FAUST

Premierenkritik Intendant Enrico Lübbe inszeniert am Schauspiel Leipzig Goethes berühmtes Drama in zwei Teilen zusammen mit Themen-Touren zum Faust II

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Johann Wolfgang von Goethe weilte während seines Studiums von 1765 bis 1768 in Leipzig und saß wohl auch öfter in Auerbachs Keller. In seinem Faust, der Tragödie Erster Teil hat er das Weinlokal in einer Posse verewigt. Der Ausspruch „Mein Leipzig lob ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ ist aber durchaus ironisch zu werten. Eine besondere Liebe zu Leipzig ist dem deutschen Dichterfürsten nicht gerade nachzusagen. Trotzdem ist man in Leipzig stolz auf Goethes Lob und heftet es sich, wo es geht, ans Revers oder stellt es als Willkommensgruß an Leipzigs Besucher auf das Dach des neuen Einkaufszentrums am Brühl. Einigen Sachsen scheint bis heute Ironie fremd und so manches Fremde eher befremdlich. Auch dazu ließe sich einiges im Faust-Text finden.

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen“ ist auch so ein geflügeltes Wort aus Goethes Faust. Erst jüngst in einer Münchner Ausstellung konnte man die Verse unter vielen anderen an den Wänden lesen. Der Faust ist deutsches Kulturerbe und Schulstoff. Viel ist darüber gesagt und noch mehr geschrieben worden. Neue Lesarten des Textes scheinen kaum noch möglich. Und dennoch versuchen sich die Theater immer wieder an eigenen Spielfassungen, gerne auch mit beiden Teilen an einem Abend. In Leipzigs Nachbarstadt Halle hatte Goethes großer Zweiteiler vor einer Woche Premiere, Dessau hat einen Faust I und als Berliner ist einem Frank Castorfs Siebenstünder noch in bester Erinnerung.

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Leipzigs Intendant Enrico Lübbe versucht nun eine ganz besondere Variante, die ganz auf den o.g. Zwei-Seelen-Spruch abhebt. Sein FAUST ist ein Destillat aus beiden Teilen, die sich hier auch gar nicht so eindeutig trennen lassen, wie die Figurengruppe Faust und Mephisto vor Auerbachs Keller. Und dennoch kommt Lübbes Faust I und II ganz ohne einen Geist, der stets verneint, aus. Die Figur des Mephisto ist gestrichen. Dafür verfolgen Faust, den Wenzel Banneyer hier als unermüdlichen Kreisläufer auf rotierender Scheibe darstellt, Sorge, Mangel, Not und Schuld (Thomas Braungardt, Anna Keil, Denis Petković, Bettina Schmidt) als personifizierte Abspaltungen gleich zu Beginn des Faust I. Ein, wie sich herausstellt, durchaus sinniger Vorgriff auf das Ende des Faust II. Gestrichen auch aller Spuk und Hexenküchenwahn. Faust ist hier ein Getriebener seiner selbst, zwischen Streben nach Ruhm, Lebenssehnsucht, Ego bzw. Eros und seinen Gewissensnöten, die sich ihm als quälende Stimmen offenbaren. Ein immer währender Kreislauf des Lebens. Denn grau ist alle Theorie. Die Praxis lässt sich nicht in einem Studierzimmer fassen.

Wenzel Banneyer stottert sich dann auch völlig unverständlich, alle Vokale verschluckend, durch den „Nun steh ich hier“-Text. In Dauerschleife kommt Tilo Krügel als Famulus Wagner, und gleich drei Schüler stellen sich immer wieder bei Faust vor. „Weiter, weiter!“ ruft dieser Faust. Oder „Was war ich erst? was bin ich nun?“-Fragen, die sich meist zum Ende des Lebens oder in Zwischenbilanzen stelleb, drängen sich hier schon fast prophetisch auf. Kindernecken, Glockengeläut und Chorgesang reißen diesen Faust nur kurz aus seinen trüben Gedanken. Die Drehscheibe hebt und senkt sich, bekommt einen Spiegel von oben. Auf beide Hälften werden Videobilder projiziert und gedoppelt. Der Osterspaziergang kommt dann als rhythmische Sprechgesangseinlage des Chors mit Dirigentin (Franziska Kuba). Man kennt das schon aus Claudia Bauers zum THEATERTREFFEN eingeladener Inszenierung 89/90. Hier ebenfalls in einer Schulklasse (nun allerdings im Biedermeier verortet) werden auch bekannte Lehrsatz-Phrasen wie etwa „Solang das Deutsche Reich besteht, wird die Schraube rechts gedreht.“ aufgesagt.

