenen spielen. In instinkt berichtet eine junge, schwangere Elfentenkuh (Linn Reusse) von den Massakern der Menschen und sucht zusammen mit einem jungen Bullen nach einem sogenannten „stillen land“. Utopie und Ideologie in einer Tierparabel, die hier etwas hilflos auf der Bühne zerstampft wird. Hochemotional wird es dann noch mal in der letzten Szene sorge, in der Wiebke Mollenhauer im weißen Brautkleid und Schauspielgast Matthias Reichwald aus Dresden ein Paar im Heute geben, das über der Sorge um ihr krankes Kind und den verschiedenen Ansichten zur persönlichen Lebensplanung und Künstlerkarriere zerbricht.

Man muss hier nachträglich eine kleine Lanze für das von den Kritikern nach der Premiere arg zu Unrecht gescholtene Stück brechen. Kater schließt hier fast nahtlos an seine in ebenso losen Szenefolgen gehaltenen Utopie- und Geschichtsdramen we are blood (2010) und demenz depression und revolution (2013) an. Selbst die besonders im ersten Teil etwas zu naiv bunt bebildernde Inszenierung von Tilmann Köhler ist so schlecht nicht. Auch wenn man sich vielleicht gewünscht hätte, dass der Regisseur hier und da doch noch stärker zupackend mit dem Stoff umgegangen wäre. Ein Abend, der sich aber trotz einiger kleiner Schwächen dennoch durchaus zu sehen lohnt.

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Zuerst erschienen am 08.10.2016 auf Kultura-Extra.

BUCH. Berlin (5 ingredientes de la vida) - DT-Kammerspiele, 06.10.2016
von Fritz Kater
Regie: Tilmann Köhler
Bühne: Nicole Timm
Kostüme: Susanne Uhl
Musik: Jörg-Martin Wagner
Licht: Thomas Langguth
Dramaturgie: Sonja Anders
Mit: Christoph Franken, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Jörg Pose, Matthias Reichwald, Linn Reusse
Premiere war am 24.09.2016 in den DT-Kammerspielen

Termine: 12., 21.10. / 09., 22.11.2016

Infos: https://www.deutschestheater.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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