FAUST im französischen Kolonialwarenladen

Theater Frank Castorf beballert zum Abschied von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Goethes Universalwerk mit Fanon, Sartre und Zola

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

FAUST im französischen Kolonialwarenladen

Foto: TOBIAS SCHWARZ/AFP/Getty Images

1831, ein Jahr vor seinem Tod, vollendete Johann Wolfgang von Goethe den zweiten Teil seines dramatischen Großwerks über den Gelehrten Faust und seinen Pakt mit dem Teufel. Bereits 1830 startete Frankreich unter Karl X. mit der Invasion in Algerien. Der Beginn einer gut 130jährigen Kolonialherrschaft. Auch im Faust II wird die Geschichte einer Kolonisierung beschrieben. „Was willst du dich denn hier genieren? / Mußt du nicht längst kolonisieren?“ spricht Mephisto zu Faust, der ein Stück Uferland vom Kaiser für seine Dienste bei der Bekämpfung des Gegenkaisers erhalten hat. Im Weg ist ihm nur das Haus der beiden Alten Philemon und Baucis, das von Mephisto einfach angezündet wird. Frank Castorf sieht in seiner letzten großen Inszenierung an der Berliner Volksbühne Goethes zweiteilige Tragödie als Vision für den Kapitalismus und die Kolonisierung Afrikas, oder auch als Anleitung dafür, „Wie man ein Arschloch wird“. So überschreibt jedenfalls Volksbühnen-Dramaturg Carl Hegemann das Programmbuch zu Castorfs Faust nach Goethe.

„Durch Mischung - denn auf Mischung kommt es an - / Den Menschenstoff gemächlich komponieren...“ heißt nicht nur das Vorgehen bei der Erschaffung des Homunculus durch Fausts Famulus Wagner, sondern auch das Prinzip Castorf, mit dem sich der Regisseur dem Stoff seiner Inszenierung nähert. Frank Castorf verlegt den Ort des bedeutendsten Werks deutscher Literatur nach Frankreich und schließt es mit dem Algerienkrieg von 1954 bis 1962 und Émile Zolas Roman Nana kurz. „Warum sich Mann und Frau so schlecht vertragen?“ ist Castorfs zweiter Erzählstrang, der in das Paris kurz vor dem Deutsch-Französischen Krieg 1870-71 führt. „Nach Berlin! Nach Berlin!“ rufen die von ihren Männern geschlagenen Pariser Kokotten an der Volksbühne und schmähen Bismarck, den späteren ersten deutschen Reichskanzler und Initiator der sogenannten Kongokonferenz 1883 in Berlin, bei der die europäischen Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten.

Eingebetteter Medieninhalt

Castorf knüpft damit an seine Münchner Baal-Inszenierung an, in der die französische Kolonisierung Südostasiens und der Vietnamkrieg im Mittelpunkt standen. Was mit den Brecht-Erben auf Dauer nicht zu machen war, geht natürlich schon des Längeren mit Goethe, „weil man mit dem Faust machen kann, was man will.“ lässt sich Castorf in seinen Faust-Assoziationen vernehmen. Das „Kollektivwesen“, das den Namen Goethe trägt, wie es der Meister selbst verkündete, wird von Castorf geplündert und der Rest-Faust neben Zola noch mit Texten der französischen Anti-Kolonisierungs- und Revolutions-Denkern und Frantz Fanon und Jean Paul Sartre, der zu dessen Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde das nicht minder berühmte Vorwort schrieb, beballert.

Die Volksbühne fungierte lange als politische und künstlerische Bruchkante zwischen Ost und West. Und war damit trotz ihrer lokalen Verortung im Berliner Osten, der sich in den 25 Jahren von Castorfs Intendanz grundlegend gewandelt hat, immer schon internationaler, als manche Kritiker heute glauben machen wollen. Für den neuen Intendanten, den belgischen Museumskurator Chris Dercon, spielen solche lokalen Bindungen kaum mehr eine Rolle. Berlin ist für ihn lediglich ein Knotenpunkt unter vielen in einem global vernetzten System. Die Volksbühne als Hombase und Andockpunkt international agierender Künstler, denen der Ort ihrer Kunstproduktion im Grunde egal sein kann.