In dieser engstirnigen Welt sitzt Faust am Rand. Sein Ausbruch ist ein Bruch mit den gängigen Konventionen. Dem gegenüber steht die Sehnsucht Gretchens (Julia Preuß), das ebenfalls aus der Gemeinschaft ausbrechen will, um ihr Glück in der Liebe zu Faust zu finden. Auch hier ein prophetischer Text zu Beginn. Die Brunnenszene, in der vom sündigen Bärbelchen getratscht wird, ist hier ebenfalls gleich beim ersten Auftritt Gretchens als chorische Einlage eingeflochten. Gretchens Schicksal, das sich nun wie unabwendbar in kurzen Szenen vollzieht. Und während sich Wenzel Banneyers Faust in der Kerkerszene davon macht, steht am Ende Julia Preuß allein vor dem Eisernen Vorhang und ruft: „Ich bin frei.“ Eine, im Gegensatz zum Manne, teuer erkaufte Freiheit. Lübbes Faust I ist szenisch und chorisch klug gebaut und von vielerlei textlichem Ballast befreit, eine ganz eigene, klare Interpretation, in deren Mittelpunkt einzig die beiden Hauptfiguren mit ihren Ängsten und Nöten stehen, begleitet nur vom Chor und den schon erwähnten Gewissensabspaltungen.

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Nach längerer Pause folgt diesem furiosen Auftakt des auf 6 Stunden angesetzten Abends eine Art Puppenkabarett mit einem verdreifachten Goethe in verschiedenen Lebensaltern, die auf einer überdimensionalen Goethe-Couch flankiert von Sekretär Eckermann und dem sogenannten ersten Goethe-Groupie Luise von Göchhausen am Cembalo über den Faust disputieren. Geführt von den Hauptakteuren des Abends werden Goethe- und Eckermann-Zitate zum Besten gegeben und das Publikum auf die sich nun anschließenden drei Themen-Touren zum Faust II vorbereitet.

In Tour 1 geht es auf einen Audio-Walk ins naheliegende historische Zentrum, wo man in der Alten Handelsbörse und im Festsaal des Alten Rathauses etwas über die „Die Erfindung des Reichtums“ erfahren soll. Tour 2 „Schöpfungsträume“ führt in den alten Hörsaal der Anatomie des Leipziger Universitätsklinikums zu einem Vortrag über künstliche Wesen und Intelligenz. Und Tour 3 „Die Umsiedler“ spielt in den Katakomben des Völkerschlachtdenkmals. All diese Themen sind Bestandteile von Goethes Faust II, wo Mephisto in der Kaiserpfalz Geld macht, Famulus Wagner den Humunculus erschafft bzw. Faust Land gewinnt und dabei anderes zerstört. Die Kraft, die laut Goethe stets das Böse will und doch das Gute schafft, hat sein Pendant im Bankier, Wissenschaftler oder Entdecker. Auch hier besteht die Ironie in der Ambivalenz von Streben und tatsächlicher Wirkung.

