Die Orestie

Premierenkritik An der Berliner Volksbühne verschneidet Thorleifur Örn Arnarsson die Atriden-Trilogie von Aischylos mit Albees Ehehölle und Coronawitzen bis alles im Chaos untergeht

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Gut sichtbar angebrachte, selbstleuchtende Fluchtwegzeichen erfüllen einen lebensrettenden Zweck in Veranstaltungsstätten. Im abgedunkelten Theatersälen sichern sie einem übrigens nicht nur im Brandfall die Flucht. Den Ausweg bzw. Ausgang aus einem etwas zu ernst genommenen Spiel auf der Bühne nicht zu finden, kann allerdings auch zu einer beklagenswerten Sinnkrise führen. So gesehen gestern in der Premiere der Orestie in der Volksbühne bei Schauspieler Sebastian Grünewald, der als Orest in der Inszenierung von Schauspieldirektor Thorleifur Örn Arnarsson verzweifelt „Wie kommt man denn hier raus?“ ruft. Man möchte den gerade aus einer furchtbaren Ehehölle à la Wer hat Angst vor Virginia Woolf Entkommenen am liebsten hilfreich an den Händen nehmen und behutsam von der Bühne herunter- und hinausgeleiten, was sich aber leider wegen der bekannten Corona-Beschränkungen verbietet. So muss der nach der Tragödie des Aischylos von den rachedurstigen Eumeniden Verfolgte noch ein wenig weiter um Vergebung für den von ihm begangenen Mord an der Mutter Klytaimnestra barmen, bevor er von der Göttin Athene freigesprochen, endlich gehen kann.

Zuvor musste das Premierenpublikum in der Volksbühne allerdings noch durch eine ganz andere Hölle gehen, an deren Beginn jene Szenen aus dem Albee-Kultstück stehen. Sólveig Arnarsdóttir und Sebastian Grünewald geben das kampfeslustige Paar Martha und George unter Strom und jeder Menge Alkohol, das sich hier bis aufs buchstäbliche Blut zerfleischt und nicht mehr damit aufhören kann. Immer wieder beginnt der Streit in einem Wohnzimmer, das aus dem Bühnenboden auftaucht und dann irgendwann wieder runterfährt. Über Livekamera wird das nicht enden wollende Gemetzel mit viel Farbe und Kunstblut auf zwei seitlich angebrachte Monitore weiter übertragen.

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Auf der Drehbühne steht noch eine Art Amphitheater mit Plastikbestuhlung (von Ann-Christine Müller). Der Eiserne Vorhang hebt und senkt sich immer wieder. Dazu spielen Volksbühnen-Urgestein Sir Henry und Gast Hubert Wild Pianomelodien aus der Welt des Pops, bis Sarah Franke beginnt die Bühne mit weißem Tapeband abzukleben. Sie hält einen Vortrag als Hygienebeauftragte des Teams zu Abständen und den durch die Coronakrise ins Stocken geratenen Probenarbeiten. Regisseur Arnarsson hätte sich im Lockdown (ein in der Theaterbranche langsam etwas inflationär benutzter Begriff) nach Island verzogen, und das Team wäre ihm dahin nachgereist. Alles, was man schon immer über Theaterschaffende in der Krise erfahren wollte, samt Schrei- und Spuckorgie.

Die Orestie wird dann auch noch gespielt. In etwas zusammenhangslosen Teilen jedenfalls. Wer der Geschichte um den Atridenfluch und der Vor- und Nachwirkungen der Schlacht um Troja nicht ganz mächtig ist, dürfte allerdings ins Schleudern kommen. Genau wie das immerhin 12köpfige Ensemble auf der Bühne, wo sich zumindest ein paar der Figuren zu erkennen geben. Sarah Franke gibt hier so etwas wie den Chor im Clownskostüm, später ist sie dann auch noch die erlösende Athene. Noch am deutlichsten agiert Johanna Bantzer als Königin Klytaimnestra, deren Gatte Agamemnon (Daniel Nerlich) aus dem Trojanischen Krieg zurückgekehrt ein Stück Kennenlernen für Super-Machos zum Besten gibt („Ich liebe starke Frauen.“) und sich danach auszieht. Katja Gaudard gibt noch etwas verhuscht die Seherin Kassandra mit Doppelgesicht. Ansonsten bleibt die Spielidee ziemlich vage.

Im Vordergrund sollen schon die Frauen stehen, die sonst in den Stücken eher hinter den Männern verschwinden. Eine ähnliche Idee hatte schon Lucia Bihler mit ihrem Frauen-Ensemble zur Iphigenie, die im Atridengeschlecht bekanntlich auch eine tragende Opferrolle spielt und hier von der sichtlich schwangeren Sylvana Seddig gespielt, ein Ei gebiert und es aufisst. Das Ei der Weisen hat Regisseur Arnarsson mit seinem Verschnitt der Tragödien-Trilogie mit Albees Ehehölle sicher nicht gefunden. Zumal das ganze mehr zu einem Stück über häusliche Gewalt zusammenschnurrt. Da helfen auch nicht die der Übersetzung von Peter Stein entliehenen Textbrocken von Aischylos über die schicksalhafte Verstrickung im Kreislauf der Gewalt: „Das ganze Geschlecht zahlt für die Sünden der Väter.“ „Mord um Mord, Schuld um Schuld.“ Große Sätze, die Behauptung bleiben.

Zum „Tag der Gerechtigkeit“ von Klytaimnestra geht mit großem musikalischen Getöse, viel Halli Galli und Bühnengedrehe so ziemlich alles unter. Die Geburt der Demokratie aus dem Chaos der Tragödie erfolgt dann vor müde abhängendem Zombihaufen. Sarah Maria Sander spielt irgendwann mal ein wenig Chopin und singt „Mir fehlen die Worte“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Zuerts erschienen am 02.20.2020 auf Kultura-Extra.

DIE ORESTIE (Volksbühne Berlin, 01.10.2020)
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson
Bühne: Ann-Christine Müller
Kostüme: Mona Ulrich
Musik: Gabriel Cazes
Director of Photography: Voxi Bärenklau
Künstlerische Mitarbeit: Egill Sæbjörnsson
Sounddesign: Salka Valsdóttir
Licht: Kevin Sock
Live-Kamera: Miriam Kolesnyk und Nicolas Keil
Dramaturgie: Ulf Frötzschner
Mit: Sólveig Arnarsdóttir, Johanna Bantzer, Gabriel Cazes, Sarah Franke, Katja Gaudard, Sebastian Grünewald, Jan Jordan, Daniel Nerlich, Sarah Maria Sander, Sylvana Seddig, Sir Henry und Hubert Wild
Premiere war am 1. Oktober 2020.
Weitere Termine: 03., 24., 25.10.2020

Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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