Beim „Vorspiel auf dem Theater“ lässt Alexander Scheer, der ansonsten einen coolen Lord-Byron-Verschnitt und dessen faustische Dramenfigur Manfred gibt, den neuen Theaterdirektor im flämischen Dialekt das deutsche Theater als null positiv, an den langen Haaren herbeigezogen, provinziell und frauenfeindlich bezeichnen. Dafür gibt es von Martin Wuttke ein Glas Bier über den Kopf. Eine von Dercon selbst berichtete Anekdote aus dem Berliner Alltag des designierten Volksbühnenintendanten. Der langjährige Volksbühnenstar Wuttke mimt hier den anarchischen Schauspieler, dem im Abgang noch ein ironisches „Vielleicht hat er ja Recht“ entfleucht. Eine verspätetes Statement Castorfs, getarnt als Bühnenwitz zur Belustigung der Menge, die diesen Scherz auch dankbar aufnimmt.

Doch zurück zum Famulus Wagner und seinem Homunculus im Einmachglas, das Lars Rudolph hier zu Beginn der 7stündigen Aufführung auf den Tresen der Kneipe hinter einem mit L‘ ENFER überschriebenen Höllenschlund stellt. Aleksandar Denic hat Castorf ein Bühnengebilde wie eine koloniale Geisterbahn gebaut. Ein Horrorhaus aus mehreren Kammern, in die man wie immer bei Castorf nur über die Livekamera Einblick bekommt. Wenn sich die Bühne dreht sieht man an den Brandmauern Filmplakate aus der Zeit des Algerienkriegs oder Hinweise auf frühere Kolonialausstellungen. In dieser Geisterwelt aus unbewältigter Vergangenheit wird nun der neue Mensch in der Phiole angesetzt. Valery Tscheplanowa singt dazu
als Gretchen und blonder Marlene-Dietrich-Verschnitt „Bitte geh nicht fort", die deutsche Version eines Chansons von Jacques Brel. Sie liebkost das Glas mit dem Homunculus, der gleich darauf wieder zusammengepresst und in der zusammengemixten Lebensbrühe ersäuft wird.

Martin Wuttke gibt den Faust zunächst mit faltiger Gummimaske, in die er Goethes Verse nuschelt. Ein lüsterner Sabbergreis, der kaum einem Geiste gleicht, noch etwas zu begreifen scheint. Das männliche Prinzip ist hier das Vergängliche, vor dem sich Faust durch den Pakt mit Mephisto zu retten versucht. Marc Hosemann ist ein listiger aber auch bequemer Teufel, der den hibbeligen Tat- und Triebmenschen Faust weder bremsen noch der wunderbaren Oberhexe Sophie Rois das Wasser reichen kann. Sie nervt den alten Faust als wissbegieriger Famulus und singt ihm den Leiermann von Schubert zum Akkordeonspiel von Sir Henry, der danach auch noch den berühmten Osterspaziergang aufsagen darf. Castorf schüttelt die bekannten Verse Goethes durcheinander und spielt Faust I und II fast parallel. Irgendwann stürzt sich Wuttkes Faust in einer Art Erkenntniskrampf zum „Habe ach...“ die Treppe des Studierzimmers hinunter.

Bis zur Pause kann Castorf die Spannung seines Faust-Mixes mit viel Spielwitz und einigen Slapsticknummern hochhalten. Parallel dazu sitzen die Kolonisierten in der Pariser Metrostation „Stalingrad“, in der 2016 ein mittlerweile geräumtes afrikanisches Flüchtlingscamp existierte, und werden von den Weißen schikaniert. Die schwarzen SchauspielerInnen Thelma Buabeng, Angela Guerreiro und Abdoul Kader Traoré spielen Totengeister des Voodokults wie Baron Samedi und Papa Legba oder antike Phorkyaden, die Europa heimsuchen. Traoré hat einen Auftritt als rappender Schriftsteller Aimé Césaire, Begründer des kulturellen Selbstbestimmungskonzepts der Négritude, und trägt Paul Celans Todesfuge auf Französisch vor. Faust und Mephisto landen mit der Metro, in der auch ein weiblicher Humunculus (Hanna Hilsdorf) aus einer Folie gepellt wird, statt in der Hexenküche im französischen Kolonialwarenladen. Subjekte oder Objekte der Geschichte, frei nach Sartre.