Besonders gut und aktuell ist das an der immer noch die Umwelt zerstörenden Braunkohleförderung zu spüren. Rund um Leipzig wurde schon im Mittelalter einer der wichtigsten Energieträger abgebaut. Zur zweifelhaften Blüte gelangte der Braunkohleabbau in DDR-Zeiten, wo etliche Dörfer den Tagebauen weichen mussten. Nach der Wende ging es mit der sogenannten MIBRAG weiter. Man erfährt das auf der Busfahrt zum Völkerschlachtdenkmal. Vor Ort hören die Teilnehmer einen Vortrag zur Entstehung der Braunkohle, eine Lobeshymne auf den Bodenschatz oder wie man Leute gefügig machte, die sich dem Eingriff auf Natur und Land zu widersetzen wagten. Auch dazu gab es Stasi-Akten. Doch auch heute gilt wie im Faust II: „Man hat Gewalt, so hat man Recht.“

In einem Film und einem Hörstück sprechen Betroffene aus ihren Erfahrungen mit der Umsiedlung in der DDR, vom Widerstand gegen den Braunkohleabbau, der auch heute im Fall des Dorfs Pödelwitz mit Greenpeace und anderen NGOs weiter geführt wird. In den alten Tagebaurestlöchern entsteht nun eine Seenlandschaft, bilden sich Naherholungsgebiete. Die Natur holt sich das Land zurück. Was mit den verschwundenen Dörfern verloren gegangen ist, sind die Orte der Erinnerung, wie es einer der Betroffenen sagt. Und dennoch bleibt ein versöhnendes Vogelgezwitscher am Ende der Tour im Ohr.

Manchmal sagen halt Erfahrungsberichte mehr als tausend Goetheverse. Der Einbruch der Wirklichkeit in die Kunst. Theorie trifft auf Praxis. Und wie um das doch künstlerisch zu beglaubigen, erwarten einen - mittlerweile wieder zurück im Schauspielhaus - Faust und die Lemuren. Die Bühne dreht sich wieder im Kreis. Es wird erstaunlich konventionell Text deklamiert. Passend zur Tour geht es um Philemon und Baucis, deren Land Faust begehrt und die, sich gegen die Zwangsumsiedlung wehrend, deswegen sterben müssen. Faust, verfolgt von seinen Dämonen, zieht hier nichts Weibliches hinan. Seine Vision kein Graben, sondern ein Grab. Der Chor singt sakral Lateinisches zum Schluss. Es werden die im Schauspiel gezeigten Faust-Stücke zusammen als Faust I auch ohne die Touren zu sehen sein. Das muss noch zusammenwachsen, und doch hat Leipzig einen neuen Faust, der sich sehen lassen kann.

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Zuerst erschienen am 01.10.2018 auf Kultura-Extra.

FAUST
Johann Wolfgang Goethe
Regie: Enrico Lübbe
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Sabine Blickenstorfer
Video: fettFilm
Musik: Peer Baierlein
Chorleitung: Franziska Kuba
Choreographie: Stefan Haufe
Dramaturgie: Torsten Buß
Produktionsleitung Themen-Touren: Maximilian Grafe
Licht: Ralf Riechert
Besetzung:
Wenzel Banneyer als Faust
Thomas Braungardt, Anna Keil, Denis Petković, Bettina Schmidt als Sorge / Mangel / Not / Schuld
Julia Preuß als Gretchen
Tilo Krügel als Wagner
Andreas Dyszewski als Valentin
Tilo Krügel als Johann Gottfried Eckermann
Bettina Schmidt, Denis Petković als Johann Wolfgang Goethe 1
Julia Preuß, Thomas Braungardt als Johann Wolfgang Goethe 2
Anna Keil, Andreas Dyszewski als Johann Wolfgang Goethe 3
Wenzel Banneyer als Julia von Göchhausen
Nicole Widera, Nina Wolf, Tobias Amoriello, Ron Helbig, Julian Kluge, Philipp Staschull, Friedrich Steinlein, Paul Trempnau als Schüler, Lieschen, Marthe, Chor
Die Premiere war am 29. September 2018 im Schauspiel Leipzig
Termine:
FAUST 1+2: 05., 06., 20., 21.10. / 11., 12.05. / 01.06.2018
FAUST 1: 01., 21.12. / 24.01., 02.02. / 09., 31.03., 22.04.2018
An den Terminen „Faust I“ wird nur die Variante der Inszenierung angeboten, die im Schauspielhaus stattfindet. Die Außen-Touren werden zu diesen Terminen nicht angeboten.

Infos: https://www.schauspiel-leipzig.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

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