Die Verlorenen

Theater Nora Schlocker inszeniert am Münchner Residenztheater die Uraufführung von Ewald Palmetshofers Stück über einsame Seelen in einer sich vertierenden Welt

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Auf aseptischer weißer Kastenbühne gleiten die Szenen ineinander über
Auf aseptischer weißer Kastenbühne gleiten die Szenen ineinander über

Foto: Birgit Hupfeld

Das Bayerische Staatsschauspiel hat einen neuen Intendanten. Andreas Beck, aus Basel kommend, übernimmt den Posten von Martin Kušej, der seinerseits seit dieser Spielzeit die Intendanz des Wiener Burgtheaters inne hat. Eröffnet wurde die Saison im Residenztheater München (einem der drei Häuser des Bayerischen Staatsschauspiels) mit einem neuen Stück des österreichischen Dramatikers Ewald Palmetshofer, Weggefährte von Beck seit dessen Tagen am Wiener Schauspielhaus. Die Verlorenen ist einerseits ein typischer Palmetshofer mit dessen bildgewaltiger Kunstsprache, andererseits auch ein Versuch, sich dem Mainstream der aktuellen Gegenwartsdramatik anzunähern. Was aber nicht unbedingt schlecht sein muss. Die Uraufführungsinszenierung übernahm Regisseurin Nora Schlocker, die bereits als Hausregisseurin am Theater Basel zwei Palmetshofertexte auf die Bühne gebracht hat.


Es beginnt mit einer kollektiven Eröffnung und Befragung von der Bühne ins Dunkle des Theatersaales. „hallo? hört uns jemand? ... ist da wer?“ Doch „kein drüben, draußen, droben, jenseits nicht“ und „die rettung / antwort / kommt / von oben / nicht“ heißt es resigniert in Palmetshofers rhythmisch-melodiösem Stücktext. Seine Figuren sind also alle mehr oder weniger Verlorene. Doch nur die Hauptperson Clara (Myriam Schröder) trägt als einzige auch diesen Beinahmen. Sie ist Mutter eines 13-jährigen Sohnes, der sie hasst und bei seinem, von Clara getrennt lebenden Vater (Florian von Manteuffel) und dessen neuer Frau (Pia Händler) wohnt. Clara braucht eine Auszeit und zieht sich in das alte Haus ihrer verstorbenen Großmutter auf dem Land zurück, wo sie allerdings auf ebenso einsame Herzen mit Problemen trifft. Der Mensch, Krönung der Schöpfung, ist im Begriff sich zum Tier zurück zu entwickeln. So die teils philosophisch vorgetragene These Palmetshofers, festgemacht an der Geschichte des alten Wolfs (Steffen Höd) von einer ihn angreifenden Hirschkuh, die der Nachts schlaflos Umherfahrende seinen Saufkumpanen im Dorftankstellen-Bistro, geführt von der harten Frau mit dem krummen Rücken (Nicola Kirsch), erzählt.

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Palmetshofers Stück verhandelt aber im weitesten Sinne schon zwischenmenschliche Probleme, angefangen bei den Eltern Claras (Sibylle Canonica, Arnulf Schuhmacher), deren Mutter sich mit ihrer Schwester (Ulrike Willenbacher) zerstritten hat. Sie reden nicht mehr miteinander. Ein Zustand der sich durch die Generationen zieht bis zu Claras Sohn Florentin (Carlo Schmidt/Francesco Wenz), den so etwas wie Wohlstandsverwahrlosung zur Erniedrigung eines Mitschülers per im Internet verbreitetem Video antreibt. Clara gerät aus ihrer Problemwelt in die der Dorfgemeinschaft und findet im von seinen Eltern hinausgeworfenen Kevin (Johannes Nussbaum) eine Art Geistesverwandten. Der junge Mann hat sich im Haus von Claras Großmutter eingenistet, was für ein paar humorvolle Verwicklungen sorgt. Beim Abtanzen in der Dorfdisco, die sich vom früheren „Hasenstall“ zum Club „Experience“ entwickelt hat, macht Clara ihre Erfahrungen mit der männlichen Dorfbevölkerung (Max Mayer als kryptischer Mann mit der Trichterbrust) und nimmt schließlich Kevin mit heim, bis die ganze Familie zum dramatischen Finale in Claras selbstgewähltes Exil platzt.

Jeder hat hier so sein Säckchen zu tragen, ist seines Unglücks eigener Schmied, was auf aseptisch weißer Kastenbühne (Irina Schicketanz), auf deren kippbarer Rückwand ein hölzernes Kreuz prangt, verhandelt wird. Die Szenen gleiten ineinander über, wie von Palmetshofer auch vorgesehen. Machmal finden sich die somnambul schlaflosen, in ihre Gedanken versunkenen Menschen auf der Bühne zusammen, was wie eine chorische Litanei wirkt, hat sich Palmetshofer doch auch von Gebets- und Messbüchern inspirieren lassen. Die sparsame Inszenierung und Lichtregie lässt den mit 2:40 h und einer Pause recht langen Abend nie so recht in Fahrt kommen. „man kann / den Menschen sich / durch einen anderen Menschen / zuführn nicht“ ist Claras deprimierende Feststellung, woran sie letzten Endes auch zerbricht. Dennoch ist diese Eröffnungsproduktion in großer Besetzung von altgedienten Ensemblemitgliedern und Neuzugängen durchaus gelungen und sehenswert.

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Zuerst erschienen am 28.12.2019 auf Kultura-Extra.

DIE VERLORENEN (Residenztheater München, 27.12.2019)
Regie: Nora Schlocker
Bühne: Irina Schicketanz
Kostüme: Marie Roth
Musik: Friederike Bernhardt
Licht: Tobias Löffler
Dramaturgie: Constanze Kargl
Mit: Sibylle Canonica, Pia Händler, Steffen Höld, Nicola Kirsch, Max Mayer, Johannes Nussbaum, Carlo Schmitt, Myriam Schröder, Arnulf Schumacher, Florian von Manteuffel und Ulrike Willenbacher
Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel: 19. Oktober 2019
Weitere Termine: 11., 15.01. / 29.02.2020

Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de/

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Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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