Erwin Wurm. Bei Mutti

Ausstellung Der vielseitige österreichische Künstler zu Gast in der Berlinischen Galerie

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Erwin Wurm: One Minute Sculpture, 1997
Erwin Wurm: One Minute Sculpture, 1997

Erwin Wurm, VG BILD-KUNST Bonn, 2016, courtesy: Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg, Paris, Foto: Studio Erwin Wurm

Die Berlinische Galerie steht zurzeit ganz im Zeichen der Gurke. Erwin Wurm, der österreichische Künstler, der für ein Selbstporträt sein Körpergewicht schon mal in 17 Essiggurkerln aus Bronze gießt, ist nach Günter Brus im Martin Gropius Bau bereits der zweite bekannte Steirer, dem Berlin in diesem Jahr eine Einzelausstellung ausrichtet. Die Gurken sind für ihn so individuell verschieden und doch in ihrer Form erkennbar, wie der Mensch selbst. Mit seinen abstrakten Wurstskulpturen, die sich auch mal umarmen und küssen, stellt Wurm ironisch Werke von Rodin oder Giacometti nach.

Neben Essbarem hat es der 1954 geborene Spaßvogel unter den Bildhauern aber vor allem mit Alltagsdingen und Statussymbolen wie Möbeln, Autos oder Häusern, die in ihrer Ausmaßen und Formen etwas von der Norm abweichen. Es dürfte ebenso so schwierig sein, mit Wurms Fat Car zu fahren, wie in seinem sprechenden Fat House zu wohnen. Dafür steigt der Künstler den Museen wie 2006 dem Wiener MUMOK mit seinen deformierten Haus-Skulpturen auch gern mal aufs Dach.

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In der Berlinischen Galerie in Kreuzberg erfreut uns derzeit ein etwas abgespeckter Wurm. Und das zunächst einmal in Form des in der Eingangshalle stehenden Narrow House, einem auf 1,10 Meter Breite zusammengeschrumpften Nachbau des Wohnhauses seiner Eltern aus Bruck an der Mur. Natürlich in erster Linie ein Sinnbild für provinzielle Enge, aber auch ein großer Spaß für alle Besucher. Der Titel der Ausstellung Bei Mutti versteht sich nämlich durchaus als Einladung. Und so drücken sich alle, nachdem brav angestanden wurde, mit dem Rücken an der Wand durch die begehbare Installation vorbei an Zimmerchen mit gestauchten Tischchen und Schränkchen und nehmen einen Blick auf Bad und WC, so breit wie eine Fußmatte. Der Traum vom Eigenheim für den ganz schmalen Geldbeutel.

Wie der Wiener Aktionist Brus arbeitet Wurm vor allem mit dem menschlichen Körper. Dabei überschreitet der Künstler geschickt die Grenze von der bildenden Kunst zur Performance. Und auch hier sind wieder die Besucher gefragt. Großen Raum, nämlich die gesamte Mittelhalle, nehmen die seit 20 Jahren immer wieder weiterentwickelten One Minute Sculptures ein. Jeder ist hier aufgerufen, die auf kleinen Podesten stehenden Alltagsgegenstände wie Bücher oder Stühle gemäß Anleitung zu nehmen, oder seinen Kopf in ein Sofa, eine Hundehütte oder einen Kühlschrank zu stecken, für eine Minute die Luft anzuhalten und von Subjekt zum kurzzeitigen Kunstobjekt einzufrieren. Man kann sich dabei sogar mit der Handykamera aufnehmen. Die Soziale Skulptur im Internetzeitalter.

Leider sieht man hier, wie sonst durchaus üblich, keine Fotografien der Ergebnisse, danach muss man wohl die sozialen Netzwerke durchforsten. Dafür sind an den Wänden im hinteren Teil der Halle vorbereitende Skizzen zu den One Minute Sculptures ausgestellt, die nicht nur in den kuriosen Stellungen, sondern auch in den Titeln wie Idiot, Most Loved Philosophers, Wittgensteins Alphabet, Der spekulative Realist oder Wurm-Gelee von Wurms hintersinnigem Humor zeugen.

Auf die Spitze oder besser in die Breite treibt es Wurms minutiös aufgeschriebene Anleitung Konfektionsgröße 50 zu 54 in acht Tagen. Man solle viel und lange schlafen, liegend Fernsehen und lesen, am offenen Fenster oder im Freien sitzen und sich langsam und gleichmäßig bewegen. Dazu gibt es zum Frühstück, Mittag, zur Jause und zum Abendbrot detaillierte Menü-Vorschläge mir viel Rahm, Rotwein, Eis und fetten Mehlspeisen. Die genau getimte Gewichtszunahme ist hier der skulpturale Vorgang, den Wurm auch immer als eine „Poesie der Verschiebung von Wertigkeiten“ begreift. Äußere Hülle und innere Leere, Ernährungsplan oder bestimmte philosophische Haltung - der Mensch scheitert immer wieder beim Versuch, sein Leben zu meistern.

Im letzten Teil der Ausstellung mit neuen Werken Erwin Wurms sind Skulpturen aus Bronze oder Polyesterharz zu sehen, die Objekten des menschlichen Alltags zeigen, die ihre Spannung aus der scheinbar vertrauten Form und ihrer Verfremdung, der zweckentfremdeten Nutzung oder der Veränderung der Größen- und Formverhältnisse ziehen. Die Begegnung von Mensch und Objekt manifestiert sich hier in tiefen Fußabdrücken auf Möbeln, wie Sessel, Liege und Sideboard, oder einem an der Wand hängenden überdimensionalen Mobil-Telefon. Ein riesiger Seifenspender ist durch einen Einschlag aufgerissen, Lost nennt sich eine überfahrene Wanduhr und ein Kühlschrank nimmt äußerlich die zerfließende Form eines Stücks Butter aus seinem Inneren an. Einige delikate Kunstschmankerl, die einen auf den Geschmack bringen und Appetit auf mehr Wurm machen.

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Zuerst erschienen am 27.04.2016 auf Kultura-Extra.

Erwin Wurm. Bei Mutti

15.04.-22.08.2016

BERLINISCHE GALERIE

Landesmuseum für moderne Kunst, Fotografie und Architektur

Alte Jakobstr. 124-128, 10969 Berlin

Infos: http://www.berlinischegalerie.de/ausstellungen-berlin/aktuell/erwin-wurm

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

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