Nach der Pause taucht die Inszenierung noch tiefer in den kolonialen Dschungel ein. Philomen und Baucis werden Folteropfer der französischen Armee und Gretchenbruder Valentin als algerischer Terrorist erstochen. Frank Büttner zitiert mit nackter Brust aus dem Essay Algerien legt den Schleier ab von Frantz Fanon. Dazu laufen Filmbilder von Bombenattentaten durch entschleierte Algerierinnen. Die neue Rolle der emanzipierten Frau in der antikolonialen Revolution. Zusammen mit den nun recht ausführlich gespielten Zola-Szenen, in denen Thelma Buabeng als Nana, Alexander Scheer als der sie schlagende Liebhaber Fontan, Daniel Zillmann als als schlüpfriger Operetten-Direktor des Théâtre des Varietés, der nebenbei auch noch Zuhälter ist, und Martin Wuttke als Graf Muffat auftreten, verliert sich die Inszenierung etwas zu sehr im Ungefähren. Frank Castorf hier einen ernsthaften Ausflug in den Feminismus unterstellen zu wollen, fällt da doch etwas schwer.

Stark wird die Inszenierung wieder mit Alexander Scheer als in den Zinnen irrlichternder „Speak to me“-Manfred auf der Suche nach sich selbst und einem Vater-Sohn-Komplex mit Faust, der nun auch in seiner Ehe mit Helena gescheitert ist und erblindet der barbusigen Sorge begegnet, die ihm Schuberts Nebensonnen singt. Valery Tscheplanowa steht hier am Ende („Vorbei, ein dummes Wort“) neben den beiden Hell-Boys Faust und Mephisto, die als infantiles Clowns-Duo auf Ölfässern balancieren, Dreirad fahren und debil Algerienfähnchen schwenken. Wer die Wette nun wirklich gewonnen hat, gerät da fast zur literaturwissenschaftlichen Petitesse mit vorgehängtem lendenlahmen Pimmel. „Its All Over Now, Baby Blue“ höhnt Van Morrison. Dennoch hat sich Frank Castorf mit dieser querschlagenden Faustcollage zum Abschied noch mal ein kleines Denkmal setzen können.

Faust (Volksbühne, 05.03.2017)
nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz
Videoschnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer
Musik/Ton: Tobias Gringel, Christopher von Nathusius
Tonangel: Dario Brinkmann, Lorenz Fischer, William Minke, Cemile Sahin
Dramaturgie: Sebastian Kaiser
Mit: Martin Wuttke (Faust), Marc Hosemann (Mephistopheles), Valery Tscheplanowa (Margarete und Helena), Alexander Scheer (Lord Byron und Anaxagoras), Sophie Rois (Die Hexe und Der Famulus), Lars Rudolph (Doktor Wagner), Lilith Stangenberg (Meerkatze Satin), Hanna Hilsdorf (Homunculus), Daniel Zillmann (Monsieur Bordenave, directeur du Théâtre des Variétés), Thelma Buabeng (Phorkyade), Frank Büttner (Valentin), Angela Guerreiro (Papa Legba und Baucis), Abdoul Kader Traoré (Baron Samedi & Monsieur Rap rencontrent Aimé Césaire) und Sir Henry (Der Leiermann)
Premiere war am 03.03.2017 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Dauer: ca. 7 Stunden, eine Pause

Termine: 10., 12., 17., 18., 31.03. / 01., 14., 15.04.2017

Infos: http://www.volksbuehne-berlin.de/

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Stefan Bock

freier Blogger im Bereich Kultur mit Interessengebiet Theater und Film; seit 2013 Veröffentlichung von Kritiken auf kultura-extra.de und livekritik.de

Stefan Bock

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden