Decamerone

Theater Liebes- und Fitness-Wahn in Kirill Serebrennikovs viel zu blass geratener Inszenierung nach Motiven von Giovanni Boccaccios Novellensammlung am Deutschen Theater

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Nun endlich konnte sie über die Bühne gehen, die seit langem geplante und wegen des Hausarrests des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov immer wieder verschobene Inszenierung des Decamerone nach Motiven von Giovanni Boccaccio. Die Proben mussten in Moskau stattfinden, da Serebrennikov wegen eines noch anhängenden Prozesses weiterhin nicht ausreisen kann. Politisches Kalkül der russischen Staatsmacht zur Verhinderung der Arbeit eines unliebsamen Künstlers. Ein Grenzgang der Kunst, der zwei Ensembles zusammenführte. Am diesjährigen Frauentag feierte die Koproduktion des Deutschen Theaters mit dem Gogol-Center Moskau ihre Premiere in Berlin.

Sie zelebriert die Liebe in Zeiten von Körperkult, Social Media und nicht zuletzt ganz aktuell der Bedrohung durch den Corona-Virus. Das Letztere ist dann aber nicht das, worum es dem Regisseur eigentlich geht. Die Figuren sind hier nicht eingesperrt in einer freiwilligen Quarantäne auf der Flucht vor einem Pestbazillus oder neuartigem Virus, sondern in einem Fitnessstudio, wo unter Anleitung von DT-Schauspielerin Almut Zilcher vier ältere Damen der Statisterie gymnastische Übungen für Bauch, Beine, Po machen, während sie sich die Hälse nach einem jungen Sportsmann im Muskel-Shirt verdrehen. Als Anfangspointe ist das sehr schön, auch, dass die Damen dann zum Ende hin aus ihrem früheren Liebesleben plaudern. So bekommt das Ganze einen netten Rahmen. Nur das, was sich dazwischen als Szenefolge von zehn Erzählungen aus dem großen Konvolut des Decamerone auf die Bühne des Deutschen Theaters destilliert, ist doch zumindest vor der Pause in Teilen recht banal.

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Es geht um freiwillige Enthaltsamkeit des Mannes zur Erreichung des Status eines Heiligen und unfreiwilliges Zölibat infolge davon bei der Angetrauten, also starkes Begehren, schlaue Abhilfe, Treue und Verrat, aber auch seelische und körperliche Grausamkeit. Kurz alles, was sich zu Liebes- und Leibesleid sowie Lust und Sinnesfreuden erzählen lässt. Die zehn von ihm aus dem Decamerone ausgewählten Episoden hat Kirill Serebrennikov mit eigenen Texten überschrieben, die Geschichten so mit mehr oder weniger Glück in die Gegenwart geholt. Der Versuch ehrt, allein das Szenen-Karussell, einem Schnitzler‘schen Reigen nicht unähnlich, zieht sich doch arg in Länge.

Es beginnt im Winter mit einer unerhörten Liebe im Chat und wird auch wieder dort enden. Über die vier Jahreszeiten ziehen sich die einzelnen Episoden dahin, begleitet von einem Live-Musik-Trio und der Diseuse Georgette Dee, die zwischendurch anmutig Vertontes von Else Lasker-Schüler, Hilde Domin, Rainer Maria Rilke und Thomas Brasch singt. Das lüsterne Weib, der betrogene Mann bleiben auch in der Überschreibung meist das Thema der Geschichten, auch wenn der Regisseur zumindest die angestaubten Paarkonstellationen durch einzelne Geschlechterwechsel aufzufrischen versucht, was nicht immer gelingt. Dass eine widerspenstige Frau durch den Anblick eines speerschwingenden Samurais (für den Ritter aus dem Decamerone), der immer wieder eine nackte Frau aufspießt, zur Ehe überredet werden kann, erscheint doch heute nicht nur etwas zu märchenhaft. Nach der Pause driftet der Spaß allerdings mit viel Herz- und Kunstblut immer weiter ins Melancholische ab.

Die Texte der russischen SchauspielerInnen werden als zusätzliches visuelles Gestaltungsmittel auf einer Videowand mit großen Leuchtbuchstaben ins Deutsche übersetzt. Vor allem Regine Zimmermann vom DT-Ensemble oder Filipp Avdeev und Yang Ge vom Moskauer Gogol-Center glänzen in ihren kleinen Miniaturen ein ums andere Mal. Der Glanz überträgt sich aber nicht aufs große Ganze, das Stückwerk und enttäuschend blass bleibt. Der Schwermut und dem Herzeleid der russischen Seele angepasst dichtet Serebrennikow eine düstere Ballade (ebenfalls nach einer Episode aus dem Decamerone) vom Wolf in allen Jahreszeiten (Altern) und einer liebeshungrigen untreuen Frau, die Georgette Dee bedeutungsschwanger vorträgt. Ganz am Ende steht noch eine Art Ode des Regisseurs an die verflossene Geliebte, die Marcel Kohler in der Yoga-Totenstellung Shavasana aufsagt, und die Weisheit, dass die Leute trotz allem wohl nicht aufhören werden zu lieben. Das ist dann leider schon fast alles, was man über diese dem de facto andauernden Hausarrest und der unfreiwilligen Quarantäne Serebrennikows in Moskau abgetrotzte Inszenierung sagen kann, wäre da nicht die Gewissheit, dass das Ende immer auch ein Anfang ist.

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Zuerst erschienen am 10.03.2020 auf Kultura-Extra.

DECAMERONE (Deutsches Theater Berlin, 09.03.2020)
Regie / Bühne: Kirill Serebrennikov
Choreografie: Evgeny Kulagin
Kostüme: Tatyana Dolmatovskaya
Komposition / Musikalische Leitung: Daniel Freitag
Video: Ilya Shagalov
Licht: Robert Grauel und Sergey Kucher
Dramaturgie: Birgit Lengers
Mit: Filipp Avdeev, Georgette Dee, Yang Ge, Oleg Gushchin, Marcel Kohler, Georgiy Kudrenko, Jeremy Mockridge, Aleksandra Revenko, Almut Zilcher und Regine Zimmermann
sowie den MusikerInnen Daniel Freitag, Isabelle Klemt und Maria Schneider als auch den
Berliner Statistinnen Ursula Bischoff, Danuta Bodnar-Lazarowa, Bettina Haeseke, Monika Peters, Elfriede Poschodajew, Rose Marie Saalfeld Fecycz, Christel Waschke und Sophie Westphal
Premiere am DT Berlin: 8. März 2020
Weitere Termine: offen
Koproduktion mit dem Gogol-Center Moskau

Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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